Herm. Anders Krüger
Gottfried Kämpfer
Herm. Anders Krüger

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Achtes Kapitel

Der Todeskandidat

Als Matthes nicht zum Frühstück erschien und ebensowenig zur Predigt, bemächtigte sich seiner Mutter eine steigende Angst. Wenn ihr Mann nicht gerade die Predigt gehabt hätte, würde sie ihm ihre Besorgnisse sofort mitgeteilt haben, so beschränkte sie sich zunächst darauf, Liese, die Köchin, zu beauftragen, den Jungen zu suchen.

Auch der Vorsteher, der im Kirchensaal stets vorn auf der sogenannten Arbeiterbank saß – so hießen die Bänke zu beiden Seiten des dunkelgrünen Predigertisches, auf denen die Arbeiter der Gemeine, d. h. die Konferenzgeschwister saßen – hatte seinen Gottfried bei der Predigt vermißt. Er wollte ihn dafür beim Essen zur Rechenschaft ziehen, aber das Söhnchen erschien merkwürdigerweise auch hierzu nicht. Als er die Großmutter nach ihm fragte, gab diese verblüfft zurück:

»Na, nu? Hatte denn der Junge nicht heute eine Partie mitmachen sollen?«

Der Vorsteher schüttelte verwundert das Haupt und erkundigte sich weiter zunächst bei seiner Frau, dann bei Gottfrieds Geschwistern. Noch während dieser Umfragen 124 schickte plötzlich Bruder Friesen seine Liese herüber und ließ um Auskunft bitten, ob man vielleicht bei Vorstehers wüßte, wo sein Matthes sei; er sei seit dem frühen Morgen fort, und man wisse nicht wohin.

Die Großmutter und der Vorsteher sahen sich bedenklich an, sie ahnten beide, daß irgend etwas nicht in Richtigkeit sein könnte. Frau Bürglin, über Friedels Lüge tiefbetrübt, dachte zuerst daran, daß der junge Kranich seine Hand mit im Spiele haben könne, und schickte die Pastorliese eilends zum Totengräber.

Als auch von dort die schon gefürchtete Antwort kam, der Kranichjunge sei ebenfalls seit frühestem Morgen von Hause fort, – Meister Kranich war das nicht weiter aufgefallen – da stand es dem Vorsteher ziemlich fest, daß man es mit irgend einem Komplott des sauberen Kleeblatts zu tun habe. An einen systematischen Fluchtversuch dachte er freilich noch nicht. Immerhin erregte die ganze Sache bald allgemeineres Aufsehen, da nun in der ganzen Gemeine herumgeschickt werden mußte, um den Aufenthalt oder irgend welche Spuren der Verschwundenen durch Erkundigungen zu ermitteln.

Es blieb aber alles vergebens, auch im Dorfe und auf dem Bahnhofe wollte niemand die Knaben gesehen haben. Nun wurde die Sache beängstigend; man ließ die Teiche absuchen, der reitende Gendarm mußte satteln, die Vorstehers-Köchin, die Pastorliese und der Totengräber machten sich noch gegen Abend zu Fuße auf – alles ohne Erfolg; obwohl man auch den Dusterbusch und die Straße nach dem Falkengebirge visitierte.

Als die Gemeingeschwister abends zur Versammlung kamen, war die allgemeine Aufregung bereits kaum zu verbergen; namentlich auf der Schwesternseite wurde sogar noch im Saale ungewöhnlich viel gezischelt. Auch mußte der Brüderpfleger die Liturgie abhalten, weil Bruder Friesen, 125 der sich die härtesten Vorwürfe machte, daß er seinen Sohn durch seine Strenge ins Unglück getrieben habe, einen heftigen Weinkrampf bekommen hatte. Die Andacht während des Gottesdienstes war natürlich unter solchen Umständen gering. Auch nach Schluß der Versammlung lief keine Nachricht mehr ein, nicht der geringste Anhalt war aufzufinden gewesen, hauptsächlich wohl infolge des klugen Vorschlages von Ibikus, sich bis zum Abend schlafen zu legen.

