Herm. Anders Krüger
Gottfried Kämpfer
Herm. Anders Krüger

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Achtes Kapitel

Allein

Abiturium und Actus valedictorius waren vorüber.

Nicht ohne Wehmut und doch überglücklich hatten die jüngsten Muli unter dem Geleit eines Nökeschen Liedes die heilige Prima und das ehrwürdige Pädagogium verlassen, um zumeist im fernen Gotteshaag als fröhliche studiosi der Gottesgelahrtheit obzuliegen. Nur Brunken, der einzige Sohn eines reichen Kaufherrn, ging als Volontär zunächst nach England, um später in des Vaters Geschäft eintreten zu können.

Mit ehrlicher Betrübnis, zum Teil auch nicht ohne Neid hatten die bisherigen Inferi ihre lieben Superi scheiden und der goldenen Freiheit entgegenziehen gesehen; aber zugleich ward sich die Kolonne 80 stolz bewußt, daß sie nun an die Spitze des Hauses treten durfte und damit zur verantwortlichen Vertreterin einer alten, ehrenvollen Tradition berufen wurde.

Vor allem galt es, der neuen Unterprima eine mindestens ebenso tüchtige Oberprima zu sein, wie es ihr, der Kolonne 80, die geschiedene 79 gewesen war.

465 Die Aufgabe war nicht leicht, zumal als man sich musterte, die einzelnen Kräfte maß und verglich. Taylor war kein Wangerog, Rodbeck kein Brunken, aber sie waren Muster von Pflichttreue und Ehrenhaftigkeit und stellten sicherlich ihren Mann; in noch höherem Maße galten Dachs und Gottfried als Vertrauensmänner, schon weil ihr Mut und ihre körperliche Tüchtigkeit im ganzen Hause bekannt waren. In ihrer Weise gereichten auch Drax und Zehwen der Kolonne zur Ehre, denn bei all ihren Schrullen waren sie ein paar sehr gescheute Köpfe. Die Freude und der Stolz der Kolonne – daran zweifelte schon längst niemand mehr – war jedoch Nöke, der unscheinbare, schwächliche Nöke mit seinem sonnigen, goldigen Gemüt, mit seinen genialen Einfällen, seinem unversiegbaren Humor. Die neue Oberprima brauchte sich jedenfalls nicht zu schämen, getrost konnte sie an die traditionelle Erziehung ihrer Unterprima gehen.

Die Kolonne 81 war ziemlich zahlreich, auf jeden Oberprimaner kamen nahezu zwei Unterprimaner, schon beim ersten Bundeskaffee auf der vorderen Turmstube ging es sehr eng zu. Doch man vertrug sich bald ausgezeichnet. Man turnte und spielte fast noch eifriger als im Jahre zuvor. Auch Kunst, Literatur und Philosophie kamen dabei nicht zu kurz, man musizierte, dichtete und debattierte nach Herzenslust; der Studienverein blühte und gedieh.

Dachs, der Vorturner und Kapellmeister, war bald der begehrteste Mann auf der Stube. Auch Gottfried hatte als Präside des Studienvereins alle Hände voll zu tun und ging anfangs, bis alles im Zuge war, in Vorträgen, Referaten und Korreferaten mit gutem Beispiel voran.

Über der vielen Arbeit und Verantwortung erholte sich Gottfrieds Selbstvertrauen langsam wieder, und bei all den Kapuzinerpredigten, die er sich täglich in seinem neuen Promemoria hielt, blickte er von Tag zu Tag zuversichtlicher 466 in die Zukunft. Und doch – trotz des herrlichen Frühlings, der zu den offenen Primafenstern hereinlachte und lockte, saß er viel hinter den Büchern und drängte alle Liebesgedanken gewaltsam in den Hintergrund.

Inge sah er absichtlich nur selten und vermied es, ihr in die dunklen, gefährlichen und jetzt oft recht vorwurfsvollen Augen zu blicken. Die alten Begegnungsspiele hatten nahezu aufgehört seit Zehwens Liebesskandal, der ihm übrigens den schönen Spitznamen Parthenopipes eingetragen hatte. Der scheinbar so harmlose Bull hatte das treffende Beiwort, das Jungfrauenbeschauer hieß, im griechischen Lexikon aufgestöbert.

Nöke, der in Seligkeit schwamm, da er unter den Unterprimanern vier heimliche Dichter gefunden und mit ihnen eine Heidedichterschule gegründet hatte, war nicht ganz so enthaltsam wie sein Freund Gottfried. Er feierte die Feste, wie sie fielen, genoß den Frühling, wie er kam, und sah seine geliebte Walburg, die eben konfirmiert worden war, so oft es nur anging. Er nannte die kleine Delta neuerdings »Lotte«, da er von Klopstock zu Goethe und Lenau übergegangen war, und Gottfried, der ihn jetzt bald um Haupteslänge überragte, nannte er mit Vorliebe »Simson«.

Sehr ungehalten ward Nöke, als er nach und nach doch dahinter kam, daß Gottfried das Dichten ganz und das Lieben beinahe aufgeben wollte. Der temperamentvolle Schwarzwaldsohn warnte und drohte: das würde sich dereinst bitter rächen. Ja, eines Morgens fand Gottfried auf seinem Pult ein grimmiges Lied des Freundes, überschrieben »An Simson«, dessen sieben Strophen voll geharnischter Ratschläge waren und alle mit dem pathetischen Kehrreim endigten: »Simson, wach auf, Philister über dir!« Simson aber lächelte nur überlegen und schlummerte angeblich weiter.

Da scheuchte ihn eines Tages eine schlimme Botschaft jäh aus seinen Träumen empor: Der Postmeister von 467 Delmenhorst wird zum 1. Juli nach Pillkallen versetzt, die Deltas ziehen fort, für immer fort – in unerreichbare Ferne.

Zehwen war natürlich der Unglücksrabe, der die Nachricht eines Sonntags so nebenbei mit aus dem Orte brachte. Gottfried stand dem Erzähler zufällig gegenüber und konnte seinen Schrecken nicht verbergen, ja er erbleichte unwillkürlich.

»Nanu, Kämpfer,« meinte Parthenopipes mit mokantem Lächeln, »sollte dein Interesse dem Postmeister gelten, oder seinen Mädels – am Ende der schwarzen Hexe?«

»Die dich hat so abfahren lassen – jawohl!« gab Gottfried scharf zurück.

»Ha, ha – verraten – ist ja großartig – Kämpfer verliebt – ja – die Weiber, pfui Pudel! Ich habs immer vermutet, ist ja gottvoll!«

Zehwen war außer sich vor Freude, und auch ein paar Unterprimaner lachten vergnüglich. Gottfried aber rührte sich nicht, sondern sah den schadenfrohen Zehwen nur verächtlich an; endlich sagte er langsam:

»Glaub, was du willst, Zehwen! Ich halte es jedenfalls für keine Schande, ein Mädel gern zu haben – selbst wenn es genascht hätte.«

Mit diesen trotzigen Worten brachte Gottfried die Lacher auf seine Seite.

Zehwen wollte etwas Bissiges erwidern, doch Gottfried legte ihm drohend die Faust auf die Schulter und sagte schroff:

»Zehwen, mit dir über solche Dinge zu reden – hat wenig Zweck, hauen wir uns doch lieber!«

Dazu schien jedoch der tapfere Parthenopipes gar keine Lust zu haben, denn er fürchtete diese Art von Kämpfers schlagenden Beweisen mit gutem Grund.

Gottfried ging hinaus, stürmte dann schnell zur Turmstube hinauf und bat Nöke, mit ihm einen Spaziergang zu 468 machen. Nöke war sofort bereit, und bald waren sie draußen im einsamen, schon dämmernden Heidewald. Hier erst teilte Gottfried dem Freunde die Hiobspost mit.

Nöke fuhr wie erschreckt auf, dann schwieg er eine lange Zeit, endlich sagte er mit wehmütig komischer Empörung:

»Mein armes Lottchen – und auch gleich an die dreckige Russengrenze, es ist wirklich eine Gemeinheit sondergleichen!«

Gottfried lächelte ingrimmig, dann sagte er bitter: »Mir geschieht es ganz recht, warum habe ich Inge in letzter Zeit so vernachlässigt.«

»Ärgere dich nicht, Fridolin, hol es nach, so lang wir uns noch haben, komm mein Alterle, gleich gehen wir heim. Ich muß die liebe Post mit Abschiedsweh betrachten – aber mit zukünftigem – denn: Noch ist die blühende, goldene Zeit, noch sind die Tage der Rosen.«

Gottfried sah den leichtsinnigen Freund kopfschüttelnd an und sagte: »Du scheinst mit der Sache schnell fertig zu sein?«

»Fridolin, ich sehe es dir an, du hältst mich für einen Barbaren. Jawohl, gestehs nur – aber das hilft uns beiden ebenso wenig wie unsern Mädelchen. Geschieden muß sein, nächste Ostern wärs doch aus gewesen.«

»Aus? Wie kannst du nur so reden! Du verstellst dich jetzt, du hast Walburg wahrscheinlich nicht weniger lieb –«

»Als du die schwarzgelockte Inge – Hm, ja, ich hoffe es wenigstens. Aber ich werde auch ohne mein süßes Lottchen mein poetisch verklärtes Hundedasein fristen können und den braven Stoikerspruch dazu knurren:

Damit du nichts entbehrst, war Catos weise Lehre,
Entbehre!

Kopf hoch, trotzdem, alter Junge! Es geht eben alles einmal zu Ende, nur eins bleibt –«

»Die Liebe, ich weiß es –«

469 »Nein, mein Alterle, auch die schwindet ebenso wie der Haß – und nur die Erinnerung bleibt uns zum Trost.«

»Für den Trost danke ich.«

»Fridolin, warts ab, denk an mich, wenn du an diesen letzten Trost dich einmal klammern solltest.«

»Wie meinst du das, Nöke? Glaubst du, daß auch unsere Freundschaft dereinst – nein – nie!«

»Wer weiß, mein Simson, wohin uns einst das Leben wirft, und was es aus uns macht!«

»Das tut nichts, Nöke, ich glaube, daß wahre Liebe und echte Freundschaft selbst den Tod überdauern können.«

»Durch die Erinnerung, gewiß, sonst nicht.«

»Nöke, wenn ich z. B. vor dir sterben sollte, ich würde auch nach meinem Tode um dich sein – freilich ungesehen –«

»Fridolin, du bist ein beneidenswerter Phantast. Schade, daß du nicht mehr dichten magst; aber jetzt komm, lassen wir den Tod! Wie sagt Klopstock so trefflich:

Rinn unterdeß, o Leben! Sie kommt gewiß,
Die Stunde, die uns nach der Zypresse ruft!
Die andern aber – der Liebe! –

so ungefähr wenigstens – also abermals Kopf hoch, Alterle – Allons, gucken wir nach unsern Mädelchens!«

Und sie gingen nach Girdein zurück.

Lautlos schritten sie auf den glatten, elastischen Kiefernnadelwegen durch den leise rauschenden Forst, während die Nacht wie mit dunklen Riesenfittigen langsam heranschwebte, und ein Sternlein nach dem andern auf ihrem Mantel emporblitzte.

Anfangs überließen sich die Freunde schweigend der wundervollen Sommernachtstimmung, die bei jedem verschiedene Empfindungen auslöste. Gottfried ward schwermütig und trotzig, Nöke still zufrieden und versöhnlich. Er brach darum das lange Stillschweigen zuerst, als sie endlich aus dem Walde traten.

470 »Weißt du noch,« begann er, »wie wir vor zwei Jahren in Montravail draußen auf der hohen Kiefer, unter Zehwens erster Hiobspost, unsrer Liebe völlig gewiß wurden? Wie schlugen unsere Herzen damals vor wilder, seliger Lust! Ach, es war schön! Ich werde das nie vergessen und damit mich trösten, auch wenn Lottchen fort ist. Siehst du – das ist der Zauber der Erinnerung!«

»Und nun läutet derselbe Zehwen unserer Liebe das Totenglöcklein.«

»Und die Erinnerung verheißt ihr Auferstehung und ein ewiges Leben!«

»Nöke – ich beneide dich um deinen Optimismus, wie bringst du es nur fertig, jetzt noch fröhlich zu sein. Kennte ich dich nicht, ich würde dich für fabelhaft frivol halten.«

»Simson, mein Alterle, ich will ja nur glücklich sein und will auch, daß du es wirst. Drum tu mir den Gefallen und laß den Kopf nicht so hängen. Komm – da unten leuchten noch die Fenster der Post – siehst du, da sitzen unsre süßen, lieben Kerlchens und denken an uns – Allons!«

Im Galopp tollte Nöke fast übermütig den Berghang hinab, lachend folgte ihm Gottfried und holte ihn nur mühsam ein.

Hochaufatmend schritten sie dann zusammen nach Girdein hinein, der erleuchteten Post entgegen.

 

Während Nöke die kostbaren Tage bis zum 1. Juli rechtschaffen auskaufte und dem geliebten Lottchen so oft in den Weg lief, daß ihm Bruder Schordan einmal unter vier Augen Vorhaltungen machen mußte über die »törichte Mädelei«, saß Gottfried einsam auf der Turmstube, schaute 471 ingrimmig in das verführerische Sommerwetter hinaus und grübelte über dem Warum? Dabei wühlte er sich mit selbstquälerischer Wollust dermaßen in ein Abschiedsweh hinein, daß Nöke ihn mitunter geradezu auslachte, ja, ihn gegen Ende Juni daran erinnern mußte, eine Gelegenheit zu suchen, um Inge wenigstens verstohlen ein Lebewohl zuzunicken. Er, Nöke, habe sich schon viermal verabschiedet, da er als Sicherheitkommissarius beizeiten angefangen habe.

Gottfried wies des Freundes freundschaftlichen Rat zu dessen größtem Erstaunen ab und sagte ganz ernsthaft:

»Nöke, es hat keinen Zweck, ich bin längst mit mir darüber zu Rate gegangen, und du kannst es mir glauben, sehr gründlich. Jetzt weiß ich, daß meine Liebe nicht so gewesen ist, wie sie hätte sein sollen, und darum hat Inge sie auch nicht ernst genommen. Es ist darum besser, ich töte diese Liebe, je eher, je besser!«

»Sehr schön gesagt, mein Alterle, aber so eine Liebe läßt sich nur nicht eins, zwei, drei abmeucheln, wie allenfalls ne Mathematikaufgabe – und überhaupt – wenns einen so hat wie dich! Kunststück!«

»Ich werde diese Liebe töten, weil ich sie töten muß. Ich habe mit ihr gespielt, und darum mußte ich eben mit ihrem Verlust gestraft werden.«

»Du hör auf! Das ist Kohl! Ich fürchte, du bist ein richtiges merschwütiges, melankatholisches Mondskalb geworden über deiner verrückten Brüterei hier oben. Komm raus, mein Alter, draußen pfeifen die Amseln, am Wartturm brütet ne reizende Ringeltaube, die muß ich dir zeigen, und dann stehen Lämmerwölkchen am Himmel, ne ganze Herde entzückender, kleiner Viecher – die mußt du wirklich sehen, komm schnell, bald werden sie rosa – schon sinkt die Sonne!«

»Laß sie sinken – meine Sonne ist längst gesunken.«

472 »Das klingt ja sehr nobel, aber mit Verlaub – es ist Quatsch! Komm nur mit herunter, und du sollst sehen, wie auch deine Sonne ihren alten Anbeter wieder anlacht.«

»Nöke, quäl mich nicht weiter, ich habe Qual genug.«

»Ich habe ja auch welche, und gerade du sollst mir eben helfen, ich habe nämlich vier Abschiedslieder für Lottchen gedichtet. Eins will ich ihr schenken, wenn ich sie noch einmal treffe. Ich weiß aber nicht welches, und da sollst du mir helfen. Ich will sie dir vorlesen – aber draußen an unsrer Lieblingsstelle auf der kleinen Waldwiese vorm Schützenwald – also komm schnell!«

»Bitte sei nicht bös, Nöke, jetzt nicht! Ich könnte weinen, und das wäre nicht männlich.«

»Na, das kommt darauf an. Ehrliche Tränen sind auch des tapfersten Mannes würdig. Aber das Nähere werden wir dann schon draußen besprechen, jetzt komm nur endlich. Über meine Lieder darfst du heulen wie ein Schloßhund, werde mich als Dichter nur geehrt fühlen.«

»Siehst du, nun spottest du schon. Und du würdest noch mehr spotten und mit Recht. Darum laß mich, Nöke; ich bin vielleicht jetzt nicht viel besser als ein altes Weib, drum laß mich erst mich selbst wiederfinden.«

»Na hier oben findest du dich aus deinen drei Trauerbirken sicher nie heraus; aber da draußen in der herrlichen Natur – da noch am ersten! Also raus da, aus dem Haus da – Himmelkreuzdonnerwetter – und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt!«

Gottfried lächelte ein wenig, und Nöke merkte, er begann zu siegen.

»Siehst du –« rief er rasch, »es beginnt zu tagen im kleinen Hirn des großen Simson. Komm, ich kraule dir die Locken wie Dalila und sing dir ein Lied dazu, so süß – überhaupt gleich viere! Kannst du da widerstreben?«

Gottfried lachte nun schon offen heraus, doch hartnäckig 473 gab er zurück: »Du bist ein sehr schlauer Fuchs, ich kenn dich zur Genüge, aber einen so alten Dachs wie mich bekommst auch du nicht aus dem Bau, heute wenigstens nicht. Gibs auf.«

Nöke reckte sich empor, machte plötzlich die flehende Geste eines betenden Griechen und rief mit komischen Pathos: »Ζευ κυδιστε, μεγιστε Hilf mir gegen diesen zottigen Kentauren! Apollo und ihr neun Musen, gebt mir den Sieg über diesen asketischen Wüstling! Engel Jahwes, der du dem David halfst gegen den Riesen Goliath, hilf auch du mir diesen sauborstigen Simson bezwingen, und nun druff wie Blücher!«

Damit sprang der schwächliche Nöke auf Gottfried los, packte ihn resolut an Kragen und Haaren und wollte ihn zum Ausgang ziehen.

Lächelnd packte ihn der stärkere Gegner mit beiden Armen und trug den heftig strampelnden Simsonbezwinger zur Türe hinaus und die zwei steilen Treppen zur Prima hinunter. Bald ließ Nöke mit Zappeln nach, ja als Gottfried mit ihm unten anlangte, sagte er ganz gemütlich:

»Bitte trag mich doch gleich noch vier Treppen weiter, dann hab ich dich wenigstens ganz unten.«

Da lachte Gottfried hell auf, stellte Nöke auf die Füße, holte sich Hut und Stock und erklärte sich für geschlagen.

Und nun gings wirklich hinaus in den schönen, stillen Juniabend, natürlich erst an der lieben Post vorbei, dann durch einen stillen Seitenpfad dem Walde und der Abendsonne entgegen, die mit ihren letzten, matten Strahlen schon schräg und schläfrig über die blauen Götzenköpfe herüberblinzelte.

Blühende Kornfelder, hie und da lieblich mit den blauen Kornblumen und dunkelroten Kornraden geschmückt, wallten leise zu beiden Seiten der Wandernden, die Grillen zirpten ausgelassen aus dem Wald der hohen, dünnen Halme, 474 würziger Lawendelduft stieg vom Boden auf; eine scheue Rebhenne führte vorsichtig und stolz ein junges Volk über den sandigen Rain.

Nöke, der alles sah und mit launiger Rede begleitete, genoß wie immer in vollen Zügen, und auch Gottfried ward nach und nach heiter und stark; er fühlte im Innern, daß der tapfere Freund wieder einmal recht gehabt hatte. Ja, es tat wohl, mit seinem Weh in Gottes freie Natur zu flüchten, da ward es zusehends kleiner – er wollte es sich merken für andere Fälle.

Auf der stillen Wiesenhalde las Nöke dann seine Lieder, las sie mit einem fast heiligen, schweren Ernst – den man sonst nur selten an ihm bemerken konnte.

Das letzte Lied war das zarteste und beste – er hatte es wohl selbst gefühlt und es darum ans Ende gestellt. Es lautete:

Sei still, mein Kind, es ist entschieden!
Wir dürfen hier nicht glücklich sein.
Doch, Liebling, nie verlischt hienieden,
Was du mir schriebst ins Herz hinein.

Ich will es lesen alle Tage,
Wie lieb du warst, wie rein dein Sinn.
Vielleicht verstummt dann meine Klage,
Auch wenn ich wirr und friedlos bin.

Und seh ich Menschen, stolz im Glücke,
Will neidlos ich vorübergehn.
Nur abends still mit feuchtem Blicke
Voll Sehnsucht nach den Sternen sehn.

Vielleicht, daß ihn, der all sie lenket,
Der Menschen stummes Elend rührt.
Vielleicht, daß unser er gedenket
Und droben uns zusammenführt.

Gottfried ließ es sich zweimal lesen, dann stand er auf und ging still davon.

475 Der ganze Jammer der letzten Tage brach plötzlich wieder in ihm auf – er wollte einsam sein.

Langsam schritt Nöke hinter ihm drein. Auch er war ernst geworden, der Scherz von vorher fiel ihm nicht mehr ein, obwohl er etwas Feuchtes in den Augen Gottfrieds blinken sah. Nach einer langen Pause holte er den Freund ein und sagte leise:

»Wenn du wüßtest, wie stolz dieser Augenblick mich eben gemacht hat? Es gibt nichts Höheres für einen Dichter, als ein Menschenherz zu rühren. Ich danke dir, Alterle!«

Stumm schüttelten sich die Freunde die Hände, und stumm gingen sie heim.

Taufrisch und kühl wehte es über die Halde, vom Schützenwalde her rauschte es leise wie Meermuschelsang, ein schüchternes Bächlein murmelte geschwätzig dazwischen.