Und die Nacht brach herein, eine schreckliche Nacht für Kämpfers und Friesens, weniger für den Totengräber, bei dem die wilde Wut über den ungeratenen Buben etwaige Selbstvorwürfe gar nicht zu Worte kommen ließ.

Während die drei Knaben die letzte Nacht vor Aufregung nicht hatten schlafen können, waren es diese Nacht ihre Eltern, die vor Sorgen kein Auge zutun konnten.

Dem Vorsteher, der seiner untröstlichen Frau und der leidenschaftlichen Schwiegermutter gegenüber die äußere Ruhe zu bewahren gewußt hatte, wurde es mehr und mehr klar, daß er es am Ende doch wohl mit einer gut vorbereiteten Flucht zu tun hatte, vollends da man des Matthes geleerte Sparbüchse bei Friesens gefunden hatte. Im Innern regten sich auch bei Ehrentraut Kämpfer quälende Gedanken, denn er kannte seinen Jungen und dessen starren Trotz viel zu gut, um sich nicht auszusprechen, daß Friedel wohl schwerlich von selber zurückkommen werde, selbst wenn ihn vielleicht seine Gefährten im Stiche ließen. Also galt es, der Flüchtlinge unbedingt habhaft zu werden.

Nach dieser bangen, durchwachten Nacht tat Vorsteher Kämpfer schon am nächsten Morgen im Einverständnis mit seinem ganz gebrochenen Freunde, Bruder Friesen, den ihnen beiden persönlich sehr unangenehmen Schritt: er meldete den Vorfall offiziell an die Behörde, und nun ward überall hin das Signalement der drei Ausreißer gedrahtet, vor allem an die Grenzpolizei.

126 Dennoch verging abermals ein langer Tag und eine noch viel längere qualvolle Nacht ohne jede Nachricht, bis endlich am Dienstag Morgen um 9 Uhr ein Telegramm von einem böhmischen Grenzort eintraf, daß man drei Knaben mit einem kleinen Handwagen während der letzten Nacht beim Durchmarsch durch das Dorf X. angehalten und bei der Ortsbehörde eingeliefert habe; es dürften wohl die gesuchten Friesen, Kämpfer und Kranich sein, obwohl die drei Namen und Herkunft anzugeben sich hartnäckig weigerten.

In ganz Herrenfeld erregte diese Nachricht, die sich wie ein Lauffeuer verbreitete, allgemeine Freude. Man beglückwünschte die Eltern und Geschwister und wartete nun mit Spannung auf die Ankunft der Flüchtlinge, um deren Rücktransport der Vorsteher sofort telegraphisch gebeten hatte. Da der Grenzort keine Bahnverbindung hatte, mußten die Flüchtigen in einem Bauernwagen wieder über das Gebirge zurückgebracht werden und langten erst am späten Nachmittag unter der Eskorte eines Landgendarms vor dem Vorsteherhause zu Herrenfeld an. Zum Glück für die etwas verdutzt und übernächtig dreinschauenden Insassen des Wagens waren die Straßen von Herrenfeld gerade ziemlich leer, und so waren nur wenige Neugierige Zeugen dieses sonderbaren Schauspiels, desgleichen das alte Herrenfeld wohl noch nie gesehen hatte.

Wehmütig dachte Gottfried an die stolze Ausfahrt nach Tannewitz vor einem Jahr; es war ein bitterer Gegensatz.