Die Freunde gingen einen andern Weg zurück, an Montravail entlang, dessen hohe Kiefer freundschaftlich grüßend zu ihnen herübernickte, dann gelangten sie beim Friedhof auf die große, meist belebte Promenadenallee, die jetzt menschenleer dalag.

»Gehen wir durch die Hollundergasse – da blühts und duftets jetzt wonnig!« schlug Nöke vor, und Gottfried nickte. Eben waren sie um die Ecke gebogen, da blieb er wie erschrocken stehn und sagte aufgeregt zu Nöke:

»Du – da unten gehen die Deltas – komm zurück – ich will Inge nicht mehr sehen.«

»Schafskopp! – antwortete Nöke resolut, »so eine Gelegenheit kehrt nie wieder. Los – vorwärts! Es ist kein Mensch zu sehen, und wenn auch – dann gerade – schnell, Simson! Wir müssen sie kriegen, ehe sie ausbiegen. Du – ich laufe – mir ist jetzt alles wurscht.«

In der Tat trabte er davon, und Gottfried blieb nichts anders übrig als – zu folgen.

476 Sobald die Mädchen merkten, daß jemand angelaufen kam, wandten sie die Köpfe zurück.

Walburg erkannte ihren getreuen Ritter sofort und drehte entschlossen um. Inge zauderte, folgte dann aber, um zu verhüten, daß die kecke Schwester Torheiten beginge.

Nöke und Walburg hatten sich viel zu sagen, zuletzt gab er ihr das Abschiedslied, bat sie jedoch, es erst in Pillkallen zu lesen. Errötend versprach es Walburg.

Unterdessen waren auch Gottfried und Inge herangekommen, grüßten sich stumm und zurückhaltend, doch wagten sie nicht, einander die Hand zu geben. Nöke sah es und rief Inge zu:

»Hier, Gottfried möchte ihnen auch Lebewohl sagen, der arme Kerl ist ganz aufgelöst vor Abschiedschmerz.«

Gottfried wurde dunkelrot vor Scham, vor Empörung, vor Verlegenheit, aber rühren konnte er sich nicht – wie ein Starrkrampf lag es auf ihm. Am liebsten wäre er in die Erde gesunken.

Plötzlich trat Inge auf ihn zu, reichte ihm die Hand und sagte mit ihrer freundlich-ruhigen Stimme: »Leben Sie wohl, Herr Kämpfer, ich wünsche Ihnen alles Gute.«

Da beugte sich Gottfried, erschüttert bis ins Innerste, tief herab auf Inges Hand, drückte sie hastig an die Lippen, und fast stöhnend brach es heraus:

»Fräulein Inge, verzeihn Sie mir, daß ich Sie lieb gehabt habe – und vergessen Sie mich, ich war Ihrer nicht wert.«

Hastig und erschrocken zog Inge ihre Hand zurück und sagte leise: »Das dürfen Sie nicht sagen.«

Dann reichte sie ihm nochmals die Hand und fuhr noch leiser fort: »Ich vergesse Sie nicht, auch wenn wir uns nie wiedersehn – Adieu, Gottfried!«

Fest schüttelte Gottfried die kleine, weiche Hand Inges – sah ihr noch einmal ins liebe, stolze Gesicht – dann stürzte er fort.

477 Es stieg ihm wie auf der Halde so heiß in die Augen, daß er fürchtete, weinen zu müssen.

Bald folgte ihm Nöke, nachdem er seinem Lottchen zuguterletzt noch, ehe es Inge hatte verhindern können, einen Kuß gegeben hatte.

Drei Tage darauf fuhr der Postmeister mit seiner Familie von Girdein nach Pillkallen.

Gottfried war wie verstört, Nöke dichtete zwar auch ein Sehnsuchtslied nach dem andern, aber beim Sommerfest auf den Bogwiesen spielte er mit solchem Humor den Kleon in den »Rittern« des Aristophanes, daß Gottfried beinahe an ihm irre ward.

Dann kamen die großen Ferien. Nöke fuhr freudestrahlend zu seinem geliebten Schwarzwald, Gottfried wanderte mit Vetter Peter von der zweiten und dem Bruder Guido von der vierten Stube ins Riesengebirge.

Und dort, inmitten der großen erhabenen Waldeinsamkeit, in den gigantischen Trümmertälern donnernder Gießbäche, auf den stolzen, sturmumheulten Koppen fand er endlich langsam sich selber wieder.

 

Der Herbst kam und mit ihm ein herrliches Turnfest, bei dem Dachs, Taylor und Gottfried sich mit Ruhm bedeckten.

Gottfried hielt es für seine Pflicht, das Beste zu leisten, aber sein ehedem so flammender Ehrgeiz war erloschen, zumal die eine Zuschauerin fehlte, für deren Lächeln er das Tollkühnste gewagt hätte. So turnte er ruhig und besonnen und erntete dafür nicht weniger Beifall, namentlich von seiten Bruder Nielsens, der sich immer stärker für Gottfried und Nöke interessierte, namentlich seit beide Freunde ihm erklärt hatten, sie wollten nächstes Jahr gern nach 478 Gotteshaag übersiedeln, um es trotz ihrer ausgesprochenen literarischen und historischen Neigungen mit der Theologie zu versuchen.

Nach den Michaelisferien, die Gottfried und Nöke abermals zusammen im lieblichen Bertelsburg verbrachten, beschäftigten die Oberprimaner sich ernstlicher mit dem Gedanken, für das nahende Abiturientenexamen zu rüsten. Man repetierte, doch nicht mit Eifer. Erst ward noch ein köstlicher, stimmungsvoller Herbstausflug mitgenommen, und dann stand Bruder Nielsens Geburtstag vor der Tür, an dem nach altem Brauch im Unkendorfer Gasthof nachmittags die große Hamletlesung stattfand, während vormittags Fahnenbarre gespielt wurde.

Bruder Nielsen wollte dieses Mal auch an der Lesung teilnehmen, lehnte jedoch die Rolle des Hamlet ab, wählte sich vielmehr den König Claudius, Bruder Schordan, noch bescheidener, nahm den Polonius, und Bruder Reicher, der seit anderthalb Jahren als zweiter Supernumerar besonders viel auf Prima verkehrte und von seinen alten Vierten sehr verehrt wurde, kreirte den zweiten Totengräber; den ersten gab Zehwen mit dämonischer Naturwahrheit. Gottfried las den Horatio und Nöke endlich nach langem Zureden von seiten der gesamten Prima den Hamlet.

Und wie las er ihn! Mit der ganzen Innerlichkeit und Schönheit eines verständnisvoll mitempfindenden, mitgestaltenden Dichters, der mit dem Stoffe sich ehrlich auseinander gesetzt hatte. Schon aus seinem zarten, durchgeistigten Äußern schien heute etwas Hamletähnliches zu sprechen. Und als er mit seiner weichen, ungemein sympathischen Stimme den berühmten Monolog »Sein oder Nichtsein« so vornehm, ohne jedes falsche Pathos und doch mit herzbezwingender Eindringlichkeit sprach, als er dann in der Totengräberszene den grausen Jammer der 479 Vergänglichkeit in schlichtem Schmerz wundersam rührend zum Ausdruck brachte und dabei Töne fand, die ihm bis dahin wohl keiner zugetraut hatte, – da herrschte rings im Kreise der Hörer jene magische Spannung, die mit ihrer Totenstille mehr sagt als ein donnernder Applaus. Gottfried war stolz auf seinen Freund wie nie zuvor.

Und nachdem Nöke zuletzt in die erschütternden Worte ausgebrochen war:

»Der große Cäsar tot und Lehm geworden,
Verstopft ein Loch wohl vor den rauhen Norden.
O, daß die Erde, der die Welt gebebt,
Vor Wind und Wetter eine Wand verklebt!«

da hielt es Gottfried nicht länger, er schritt auf Nöke zu und schüttelte ihm höchst programmwidrig, aber dankbar die Hand in tiefer, ehrlicher Bewegung. Keiner äußerte ein Wort des Tadels über diesen Zwischenfall, würdig und weihevoll ging die Lesung zu Ende.

Gegen Abend erging man sich dann noch in angeregtem Gespräch draußen unter den mächtigen Baumriesen des weiten Unkendorfer Parks.

Langsam taumelte schon die goldige Blätterpracht zu Boden, und wehmütig grüßte die Abendsonne hie und da tröstend mit ihren milden Strahlen einen bereits kahlen Wipfel.

Nöke und Gottfried sahen nicht viel davon, sie fühlten sich noch ganz als Hamlet und Horatio und tauschten immer noch Gedanken über die Größe des Shakespeare'schen Meisterwerks. Plötzlich zuckte Nöke schmerzvoll zusammen und blieb stehen.

Gottfried erschrak und wollte den Freund stützen, doch dieser wehrte ab und sagte: »Nee – danke, – so schlimm ists nicht – wird schon gleich vorübergehen.«

Besorgt fragte Gottfried: »Wo tuts denn weh?«

»Hier im Unterleib, so nach rechts unten zu. Verflischt noch mal; kneift das heute.«

480 »Heute – ja hast du denn schon oft solche Schmerzen gehabt? Hast mir doch gar nichts gesagt.«

»Ach was sagen – wenn ich auch ein hiefriges Kerlchen bin gegen dich, mein Simson, aber ne Memme brauche ich darum – au – Dunnerwetter!«

»Komm, bitte setz dich, hier auf die große Wurzel.«

»Danke – ja – so ists besser, na, wird schon vorübergehen!«

»Seit wann hast dus denn schon?«

»Na son bissel Leibweh hab ich doch oft mal. Sein Meisterwerk hat der liebe Gott an mir überhaupt nicht gerade geschaffen.«

»Nöke, red nicht so – noch dazu heute – nach deinem Triumph soeben. Übrigens elend sahst du bei der Lesung schon aus.«

»Na ja – so'n bißchen mulmig war mir schon die ganzen Tage über, auch bei der Fahnenbarre heute morgen zwickte es mich, dann gings aber wieder weg. So, jetzt läßts auch schon nach – ah – nun wird mir leichter.«

Nöke holte tief Atem und stand dann langsam auf, um weiter zu gehen, Gottfried bat ihn lieber umzukehren, und zögernd gab Nöke nach. Glücklich kamen sie im Gasthofe an.

Dort trat jedoch ein neuer Anfall ein. Gottfried bekam es mit der Angst und wollte Bruder Schordan Mitteilung machen, schon damit wenigstens ein Wagen zur Rückfahrt genommen werden konnte, doch Nöke bat ihn flehentlich, kein Aufsehen zu machen, die Schmerzen würden sich schon geben.

Und sie gaben sich in der Tat, und mit einigem Appetit und behaglicher Laune nahm Nöke am gemeinsamen Abendessen teil, bei dem Dachs einen begeisterten Toast auf das Geburtstagskind Bruder Nielsen ausbrachte, der seinem Pädagogiumsvolke ein besserer König sei als 481 der böse Claudius von Dänemark, den er heute so wirkungsvoll gelesen habe.