 

Der Vorsteher, dem die Eskorte des Gendarms schon genügend peinlich war, wollte jedes weitere Aufsehen vermeiden und schickte darum schnell den ganz verweinten Matthes unter der Begleitung seiner Köchin zum Pastor hinüber, der seinen wiedergefundenen Sohn mit tiefer Bewegung in die Arme 127 schloß, ohne den herzbrechend Schluchzenden auch nur ein einziges Wort des Vorwurfes hören zu lassen. Dieses stille, ergreifende Wiedersehn mit seinem Vater griff dem zerknirschten Matthes gewaltig ans Herz und hätte wohl auch in seiner noch nicht verhärteten Seele einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen, ja vielleicht eine völlige Umwandlung bewirkt, wenn nicht die Mutter, bei der die Entrüstung schon wieder die Angst überwunden hatte, in törichter Weise den Heimgekehrten mit Vorwürfen und einer langen Bußpredigt überschüttet hätte. Noch tagelang wußte sich Matthes vor den traurigen Augen der Mutter kaum zu retten. So ward er denn ganz stumm und dumm, fast schlimmer denn zuvor, bis endlich der Vater eingriff und seine Frau ernstlich bat, Matthäus erst wieder froh und unbefangen werden zu lassen.

Sehr viel einfacher war der Empfang bei Kranichs, dort gab es erst eine außerordentliche Tracht Prügel vom Vater und dann von der Mutter etwas Ordentliches zu essen, denn Kranich junior war über die Maßen hungrig.

Am schlimmsten erging es Gottfried, den der Vater einstweilen ins Archiv, den Hinterraum des Büros, einsperrte, bis er die Verhandlungen mit dem fremden Gendarm ordnungsgemäß abgewickelt hatte. Als bald darauf Mutter, Großmutter und Geschwister herein stürmten, um den fast verloren Geglaubten zu begrüßen, wehrte sie der Vorsteher kühl ab und meinte:

»Erst muß er seine Strafe verbüßen und um Verzeihung bitten; dann schick ich ihn euch schon hinüber. Seinem Gesichte nach schien er übrigens nicht sehr reuig zu sein.«

Und so war es auch; aber ebenso wenig war der Vorsteher trotz der beweglichen Fürbitten von seiten der Großmutter und Mutter diesmal gewillt, Gnade vor Recht ergehen zu lassen.

Er hatte in den letzten Monaten wenig Freude an dem Jungen erlebt. In seinen Schulleistungen hatte Gottfried 128 derartig nachgelassen, daß nicht einmal seine Versetzung in die zweite Klasse außer Frage stand. Und nun diese drei letzten Vorkommnisse, die in beinah absichtlich sich steigernder Weise auch ihn, den Vater – zuerst vor dem Direktor der Schule, dann vor der ganzen Gemeine und nun schließlich gar vor den Staatsbehörden – in Mißkredit gebracht hatten! Nein, das Maß Gottfrieds war übervoll.

Während der Abwesenheit des Knaben hatte Vorsteher Kämpfer sich in seiner Rechtlichkeit wohl gefragt, ob er die Schuld nicht vor allem bei sich selber und bei seiner falschen Erziehungsmethode suchen solle. Und er mußte sich in der Tat bei unnachsichtlicher Prüfung selbst gestehen: daß es ihm als Vater allerdings gemangelt habe an dem richtigen Eifer um seinen Sohn, aber [nicht] an dem hohen, göttlichen Eifer der zürnenden Liebe, die einst Jahwe Zebaoth um sein Volk verzehrt hatte. Und diese eifernde Liebe um sein Kind durfte nicht schwach und nachsichtig sein; sie mußte unbarmherzig und strafend sein in erster Linie. Der bereits eisenharte Trotz des kaum elfjährigen Knaben mußte jetzt völlig gebrochen werden, sonst würden weit schlimmere Folgen für seine Charakterentwickelung sich ergeben.

Mit diesem festen Entschluß ging der Vorsteher ins Archiv zu seinem Sohne, der mürrisch an dem einzigen vergitterten Fenster des Gemaches saß und hinausstarrte, hinaus zu den duftig blauen Falkenbergen, die er gestern noch in göttlicher Freiheit durchwandert hatte. Und nun gefangen, entehrt, der Strafe gewärtig! Am liebsten hätte er in unendlichem Jammer laut aufgeschrien, aber er hatte sich fest vorgenommen, er wollte hart sein und auch die Strafe ohne jeden Mucks hinnehmen. Etwas Heldenhaftes war über ihn gekommen. Wie wäre es erst gewesen, wenn man ihn im Kriege gefangen hätte? So sah er in dem soeben eintretenden Vorsteher auch zunächst nicht seinen Vater, den er undankbarer Weise schwer gekränkt hatte, sondern mehr 129 den Kerkermeister oder den Richter, der ihm das Urteil zu künden kam, ja wohl auch den Schergen, der es ausführt. Und er faßte all seinen wilden Trotz zusammen, um diesem Manne gegenüber nicht feig zu sein, um ihm zu zeigen, daß es ihm ernst gewesen sei mit seiner Flucht. Er erhob sich darum nicht in schuldiger Ehrfurcht vor seinem Vater, als dieser nun zu ihm trat, ja er würdigte ihn nicht einmal eines Blickes.

Dem Vorsteher lief es vor innerer Erregung kalt über den Körper, als er das aufsässige Wesen seines Sohnes wahrnahm; aber er hielt an sich, um sich nichts zu vergeben. Dann rief er ihm leise, aber sehr bestimmt zu: »Steh auf Gottfried, ich hab mit dir zu reden!«

Gottfried erhob sich langsam, obwohl er es eigentlich nicht wollte, aber er konnte nicht anders, es lag etwas gar zu Zwingendes in der eindringlichen Aufforderung des Vaters.

Nun begann der Vorsteher sein Verhör. Er huldigte dem Erziehungsgrundsatz, vor Verbüßung der Strafe den Schuldigen womöglich zur freiwilligen Einsicht seines Vergehens zu bringen, damit dieser die Strafe als etwas durchaus Notwendiges, nicht als etwas Beliebiges oder gar absichtlich Grausames empfinden möge.

Der Vorsteher fragte zuerst: »Warum bist du eigentlich fortgelaufen, Gottfried?«

Diese Frage hatte der Knabe längst erwartet und stieß daher die Antwort schnell und leidenschaftlich hervor, als sei es ihm eine Erlösung, sie loszuwerden:

»Weil ichs bei euch nicht mehr aushalten konnte, weil ihr alle, hier und in der Schule, mich wie einen Schuft behandelt habt. Aber ich bin kein Schuft, und ich wills euch allen schon noch zeigen, dir und den Heiligen und den Dritten!«

Der Vorsteher wußte genug: also gekränktes Ehrgefühl. Das nahm ihm einen Stein vom Herzen; das war noch nicht der schlechteste Beweggrund. Und er fragte weiter:

130 »Also geschämt hast du dich. Warum? Hast du mit deiner Bibelentweihung eine solche Mißachtung denn nicht verdient?«

»Nein,« war die kürze Antwort des Knaben.

»Ich glaube doch!« versetzte der Vorsteher bedächtig, »wer sich am Heiligsten, am Worte Gottes, vergeht, den kann nur die allgemeine Mißachtung strafen, eine andere Strafe gibt es dafür nicht. Das ist nur in der Ordnung, wird sogar heilsam sein für euch drei!«

Gottfried begehrte trotzig auf: »Wenn ihr alle uns eben nicht mögt, dann reißen wir halt wieder aus, wir leidens nicht, daß man uns so behandelt. Ich jedenfalls nicht!«

»Du wirst nicht wieder fortlaufen, Gottfried. Du hast deine Eltern schon so oft und so schwer gekränkt und wirst sie nicht noch mehr kränken wollen!«