Darauf erhob sich Bruder Nielsen und antwortete in seiner Weise, daß auch er trotzdem heute einem genialen Hamlet erlegen sei. Nachdem er mit warmen Worten der Leistung des schamhaft und selig errötenden Nöke anerkennend gedacht, trank er aufs Wohl der ganzen Prima.

Dann trat man in bester Stimmung den Heimweg an. Nöke ging langsam und vorsichtig, und so blieb er bald mit dem Freunde ein Stück hinter den andern, die fröhliche Lieder sangen, zurück. Der größte Teil des Weges war bereits überwunden, als Nöke unvermittelt stehen blieb und dann stöhnend zusammenbrach.

Gottfried fing den Zurücktaumelnden in seinen Armen auf und blickte anfangs ratlos umher – der Schrecken war ihm zu unvermittelt in die Glieder gefahren; dann bettete er den jetzt vor Schmerzen leise wimmernden Freund sanft auf den Rasen des Wegrandes, zog schnell seine Jacke aus und legte sie dem Kranken unters Haupt, obwohl dieser leise abwehrte. Mit irren Worten unbewußter Liebe und stammelnden Mitleids suchte er den Freund zu trösten, bis ihm plötzlich einfiel, daß hinter ihnen ja niemand mehr kam, und daß er allein mit dem Kranken war.

Im Nu sprang er empor und rief einzelne Primaner bei Namen, dann Bruder Schordan und Bruder Nielsen. Vergeblich, die alle sangen weit vorn und hörten den Rufenden nicht mehr.

Schon wollte Gottfried davonstürmen, um Hilfe zu holen, doch Nöke, der es trotz der furchtbaren Schmerzen merkte, flehte leise: »Bleib, mein Alterle, bleib bei mir.«

Bange Minuten folgten. Nöke wand sich zuckend hin und her; Gottfried rannen dicke Schweißtropfen der Angst von der Stirn. Ihm grauste, und der hilflose Jammer des Freundes schnitt ihm in die Seele.

482 Endlich schienen die Schmerzen ein wenig nachzulassen, und der Kranke ward ruhiger, eine totenähnliche Mattigkeit kam über ihn. Gottfried wischte ihm die feuchte Stirn ab und sah ihn liebevoll an. Dann horchte er ängstlich auf des Freundes Herzschlag und faßte nach seinem Puls, der ihm sehr rasch zu schlagen schien. Wahrscheinlich hatte Nöke schon Fieber, und nun lag er hier in der kalten Oktobernacht ohne Paletot, im kalten, sturmdurchheulten Forst! Gottfried schaute nach einem Wagen aus; nichts war zu sehen oder zu hören. Schließlich legte er das Ohr lauschend auf den Boden, wie er es aus Indianergeschichten kannte, doch vergeblich, nichts rollte oder trabte heran.

Nun war wirklich guter Rat teuer; endlich kam ihm ein rettender Gedanke: Wozu hatte er denn seine Kräfte gestählt, jetzt wollte er sehen, ob er dem kleinen, schwachen Freunde wirklich ein Simson sein könne. Er wollte ihn nach Hause tragen. Freilich, es war noch ein weiter Weg, wohl über eine halbe Stunde ging man noch bis Girdein. Aber was halfs? Zur Not mußte er dazwischen ausruhen oder den Kranken auf den Rücken nehmen. Es würde schon irgendwie gehen. Also vorwärts!

Nöke war gerade wieder leichter zumute, langsam richtete er sich auf, während Gottfried ihm sogleich seine Jacke als Überzieher anzog. Sie paßte vortrefflich, nur die Ärmel mußten heraufgeschlagen werden. Darauf nahm Gottfried den Freund, ohne ein Wort zu sagen, auf seine Arme und trug den leise Protestierenden davon. Allzuweit kam er freilich nicht, dann fing er an zu keuchen und zu schwitzen. Vorsichtig setzte er Nöke ab, der sich gekrümmt an eine Chausseeakazie lehnte. Gerade stehen konnte er nicht mehr, sowie er sich aufrichtete, begannen die Schmerzen von neuem.

Als Gottfried ein wenig verschnauft hatte, bat er Nöke nun lieber als Huckepack auf seinen breiten Buckel Platz zu nehmen. Wehmütig, doch dankbar lächelnd willigte Nöke 483 ein, und siehe da, es war nicht nur dem Träger sehr viel leichter, sondern auch dem Getragenen war die neue Lage bequemer und weit weniger schmerzhaft. So schritt denn Simson mit seiner lieben Last ruhig dahin, und bald war er zum Walde hinaus. Ohne abzusetzen, ruhte er an einem Baume aus, dann gings das letzte Stück auf Girdein zu.

Nöke schien in der Tat weniger Schmerzen zu fühlen, wenigstens brach bisweilen schon wieder sein sonniger Humor durch, und er rief leise:

»Brav, mein Alterle!« oder »Bin ich nicht eine süße Last?«

Zuletzt kutschierte er ganz lustig drauf los, zog Gottfried an seinen feuchten Haaren und ermunterte:

»Hotte hü, mein Simson, bist ein braver Schimmel, kriegst auch schön Haferchen daheim, siehst du – nun gehts schon leichter – der Stall zieht, ja das kennen wir!«

Endlich kam Gottfried schweißgebadet mit seinem Kranken, der zuletzt wieder beängstigend stumm geworden war, am Pädagogium an. Ohne langes Besinnen trug er Nöke gleich zu seiner alten Freundin, Schwester Straubinger, auf die Krankenstube hinauf.

Die alte Dame litt ein wenig an Schlaflosigkeit; sie war daher noch auf und brachte Nöke, der unterdessen sehr schläfrig geworden zu sein schien, sofort ins Bett. Auf Gottfrieds Angaben hin wollte sie dem Kranken den Unterleib einreiben, doch Nöke, der stark fieberte, wehrte energisch ab und bat nur stöhnend, ihn schlafen zu lassen.

Das geschah, und Gottfried ging dann auch zu Bett, trotz aller Sorgen mit dem wonnigen Gefühl: endlich einmal etwas Nützliches geleistet zu haben.

 

484 Am andern Morgen fühlte sich Gottfried am ganzen Körper wie zerschlagen, doch schnell stand er auf, zog sich an und meldete Nöke bei Bruder Schordan krank. Eilends stürzte dieser auf die Krankenstube, und in der Frühstückspause ging Gottfried ebenfalls hinauf, ein wenig erschrocken, da Bruder Schordan seine erste lateinische Stunde hatte absagen lassen.

Als Gottfried auf der Krankenstube anlangte, kam ihm Bruder Nielsen bleich entgegen und bedeutete ihm, recht leise zu sein; denn seinem Freunde ginge es schlecht. Das Fieber sei die Nacht über sehr gestiegen. Hinein dürfe er jetzt nicht, der Arzt sei darin zur Untersuchung.

Tief bewegt bat Gottfried wenigstens in der Nähe des geliebten Kranken bleiben zu dürfen, und gern ward es ihm gewährt. Traurig und still setzte er sich auf eines der Wandsofas und wartete mit bangen Gedanken.

Endlich trat der alte, erfahrene Hausarzt, Dr. Hofmann, den Gottfried von früher her kannte, herein. Er ging, ohne sich um Gottfried zu kümmern, auf Bruder Nielsen zu und sagte in seiner trockenen Art, die manche, die sein goldenes, weiches Herz nicht kannten, für Gleichgültigkeit hielten:

»Wie ich heute früh befürchtet, so ists: Perityphlitis. Rizinus faßt gar nicht mehr – bleibt nur Operation – aber trotz Eis steigt das Fieber – Transport also ausgeschlossen, sofort Kollegen Schnaubert nach Görlitz telegraphieren – hier versuchen – letzter Ausweg!«

Achselzuckend ging er hinaus, da sprang Gottfried wie ein Verzweifelnder ihm nach, stellte ihn auf dem Gang und flehte:

»Sagen Sie mir – ist keine Rettung? er darf ja nicht sterben – ich hab ihn ja so lieb!«

Dr. Hofmann sah Gottfried mitleidig an, strich ihm sanft über die Locken und sagte:

485 »Sie sind der Kämpfer, sein Freund – haben ihn reingeschleppt gestern, sehr brav! Ist sehr schwere Sache mit dem Kranken, und wir sind nur schwache Menschen, auch wir Ärzte – aber Mut haben – vielleicht der da oben, gehen Sie zu ihm bitten. Wiedersehen!«

Fort war er, ehe Gottfried eine zweite Frage an ihn richten konnte.

Im Tiefsten erschüttert ging Gottfried mit leisen Schritten den dunklen Gang auf und nieder und schickte aus seinem Innersten ein Gebet zu dem Herrn über Tod und Leben, wie er es bis dahin noch nie gesprochen.

Aus tiefster Seelennot brach die eine Bitte immer wiederkehrend: »Laß ihn gesund werden, laß ihn nicht sterben – nur ihn nicht!«

Schließlich gelobte er Gott in stürmender Leidenschaft: er wolle ihm sein ganzes Leben weihen, wolle auf die Mission gehen in das mörderische Suriname oder nach Westindien – wohin Gott wolle – nur möge er Nöke das Leben erhalten. Doch alsbald stiegen auch Zweifel auf, ob Gott gerade ihn – der sich bisher so wenig um ihn gekümmert hat – erhören würde? Es ward ihm mit Schrecken klar, daß er Gott nichts bieten konnte für des Freundes Leben. Er war ja ein Fremdling vor dem Throne des Allerhöchsten.

Endlich faßte er sich, ging zu Bruder Nielsen hinein und bat ihn, aus den Schulstunden fortbleiben und bei dem Kranken wachen zu dürfen.

Bruder Nielsen sagte mit schlichter Freude: »Nach deiner gestrigen Tat hast du auch darauf ein Recht. Bleib ruhig in seiner Nähe, vielleicht kannst du Bruder Schordan später ablösen, ich wills Schwester Straubinger gleich sagen.«

Zwei lange Stunden mußte Gottfried warten, bis er vorgelassen wurde. Erst nachdem Dr. Hofmann abermals da gewesen war, durfte er bebend vor Schauer an des Freundes Lager treten und die Wache übernehmen.

486 Nöke erkannte ihn nicht, er schien zu schlafen, dazwischen stöhnte er schwer auf und rückte unruhig unter dem Eisbeutel hin und her.

Gottfried setzte sich neben das Bett, nahm des Freundes heiße Hand und streichelte sie zärtlich, während die alte Krankenpflegerin ihm flüsternd sagte und zeigte, wie er den Kopfumschlag zu erneuern und auf die Lage des Eisbeutels zu achten habe. Dann saß Gottfried ein paar trostlose Stunden hindurch an Nökes Krankenlager in ängstlichem Harren und Hoffen. Endlich wurde die Unruhe des Fiebernden geringer, und auch seine Augen öffneten sich dann und wann für kurze Zeit.

»Nöke, lieber Nöke, kennst du mich noch?« wagte Gottfried schließlich leise zu fragen.

Lange kam keine Antwort, endlich bewegte der Kranke leise die Lippen. Schnell stand Gottfried auf, neigte sein Ohr lauschend hinab, und da hörte er die mühsam hingehauchten Worte:

»Lottchen, grüße Lottchen, bitte grüßen! Mein Alterle, dank dir, mein Simson, Dank!«

Es war Gottfried, als bewege Nöke wie suchend die Hand. Rasch faßte er sie leise und innig, dann beugte er sich zuckend vor unnennbarem Schmerz über den Kranken, sank lautlos vor dem Bett in die Knie und schluchzte plötzlich so herzbrechend und wild, daß Schwester Straubinger ganz entsetzt hereingestürzt kam und rief:

»Aber was machen Sie denn nur – um Gottes willen, Sie dürfen ihn doch nicht aufregen!«

Gottfried hörte nichts; hilflos lag er in seinem grenzenlosen Jammer zusammengesunken, das Haupt auf die harte Bettkante gepreßt, und weinte wie ein Kind. Nur mit äußerster Mühe gelang es der resoluten Schwester Straubinger, ihn aufzurichten und von dem Kranken fort in die Nebenstube zu bringen. Auch hier schluchzte Gottfried wie 487 von Weinkrämpfen geschüttelt ohne Unterlaß vor sich hin, bis endlich Bruder Nielsen erschien und den völlig Gebrochenen hinunter in seine Wohnung brachte. Nachdem er ihn notdürftig beruhigt hatte, bat er ihn dringend, ein wenig spazieren zu gehen.

Schwankend wie ein Trunkener tappte Gottfried hinten zum Anstaltgarten hinaus, dem Walde zu. Stundenlang trieb er sich planlos umher, warf sich wohl ein halb Dutzend Mal verzweifelnd auf den moosigen Waldboden und flehte Gott mit irrer Wut immer wieder um Nökes Leben. Und doch fühlte er längst – es war vergebens! Vielleicht bliesen sie ihn schon aus auf dem Girdeiner Platz. Er stand und lauschte – klang da nicht schon der Choral: Wenn ich einmal soll scheiden? Nein – noch nicht – er irrte weiter.

Als er spät abends zur Prima heimkehrte, sagte ihm Rodbeck mit traurigem Flüsterton: »Gottfried, erschrick nicht, Nöke ist heimgegangen!«

Stumm nickte Gottfried mit dem Haupte, als wisse er es längst. Ohne ein Zeichen des Schmerzes zu verraten, ging er scheinbar gefaßt zu Bruder Nielsen und bat, bei dem Freunde die Totenwacht halten zu dürfen.

Mit freundlichen Worten schlug der Direktor die Bitte ab: Bruder Reicher habe sich schon gemeldet, auch merke er nur zu genau, daß selbst Gottfrieds starke Natur am Ende ihrer Kräfte sei.

Mit einer unheimlichen Gleichgültigkeit nahm Gottfried den abschlägigen Bescheid hin, ging zur Prima zurück, zog sich mechanisch aus und schlich dann zu Bett, ohne irgend jemand gute Nacht zu sagen.

Die meisten der Kameraden sahen ihm kopfschüttelnd nach.

Die einen fürchteten ernstlich für seinen Verstand, andere Uneingeweihte hielten in ihrer Oberflächlichkeit seine Apathie für mangelndes Zartgefühl. Als Zehwen endlich meinte:

488 »Ich hätte eigentlich gedacht, Kämpfer würde die Sache viel schlimmer packen; er war doch Nökes Intimus,« da sagte Taylor mit seiner sonoren Stimme, ruhig und doch mit puritanischem Ernst: »Richte nicht, Zehwen! Es gibt einen Schmerz, bei dem man keine Tränen vergießt, weil man nicht mehr weinen kann.«

Darauf wagte niemand mehr ein Wort zu sagen. Sorgsam löschten Taylor und Rodbeck die Lampen aus, und schweigend schritt alles dem Schlafsaal zu.

Dort lag Gottfried unbeweglich auf seinem Bett und starrte mit brennenden Augen zur dämmernden Decke empor, auf der die Schatten der sich langsam um ihre Achse drehenden Schlafsaallaterne langsam kreisten. Gottfried war müde bis ins Mark der Seele hinein, doch Schlaf konnte er in dieser entsetzlichen Nacht nicht finden.

Gestern um diese Zeit hatte Nöke noch auf seinen Schultern fröhlich gescherzt, und nun lag er dort drüben auf der Krankenstube, starr, kalt und tot.

 

Schwere Tage folgten, Tage der dumpfesten Verzweiflung, des wildesten Trennungswehs.

Wie leicht und spielerisch unbedeutend erschien Gottfried jetzt gegen diesen elementaren Abschiedsschmerz das, was er Ende Juni durchgemacht hatte. Über diesem Vergleich fiel ihm des Freundes letzter Auftrag ein, und so setzte er sich hin und schrieb an Inge nach Pillkallen: sie möge schonend der Schwester den letzten Gruß des sterbenden Nöke mitteilen.

Dann kam die feierliche Einsegnung der Leiche in Gegenwart der Prima und des gebrochenen Vaters, endlich das Begräbnis mit all seinen Qualen. Zum Glück waren Gottfrieds beide Eltern von Bertelsburg herüber gekommen, und am Arm der ebenfalls tief erschütterten Mutter schritt 489 Gottfried hinter dem blumengeschmückten Sarge her, den die Kameraden des Toten ergriffen und feierlich zu Grabe trugen. Ein schier endloser Zug von Leidtragenden schloß sich an, darunter sämtliche Schulen.

Gewaltig und ernst hatte Bruder Helmerding in der Kirche den meist jugendlichen Hörern ans Herz gegriffen. Draußen auf dem Gottesacker sprach Bruder Nielsen dagegen so tröstend und innig, daß auch Gottfried es für Minuten scheinen wollte, als sei dieser Tod das dankenswerte Geschenk eines wunderbar gütigen Gottes.

Am Abend erfolgte im Pädagogium noch eine tiefergreifende Hausversammlung, bei der Bruder Reicher ein schlichtes und dabei unendlich liebliches Lebensbild des Dahingeschiedenen gab; Bruder Schordan würdigte dann den jungen Dichter und las einige Lieder Nökes mit feinem Verständnis vor. Gottfrieds mühsam erkämpfte Resignation kam darüber wieder ins Wanken.

Plötzlich mußte er an den Sommerabend auf der Wiesenhalde, an das Abschiedslied für Walburg denken – da konnte er nicht mehr an sich halten. Schluchzend stürzte er hinaus, die Treppen hinab, die Hollundergasse und den Feldweg entlang, fort – fort zum Walde. Erst als er atemlos auf der vertrauten Wiesenhalde angekommen war, kam er zur Besinnung.

Keuchend sank er wieder auf die kleine Bank, auf der Nöke und er so oft zusammen gesessen hatten.

Was wollte er denn hier draußen?

Die Wiese lag wie immer ruhig da. Im Juni war sie grün und voller Blumen gewesen, jetzt schien sie gelblich und fahl im matten Mondlicht, das zitternd durch die Wipfel der nahen Föhren schimmerte. Das Bächlein murmelte noch ebenso geschwätzig wie früher; nur vom Schützenwald herüber heulte der Oktoberwind lauter als ehedem, und ein paar dürre Blätter fegten tanzend über die 490 Lichtung – Blätter, die wohl dazumal auch noch grün und frisch gewesen waren.

Rasch tritt der Tod den Menschen an – er wußte es nun. Vor wenigen Tagen erst war er hier mit Nöke vorübergeschritten. Den Hamlet in der Tasche, hatten sie über Tod und Unsterblichkeit noch lebhaft debattiert, und nun – hatte der eine sein Exempel gelöst, und der andere, der verzweifelnd, händeringend vor ungelösten Rätseln stand –war er!

Lebte Nöke? Entsetzliche, marternde Frage! Und wenn er lebte, und er mußte leben – dann war er jetzt um ihn – unbewußt – dann sah er ihn hier ringen um Hilfe – hörte ihn jammern um Gewißheit! Und dann mußte er ihm antworten – wenigstens ihn noch einmal grüßen – ihn seine Gegenwart irgendwie wissen lassen.

Entschlossen sprang Gottfried auf. »Nöke, Nöke« rief er gellend über die Halde.

»Nöke, lieber Junge, dein Alterle, dein Simson ist hier – hörst du ihn nicht?«

Nichts regte sich, – nur der Wind heulte fern vom Schützenwald herüber, und das Bächlein murmelte geschwätzig – sonst war alles still wie zuvor.

Gottfried schauerte – wie ein Wahnsinniger starrte er zum Waldrand hinüber – lauschte und lauschte, als müsse er endlich nahende Schritte hören. Dann blickte er erwartungsvoll in die Luft – als müsse ihn von dort jemand grüßen. Noch einmal schrie er fast toll vor innerer Angst:

»Nöke – Nöke – bist du wirklich von mir gegangen?«

Wieder keine Stimme, kein Laut, nicht mal ein tröstlich täuschendes Echo – nichts!

»O mein Gott, mein Gott!« brach es da jammernd aus Gottfrieds gequälter Brust; dann jagte er nach Girdein zurück wie ein gescheuchtes, tödlich verwundetes Wild.

 

491 Einige stille, einsame Tage, die Gottfried auf Bitten der schwerbesorgten Eltern im traulichen Schlosse zu Bertelsburg verbringen durfte, wirkten wie linderndes Öl auf sein wundes Gemüt.

Die taktvolle Zurückhaltung der Eltern, die warme, wortlose Teilnahme, die Gottfried täglich in den Mienen der selbst tiefergriffenen Schwestern las, taten Gottfried ungemein wohl. Und doch – einen dauernden Trost konnte er daraus ebensowenig schöpfen wie aus einem Briefe von Nökes Vater, der ihm für all das dankte, was er dem Toten gewesen sei. Umgekehrt war es ja – ihm war der Tote alles gewesen – darum stand er verwaist und trostlos da. Der Tod hatte fehlgegriffen, das begriff keiner außer ihm, und darum konnte keiner ihm helfen.

Endlich besuchte ihn sein alter Gönner und Freund, Bruder Loskiel, und ihm schüttete der Leidende schließlich offen sein Herz mit all seinen Zweifeln und Kümmernissen aus. Anfangs versagte freilich auch Bruder Loskiels Trost. Die trotzigen Panzer, die um Gottfrieds Herz lagen, erschreckten selbst ihn, der sonst so sieghaft die Herzen der Jugend gewann. Doch er ließ nicht nach in seinen Bemühungen.

Eines Tages holte er seinen Patienten zu einem Nachmittagspaziergang ab. Bald waren die beiden Ringer an dem verhängnisvollen Punkte, an dem der Kampf bisher stets zum Stehen gekommen war. Gottfried fragte trotzig: wodurch unterscheidet sich der persönliche Gott von einem blind waltenden Schicksal, und Bruder Loskiel pflegte eine Antwort auf eine solche vermessene Fragestellung abzulehnen mit der Bemerkung: über Gottes unerschöpflichen Ratschluß steht uns, seinen Geschöpfen, kein Recht des Urteils zu; nur den Demütigen gibt Gott Gnade, denn zu fordern haben wir nichts.

Heute vermied jedoch Bruder Loskiel jede schroffe 492 Abweisung, sondern suchte seinem alten Schüler lieber einmal nahe zu bringen, wie gut und weise es Gott gerade mit Nökes Heimgang gemeint habe.

»Sieh mal, Gottfried,« sagte er mit seiner freundlichen, klaren Stimme, »du grollst und klagst immer wieder, daß Gott gerade dir deinen geliebten Freund genommen hat.«

»Nicht nur das«, erwiderte Gottfried, »er nahm uns allen den besten, hoffnungsvollen Kameraden.«

»Er nahm vielleicht Klaus Meyer, weil er ihn liebte, und weil er dessen Erdenzweck erfüllt sah –«

»Wie so – das versteh ich nicht!«

»Gottfried! du standest Klaus am nächsten, du weißt besser als wir alle, daß sein Leben ein liebliches Kunstwerk, daß es eitel Harmonie war. Sage selbst: konnte er glücklicher werden, als er es war?«

»Nein, vielleicht nicht, aber er konnte andere mit seinem Glück beglücken.«

»Oder sie herb und neidisch machen – für seine Liebe Undank ernten und an seiner zarten Seele, die zum fröhlichen Säen, nicht zum mühsamen Ernten geschaffen war, schweren Schaden nehmen.«

»Das glaube ich nicht: Wer unsern Freund sah, mußte ihm gut sein –«

»Jetzt, Gottfried, jetzt! Weißt du, was das unerbittliche Leben gerade aus solchen Götterlieblingen macht? Hast du Kolonne um Kolonne heranwachsen und in schwere Arbeit ziehen sehen? Glaube es mir, Gott rief in seiner unergründlichen Weisheit und Güte Klaus Meyer zu sich, weil sein Ewigkeitszweck erfüllt war.«

»Warum nimmt er nicht einen andern, z. B. mich?«

»Tor! Kennst du irgend eines Menschen höhere Bestimmung? Ahnst du auch nur die deine? Wie kannst du dem Weltenlenker dreinreden wollen? Du – der noch nicht einmal sich selbst erkannt hat!«

493 Verdutzt schaute Gottfried auf, dann fragte er nach langer Pause: »Wie meinen Sie das, Bruder Loskiel?«

»Siehst du denn nicht, daß du ein völlig anderer bist wie dein heimgegangener – ich darf ruhig sagen – vollendeter Freund? Merkst du denn gar nicht, was Gott mit dir vor hat, du Blinder? Lief dieser Klaus Meyer so ganz von ungefähr in deinen Lebensweg, als du nach jenem ersten, schweren inneren Kampf ins Pädagogium tratst? Hast du so gar nichts begriffen oder wenigstens geahnt, was Gott mit dieser Freundschaft dir schenken, dich lehren wollte?«

»Und warum löste er sie dann wieder?« schrie Gottfried wie gequält auf.

Traurig schüttelte sein Begleiter das Haupt und sagte milde:

»Warum nimmt der Gärtner dem herangewachsenen Baume den lieb gewordenen schützenden Pfahl? Gottfried, Gottfried, du bist ein knorriger Stamm von gutem Holz – und vielleicht darum sollst du allein stehen lernen. Dein Freund hat dir viel gegeben, ich weiß manches und ahne noch mehr. Zeige dich also dessen wert, wuchere nun mit diesen Pfunden, gib dereinst weiter von deinem Überfluß, tu deine Pflicht und stelle deinen Mann – du hasts dazu! Also vorwärts, aber hadere nicht frevelnd mit deinem Gott, sondern gedenke des gewaltigen Prophetenwortes: Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der Herr. Sondern so viel der Himmel höher ist denn die Erde, so sind auch meine Wege höher denn eure Wege und meine Gedanken denn eure Gedanken.«

Eine lange Pause folgte.

Gottfried schwieg tief erschüttert. Dann begann Bruder Loskiel von neuem:

»Gottfried, du kennst mich und weißt, wie gut ichs mit dir meine; aber schenken kann und darf ich dir nichts, zumal jetzt, wo du wieder einmal am Scheidewege stehst. 494 Denn gestehs nur: du ringst eigentlich mit mir um die Gewißheit deiner Zukunft.«

»Ja, Sie haben recht. So wie ich jetzt empfinde, erscheint es mir wieder fast unmöglich, nach Gotteshaag zur Theologie zu gehen.«

»Du darfst ruhig gehen, Gottfried, auch mit all deinen jetzigen und den noch kommenden Zweifeln. Du bist ein trotziger Kämpe, ich kenne dich ja; aber du bist, Gott sei Dank, auch ein ehrlicher Degen. Du schlägst dich mit dir selber ebenso hartnäckig herum wie mit deinem Gott und deinen Mitmenschen, und das wird dich doch zur Wahrheit bringen. Darum nur zu, kämpfe weiter – laß nicht nach! Dann endlich wirst auch du erfahren, was schon Tausende und Abertausende vor dir erfahren durften: den Aufrichtigen läßt es der Herr gelingen. Darauf gib mir die Hand – und wir bleiben die Alten!«

Mit dankbarer Ergriffenheit schlug Gottfried ein.

Noch wirbelte und wogte alles in seinem Kopf durcheinander, aber als er spät abends im Bett und die Tage darauf Bruder Loskiels Worten ernstlich nachsann, – da wollte es ihm scheinen, als ließe sich von ihnen aus doch wohl ein neuer Weg finden, den er erst zögernd, dann vertrauensvoll beschritt.

Nach Wochen und Monaten merkte er an einer verstohlenen Freude, die tief aus seines Herzens Grunde heraufzuglimmen schien, daß er wieder hoffen durfte, dereinst seinen Frieden zu machen mit dem unbezwinglichen, unergründlichen Gott, der über Menschentrotz und Menschenundankbarkeit unendlich erhaben ist, weil er die Liebe ist.

 

Mit Riesenschritten eilte Gottfrieds Schulzeit zu Ende.

Wieder wie im vorigen Jahre kam die Scheidung der 495 Prima in sorglose Inferi, die alle Freuden des schnee- und eisreichen Winters auskosteten, und in ernst arbeitende Superi, die tagaus, tagein, vor und nach den Schulen auf der Turmstube saßen, – oft von früh um 4 bis abends nach 10 – und repetierten.

Gottfried, dem bei seinem guten Gedächtnis das Lernen leicht ward, fand noch häufig Zeit, in seinem Promemoria allerlei Wichtiges aufzuzeichnen. Von dem Leben der eintönigen Gegenwart schien ihm gar wenig von Belang zu sein, umsomehr suchte er aus der sonnigen Vergangenheit, aus dem goldenen Zeitalter, da Inge und Nöke noch ihm gehörten, zu retten und festzuhalten für die kommenden Jahre, in denen vielleicht die Einsamkeit sein Los sein würde.

Immer wieder fielen ihm jetzt Nökes Worte vom Zauber der Erinnerung ein. Dieser Zauber sollte ihm die düstren Tage des nun kommenden eisernen Zeitalters vergolden. Er hatte viel genossen – jetzt erst fühlte ers klar – er hatte genommen – überreichlich! Jetzt wollte er geben – geben ohne Bedenken, so gut er eben geben konnte. Ein starker, ernster Lebensmut kam langsam über ihn, und zugleich regte sich wieder der altgewohnte Kämpfertrotz, der mit seiner Selbstachtung unlöslich verbunden war. Ohne Illusionen, aber auch ohne Zagen sah er in die Zukunft. Er erwartete von Gotteshaag nicht wie die andern eine sorglos fröhliche Studentenzeit, er ahnte vielmehr, daß Arbeit und schwerer Kampf dort seiner warteten, und er wappnete sich im stillen. Die Gegenwart dünkte ihm gegen die Zukunft fast bedeutungslos.

Nur zweimal hatte er in seinem Promemoria Veranlassung, wichtigere Vorkommnisse zu verzeichnen.

Das erste Mal betraf es Zehwen. Gottfried schrieb darüber:

»Seit Nökes Begräbnis war mit Z. eine sonderbare Veränderung vor sich gegangen. Was dahinter steckte, konnte 496 ich lange nicht heraus bekommen. War bei einigen Kameraden, wie R. und T., eine Art von Erweckung deutlich wahrzunehmen, so konnte bei Z. davon keine Rede sein, obwohl ihm H. C. in einer langen Unterredung gründlich die Meinung gesagt haben muß. Ein bischen anständiger wurde Z. daraufhin wohl, aber seine rauhbeinige Art und sein freches Mundwerk behielt er, namentlich den Inferi gegenüber, die ihn mehr fürchten als wir. Bei uns ist er eigentlich unten durch, wenigstens bei mir. Gelegentlich habe ichs ihm auch angedeutet.

Ich fiel daher nicht schlecht aus den Wolken, als er mich vorgestern dringend bat, mit ihm einen größeren Spaziergang zu machen. Ich konnte es nicht abschlagen, und wir gingen nach den Bogwiesen zu. Da erzählte er mir: er habe mir nach Nökes Tod schnödes Unrecht getan, und das ließe ihm jetzt keine Ruhe, denn er hätte eigentlich einen Bombenrespekt vor mir, hätte auch Nöke kolossal geachtet und immer gefühlt, daß wir – usw. Dumme Schmeicheleien! – Ich war einfach paff, traute dem alten Fuchs natürlich nicht, sagte ihm: ich hätte im Grunde nichts gegen ihn, auch Nöke hätte nie etwas gegen ihn gehabt usw. Das genügte ihm aber nicht, und nachdem er sich selbst eine halbe Stunde riesig schofel gemacht hatte, bat er mich ganz de- und wehmütig, ob ich ihm nicht von nun an ein bischen helfen wolle. Er habe nie einen ehrlichen Freund gehabt, auch mit Drax, das sei alles Komödie gewesen – kurz und gut, es war scheußlich für mich, das alte Schandmaul da so winseln zu hören. Endlich sagte ich, darüber müsse ich erst nachdenken. Und so gingen wir heim.

Gestern kriegte er mich wieder ran und sagte: es sei ihm wirklich ernst, und ich solle es doch wenigstens mit ihm versuchen. Philologie könne er nun doch nicht studieren, also müsse er es in Gotteshaag mit der Theologie versuchen – das ginge aber unmöglich so, wie er jetzt sei, und ein 497 anderer zu werden, das bringe er allein nicht fertig, es müsse ihm einer dabei helfen, aber einer, vor dem er Respekt hätte usw. Ich bin darüber in greuliche Schwulitäten geraten. Erst traute ich noch immer nicht, dann ärgerte ich mich wieder, schließlich ging ich ernstlich mit mir zu Rate, dachte an Bruder Loskiel, und da war mir, als würde der sagen: Siehst du, nun kommt die erste Gelegenheit, mit dem Pfunde zu wuchern, das dir Nöke hinterlassen. Ich bin ganz marode über der Sache geworden; ich habe mich jetzt wohl oft nach Gelegenheit gesehnt, anderen zu nützen, aber so habe ich mir das freilich nicht gedacht. Und doch ich fühle: Es ist unerbittlich – hic Rhodus!

Die halbe Nacht habe ich gesonnen und gerungen, und heute ist mir endlich klar, ich muß versuchen Z. etwas von dem zu sein, was mir der geliebte Tote war. Es ist sehr schwer – so etwas nur zu denken – zwei so verschiedene Menschen! Aber, mein Gott, was war ich denn gegen Nöke? Also vorwärts – ich kann nicht anders, wenn ich vor mir selber nicht schamrot werden soll. Ich muß versuchen, meinem jetzt so öden Dasein Inhalt und Wert zu geben. Ich werde also von heute an Z., so gräßlich er mir noch ist, als Freund betrachten. Zunächst will ich ihn studieren und ehrlich nach den Seiten seines, wie mir scheint recht komplizierten Charakters suchen, die ich achten kann. Vielleicht wird dann doch mit der Zeit aus der bitteren Pflicht ein lohnender Genuß. Man wird natürlich lachen über uns zwei, ich höre schon spotten: An dem Tage wurden Herodes und Pilatus Freunde miteinander! Vielleicht lockt mich die Bekämpfung dieses Widerspruchs noch am meisten. Jedenfalls werde ich tun, was ich als anständiger Kerl nach ehrlicher Überlegung nicht lassen darf

Das zweite Vorkommnis, von dem Gottfried kurz vor dem Examen im Promemoria Erwähnung tat, war ein Brief von Inge.

498 Er verzeichnete darüber: »Heute war ein merkwürdiger Tag: Ich erhielt zu meiner unendlichen Überraschung und Freude einen Brief von Δ. Freilich die Freude ward bald in die tiefe Traurigkeit verkehrt. Es wird nicht nur der erste, sondern auch sicherlich der letzte Brief von der Hand dieses geliebten Wesens sein, dieses Engels, dessen ich nie wert gewesen bin. Sie schrieb mir von der lieblichen Schwester, der treuen W. Das gute Geschöpfchen ist ihres Nöke würdig und hat ihre Treue mit tiefem Leid bewährt. Durch irgend eine Freundin hatte sie den Tod ihres Geliebten eher erfahren, als mein vorbereitender Brief an Δ gelangte. Die plötzliche Erschütterung hat das arme Kind derartig mitgenommen, daß sie in Weinkrämpfe verfiel und einige Wochen ganz schwermütig gewesen ist. Noch jetzt soll sie sehr bleich und schreckhaft sein und um den lieben Toten ehrlich trauern. Das gute, liebe Kerlchen! Ich könnte es segnen dafür.

Von unserer Liebe schreibt Δ fast nichts; sie meint, sie würde mich nie vergessen und dächte in dem öden, ostpreußischen Grenznest fast jeden Tag an das freundliche Girdein, auch an einen guten Menschen (???) darin; aber sie bittet mich, ihr nie wieder zu schreiben, und das macht mich tottraurig. Ich werde diese Bitte natürlich erfüllen – allein meine Liebe kann ich darum nicht töten. Sie ist mir ein kostbares Stück meines Lebens geworden, ist mein Glück, das stille Heiligtum meines Innersten, in dem ich weiter verschwiegen und treulich, wenn auch hoffnungslos opfern werde. In meinem Tempel der Erinnerung – in dem noch ein zweites liebliches Götterbild, mein Nöke, steht, will ich bisweilen leise weinen können. Tränen, die niemand sieht, die mir jedoch die Seele erleichtern, wenn gar zu schwere Last sie drückt. Aber ich will darüber kein schwacher Feigling werden. Nein, im Gegenteil, in demselben Tempel will ich meine Waffen weihen zu dem harten, 499 unerbittlichen Kampf, den das bevorstehende Leben mir bringen wird. Ja kämpfen will ich, besser als bisher, kämpfen für all das Hohe und Heilige, was gute Menschen von Großmutter bis Nöke in meine Seele gepflanzt haben, um die Wahrheit, wie Bruder Loskiel es forderte, ja kämpfen will ich, wie es mein Name verlangt – kämpfen bis zum letzten Atemzug! Dazu helfe mir Gott, der Herr der Heerscharen.«

 

An einem der ersten Tage des März beendeten die Superi mit Erfolg die Abgangsprüfung, und ein frohes, fast überschäumendes Gefühl endlich errungener Freiheit berauschte die glücklichen sechs Sieger der Kolonne 80 bis zu einer gelinden Trunkenheit.

Auch der noch immer ernste Gottfried lachte heute zum erstenmale wieder übermütig vor seligem Glück. An seinen neuen Freund Zehwen gelehnt, der als erster Sieger durchs Ziel gegangen war, stand er jetzt vorm offenen Primafenster und sang, dem alten Brauche folgend, im Chor der gesamten Prima aus tiefster Brust heraus das unvergängliche Freudelied: »Gaudeamus igitur, iuvenes dum sumus«.

Dann kam das heißersehnte Autodafé, bei dem die grausamen Plagegeister der letzten Woche, die verschiedenen Grammatiken, Leitfaden, Tabellen usw. jauchzend dem Feuertode überliefert wurden. Mit wahrer Mordlust warf Gottfried insonderheit die verhaßten Mathematikbücher, den Kambly, den Bardey, Hofmann, Müller, Lieber und Lühmann und wie die greulichen Kerle alle hießen, ins Flammenmeer; ja selbst der ganz harmlose und wertvolle Rühlmann mit seinen endlosen Logarithmentafeln wurde von ihm in abgefeimter Grausamkeit langsam gebraten. Dabei fiel ihm 500 ein, wie ehedem der lustige Nöke, der auch ein geschworener Feind der Lieblingskunst Platos war, sich auf diesen Moment gefreut hatte.

Das wollte Gottfried wehmütig stimmen, doch er trumpfte innerlich auf; heute wollte er lustig sein, auch das war im Geist und Sinne Nökes, der mit Horaz »den Tag allzeit zu pflücken« verstand und mit ihm so gern »toll war zur rechten Zeit«.

Nun folgte der große Festpendel um den Platz – der letzte offizielle für die angehenden Muli. An ausgelassener Stimmung stand er über allen andern Pendeln.

Tags darauf war ein großes Festessen bei Bruder Nielsen, darnach ein übermütiger Wagenausflug mit Bruder Schordan und Bruder Reicher. Am dritten Tage brachte ein gemeinsamer tüchtiger Fußmarsch die überschäumenden Kräfte wieder ins Gleichgewicht, machte die Köpfe wieder frei, und die Lust zu neuer Arbeit erwachte schüchtern von neuem.

Noch hatte jeder Abiturient einen Lebenslauf zu schreiben, in dem die meisten in ruhiger Überlegung das Fazit ihrer Pädagogiumzeit zogen, – so auch Gottfried. Des weiteren galt es sich zu rüsten für die letzte große Schlußfeier, den actus valedictorius, bei dem ein jeder der Scheidenden nach seiner Wahl noch einmal in freier, edler Redekunst Zeugnis von dem ablegen sollte, was ihm aus der Fülle seiner Studien als das Reichste und Wichtigste erschienen war.

Für viele war schon der Lebenslauf nicht leicht und die Wahl des Redethemas geradezu eine Qual.

Gottfried war sich ziemlich schnell im klaren. Im Lebensabriß suchte er absichtlich zu betonen, was er nicht erreicht hatte. Und das wenige, was er glaubte, erreicht zu haben, setzte er dankbar aufs Konto lieber Menschen, von Großmutter an bis zu Nöke, dem er ein so schlichtes Denkmal zu setzen wußte, daß Bruder Nielsen beim Durchlesen des umfangreichen Schriftstücks die Augen feucht wurden.

501 Für die Aktusrede trat Gottfried sofort die wuchtige Gestalt des Äschylus in den Vordergrund, und nach gründlichem Erwägen glaubte er mit dessen Gottesauffassung sich auseinandersetzen zu müssen. Jemehr er jedoch in sein Thema hineinwuchs, um so weniger schien es ihm für eine kurze Rede geeignet zu sein, zumal da ihm von den Kameraden einstimmig die letzte Stelle, also die eigentliche Abschiedsrede, die auch den Dank an Direktor und Lehrerschaft miteinbegriff, angetragen ward. Schließlich beschränkte sich Gottfried auf die Ethik des großen griechischen Dichters und stellte in den Mittelpunkt der Rede das wundervolle, unvergängliche Wort, das ihm als die Summa aller antiken Weisheit erschien, und von dessen tiefer Wahrheit er selbst trotz seiner zwanzig Jahre doch auch schon etwas hatte erfahren müssen: Παϑει μαϑος – im Leid liegt Lehre.

Unterdessen hatte Bruder Nielsen die Abiturienten der Reihe nach zu sich beschieden und ihnen offiziell die Entscheidungsfrage für den weiteren Lebensweg gestellt. Alle wollten nach Gotteshaag übersiedeln, auch Zehwen willigte anstandslos ein, obwohl er gar keine Neigung zur Theologie verspürte. Gottfried wußte das und redete dem neuen Freunde darum ernstlich zu Gewissen, doch Zehwen wies ihn kurzerhand damit ab: für ein philologisches Studium bekam er kein Stipendium, und studieren müsse er und wolle er. Gottfried gab sich damit nicht zufrieden; er schrieb an seinen Vater und an Bruder Loskiel nach Bertelsburg und bat sie inständigst, sich für Zehwen zu verwenden.

Freundlich schrieben beide zurück. Zehwens Wünsche seien vom Erziehungsdepartement bereits erörtert worden mit dem Resultat: die Behörde wolle erst abwarten, wie sich der Petent weiter entwickeln würde. Gottfried schüttelte den Kopf, sagte aber dem Freunde nichts von seinen Bemühungen, redete ihm nur schonend zu: er solle die Hoffnung nicht aufgeben.

502 »Du hast gut reden, wehrte Zehwen ab – ich wünschte, ich wär auch ein Kronprinz wie du, dann bekäme ich schon, was ich brauchte«.

»Das bezweifle ich«, erwiderte Gottfried ruhig.

»Natürlich du! Sag mal, warum gehst du eigentlich nach Gotteshaag. Du könntest es dir doch leisten, auf eine große Universität zu gehen, und zu studieren, was du willst!«

»Ich will aber, was du nicht willst.«

»Und warum, mal ehrlich, Gottfried!«

»Weil ich den Beruf, die Menschen durch und über das Leid der Erde hinweg zu Gott zu führen, für den idealsten halten muß«.

»Hm – wers kann!«

»Hast recht, Zehwen, er muß sehr schwer sein, aber gerade darum wollen wirs lernen. Es ist schon der Mühe wert, meinst du nicht?«

Zehwen schwieg; eine seiner üblichen spöttischen Bemerkungen schien ihm diesmal nicht über die Lippen zu wollen, endlich stieß er heraus: »Mensch, ich könnte dich bemitleiden, wenn ich dich nicht beneiden müßte.«

»Eines wär so töricht wie das andere – aber helfen wollen wir uns beide.« Damit reichte Gottfried dem Freunde die Hand, und mit stiller Bewunderung schlug Zehwen ein. Er fühlte es mit Stolz. Er hatte einen Starken zum Freunde gewonnen.

 

Der Aktus kam und verlief in Gegenwart zahlreicher Gäste, darunter als Vertreter der Oberbehörde Bruder Loskiel und Gottfrieds Vater, würdevoll und ohne jeden störenden Zwischenfall.

Jede der Abiturientenreden war charakteristisch für ihren Redner, insbesondere die Rede Taylors, über Antike und 503 Christentum, die freilich mehr dem letzteren als der ersteren gerecht ward – und diejenige Zehwens, der an Diderot und Lessing gallische und deutsche Art der Kritik geistreich und scharfsinnig verglich.

Machtvoll und herb fluteten schließlich Gottfrieds ernste Worte daher. Für viele der jungen Zuhörer waren sie zu hoch, waren mehr für die Kameraden und Lehrer berechnet. Und doch empfanden alle, auch der jüngste Vierte, etwas von der merkwürdigen Tatsache, daß hier – wenn auch sicher nicht zum erstenmal, doch seit langer Zeit wieder einmal – hinter einem dieser jugendlichen Redner eine angehende Persönlichkeit stand. Man fühlte unwillkürlich: aus diesem ernsten, bleichen Jüngling sprach mitunter bereits ein Mann, der weiß, was er will, und vor allem weiß, was er soll; der sich die ehrlichste Mühe gibt, unerbittlich wahr zu sein und keinesfalls mehr zu scheinen, als er ist; der also nur sprach, was er vertreten konnte auf Grund dessen, was er sich erkämpft hatte.

Nachdem Bruder Loskiel mit einer gleichfalls tiefergreifenden Rede über das Wort des Plato: »Der Thyrsosträger sind viel, der Gottbegeisterten wenig« den Aktus beendet hatte, suchte er seinen Schützling Gottfried auf und fragte ihn: »Nun, Gottfried, ahnst du jetzt, warum dein Freund Klaus Meyer dir genommen werden mußte?«

»Ja, Bruder Loskiel, ich habe mich hineingefunden und will versuchen, meinen Weg allein zu gehen.«

»Allein? Gottfried! Das ist ein gefährlich Ding. Laß mich dir noch einen Rat geben zum Abschied, nimm deinen Heiland mit.«

Stumm nickte Gottfried dazu und verabschiedete sich von dem bewährten Freunde.

Dann ging er mit dem Vater schweigend hinaus zum stillen Gottesacker.

Die warme Frühlingssonne ließ eben die ersten Knospen 504 springen, schien mild und liebreich auf die harten Grabsteine, und die ersten Stare pfiffen frisch und lebensfroh ein übermütiges Liedchen von den Zweigen der alten, graubemoosten Friedhofslinden.

Ernst legte Gottfried einen schlichten Immortellenkranz auf den schmalen Hügel, unter dem der geliebte Freund der Ewigkeit entgegenschlummerte. Mit stiller Wehmut nahm er Abschied; er sagte nichts, aber er dachte den Worten des Dichters nach: Und was du bist, das bliebst du andern schuldig.

Auf dem Rückwege brach endlich der Vater das Schweigen und meinte:

»Nun bist du fertig, Gottfried, mit deinen Lehrjahren. Nun kommen die Wanderjahre. Sag mir nur das eine: Gehst du gern nach Gotteshaag?«

»Darüber hab ich bisher wenig nachgedacht, Vater. Aber das eine kann ich dir versichern, ich gehe, weil es mich innerlich treibt.«

»Das ist das richtige Gefühl, Gottfried. Nun bin ich völlig beruhigt. Mögest du in Gotteshaag finden, was dir und uns frommt, das ist mein und deiner Mutter innigster Wunsch. Ich habe dich nie mit Lob verwöhnt, mein Junge, aber heute, beim würdigen Abschluß deiner Schulzeit, will ich dir meine väterliche Anerkennung nicht vorenthalten. Ich darf dir sagen, du hast bis jetzt die Hoffnungen, die ich auf dich gesetzt, erfüllt, hast auch in schwerer Zeit bewiesen, daß du allein mit dir fertig zu werden vermagst, und das gibt Hoffnung für die Zukunft, mag sie sich gestalten, wie sie will. Suche immer mehr ein ganzer Mann zu werden, und deiner Eltern und Gottes Segen wird mit dir sein.«

 

505 Der letzte Morgen, den Gottfried im lieben Girdeiner Pädagogium verbringen sollte, war angebrochen.

Zum letzten Male trank man den dünnen Frühstückskaffee aus dem alten Bunzlauer Kännchen und den nüchternen, meist henkellosen Primakrusen. Dann gings hinunter in den Hausflur.

Am Horizont dämmerte erst ein schmaler, gelblichfahler Lichtstreifen; ringsum brannten wie immer, matt und spärlich, die alten Ganglämpchen, die der runde Bruder Schnuppert treulich mit Öl versorgte und Radeck, der gelenkige Stiefelfürst, scheinbar vergeblich putzte.

Die Hausgemeine versammelte sich flüsternd, auch die Lehrer erschienen; einige, wie Bruder Riedel und Leßmann, noch ein wenig verschlafen, denn der gestrige große Abschiedspunsch in der Turnhalle hatte wie immer gar lange gedauert.

Endlich erschien das Haupt des Pädagogiums, Bruder H. C. Nielsen, gefolgt von seiner Frau, der vielgetreuen Hausmutter, und den beiden Primalehrern, Bruder Schordan und Bruder Reicher. Die sechs Abiturienten traten vor und verabschiedeten sich von jedem einzelnen durch Handschlag unter dem ernst und mächtig daherrauschenden Gesang des schönen Bourquinschen Liedes: »Es fliehet schnell von hinnen der Jugend goldne Zeit.«

Als die Sänger geendet hatten, und die letzten Töne in den mächtigen Steinhallen des Treppenhauses verklungen waren, trat Bruder Nielsen zum letzten Abschiedswort vor und sprach mit seiner markigen Stimme:

»Meine lieben Freunde! Wieder wie alljährlich um die Osterzeit ruft uns eine frühe Morgenstunde hierher, um Abschied zu nehmen von einer uns lieb gewordenen Oberprima. Wehmut füllt unser Herz, denn gerade diese Oberprima war uns wert vor andern, sie war gleichermaßen tüchtig in körperlichen wie in geistigen Leistungen, ja ich 506 darf es mit ehrlicher Freude sagen – sie war der Stolz unseres Hauses wie selten eine. Wehmut, bitterste Wehmut füllt auch der Scheidenden Herz, denn diese wackre Kolonne 80 vermißt einen aus ihrer Zahl, vielleicht ihren besten Mann. Aber er ist nicht tot, er lebt und wird leben! So kurz sein irdisches Dasein war, so reich, so fruchtbar war es. Er bleibt seinen Kolonnengenossen unvergeßlich, bleibt ihnen und uns verklärt in ewiger Jugend als ein Dichter, ein Liebling des Höchsten, dem früh und fast mühelos zuteil ward, wonach wir uns alle sehnen, der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft. Uns fiel ein ander Los, ein schwereres, doch darum nicht geringeres. Wir sollen um dieses höchste Gut ringen und kämpfen in rastloser Arbeit an uns selbst und an andern. So will es Gott, und dazu schickt er auch euch, ihr lieben Scheidenden, hinaus in das Leben. Hier in diesem stillen Haus fehlt es zwar nicht an Kampf und Arbeit, hat auch euch nie daran gefehlt – ich weiß es – aber es war wohl nur ein harmloses Vorspiel gegenüber dem, was eurer wartet. Doch darum keine Sorge! Keinem von uns legt Gott, der Herr, mehr auf, als er zu tragen vermag, und ich als euer Erzieher weiß sehr genau: es sind starke Schultern und tapfere Herzen unter euch. Habt nur frohen Mut und ein gut Gewissen! Wer im Kleinen getreu gewesen ist, der wird es auch im Großen sein. Und noch eins, meine lieben, jungen Freunde, noch einen Rat für euer neues Studium: Haltet euch nicht auf bei Nebensachen, sondern behaltet das Ganze im Auge, verliert euch nicht in Äußerlichkeiten, in Spitzfindigkeiten und Formelkram, sondern schreibt euch tief in eure Seelen das mächtige Pauluswort: Das Reich Gottes stehet nicht in Worten sondern in Kraft – dann wird es euch gelingen, brauchbare Diener Gottes zu werden. Und nun ade, ihr Lieben und Getreuen von der Kolonne 80, ihr seid mit Ehren euren 507 Weg gegangen durch unser Haus – habt euren Schild rein und blank gehalten, wie ihrs gelobt, da ihr hier eintratet. Schreitet eure Bahn so weiter, so ernst und stolz, so mutig und unbefangen! Unsre Liebe begleitet euch auf allen Wegen, und Gottes Gnade sei mit euch, zieht hin in Frieden. Amen!«

Mit bewegtem Herzen trat Bruder Nielsen auf die Sechs zu und gab ihnen unter lautloser Stille den Abschiedskuß.

Krachend fielen dann die mächtigen Riegel der Haustür, ihre hohen Flügel öffneten sich weit, und langsam schritt alles in den kühlen Aprilmorgen hinaus.

Als sich der Zug geordnet, setzten unvermutet die Primaner mit dem Liede ein, das Nöke für die vorigen Abiturienten gedichtet hatte, und nach der Weise Eichendorffs, die Lyra so anmutig in Musik gesetzt, scholl es feierlich über den weiten Platz und dann durch die stillen Straßen dahin:

Nun ziehn wir zum letzten Male
Die dämmernden Straßen hinaus
Und grüßen in Frührotstrahle
Die taufrische Heide draus.
Vom Waldrande flüstern die Föhren,
Die Birken, sie lispeln so sacht,
Und der Schlehdorn will uns betören
Mit der knospenden Frühlingspracht.

Des Friedhofs Linden schweigen,
Sie kennen des Scheidens Weh.
Wir schütteln die Hände und neigen
Die Häupter nieder – ade!
Ade – und wir blieben so gerne,
Wo Liebe gefangen uns hält.
Doch die Berge rufen zur Ferne
Und dahinter die freie Welt.

Voran jubeln Lerchen zur Sonne,
Der Morgenwind flügelt den Schritt,
Und treulich in unsrer Kolonne,
Erinnerung, du ziehst mit.
Dich wolln wir hüten und hegen
Wie ein Kleinod, ein heimlich Glück!
Dann führst du auf stillen Wegen
Nach Girdein uns lächelnd zurück.

 


 


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