»Ich hab weder Großmuttel noch euch kränken wollen. Was hab ich denn getan? Der Ibikus hat uns das erzählt und uns die Stellen aufgeschrieben, und wir habens eben gelesen, aber lustig gemacht haben wir uns gar nicht. Überhaupt hab ich vieles gar nicht verstanden, und da hab ich eben gefragt – na und da – da.«

»Warum fragtest du nicht mich oder die Mutter?«

»Weil – weil – ich mich geniert und dann auch, weil ich mich nicht getraut hab!«

»Siehst du Gottfried, das war das böse Gewissen, du fühltest eben dein Unrecht, weil du das Wort Gottes gebraucht hattest nicht zur Erbauung, sondern um deine Neugier, deine Lüsternheit zu befriedigen: denn deshalb allein interessiertest du dich für alle diese Stellen. Aber wir wollen das Alte nun ruhen lassen, wenn du dein Unrecht einsiehst, und du siehst es doch ein, Gottfried, nicht wahr?«

»Ja, das mit der Bibel, ja!«

131 »Das übrige nicht, wie?«

»Nein, das mit dem Ausreißen nicht!«

»So? Das schmerzt mich tief, Gottfried. Empfindest an denn gar nicht, daß du uns allen durch dein Verschwinden schwere Stunden und bange Sorge bereitet hast, daß du durch deine gewaltsame Zurückbringung unser Haus in Unehre gebracht hast vor allen Leuten? Ist das alles nichts?«

Eine bange Pause trat ein. Der Vorsteher sah ordentlich, wie es in der Brust seines Jungen kämpfte.

In der Tat, so hatte sich Gottfried die Sache noch gar nicht betrachtet. Er fühlte in seinem gesunden Gerechtigkeitsgefühl, daß der Vater recht habe, ebenso wie er die Unwahrheit oder wenigstens die Unzulänglichkeit seines angeführten Beweggrundes empfand. Denn nicht nur die Unerträglichkeit seines bisherigen Zustandes, sondern fast ebensosehr die Abenteurerlust und der Ehrgeiz hatte ihn zur Flucht getrieben. Wie er nun dies alles – zunächst noch unklar und verworren – sich zu Gemüte führte, konnte er da wohl anders, als dem Vater recht geben? Und nachdem er einmal weich geworden war, regte sich das Gute in seiner Natur gegenüber dem unbeugsamen Trotz, er überwand ihn für einen Augenblick und stockend brachte er die Worte heraus:

»Ja Vater, ich sehe es doch ein, und ich bitte dich um Verzeihung!«

Dabei reichte er ihm schüchtern, ohne ihn anzublicken, die Hand. Es war, als wollte er seine eigene Demütigung nicht mit ansehn.

Der Vorsteher nahm schnell die Hand seines Sohnes, aber er hielt sie fest und fuhr nun in seiner eindringlichen Ermahnung fort:

»Es freut mich, daß du dein Unrecht allmählich einsiehst, aber dabei darfst du nicht stehen bleiben. Du bist schon seit langem in ein falsches Fahrwasser geraten, mein 132 Sohn, und so kann es nicht weiter gehen. Du mußt nicht nur einmal Halt machen, du mußt auch energisch umkehren und anders gehen wollen. Ja an deinem Willen liegt es, Gottfried! Und darum kann ich dir meine väterliche Verzeihung nicht gewähren, wenn du mir nicht zugleich versprichst, mit ganzem Willen wirklich ein anderer, ein besserer zu werden.«

Bis hierher war Gottfried in Gedanken dem Vater willig gefolgt, jetzt aber wurde es anders, als der Vorsteher fortfuhr: »Und damit dir das leichter wird, will ich dir durch meine väterliche Fürsorge helfen. Du sollst jetzt ganz in unser Haus ziehen, damit ich dich immer unter Augen habe, und ich werde mich nun auch mehr um deinen Umgang kümmern. Du sollst künftighin mit deinen Eltern und Geschwistern zusammen sein, und mit Knaben wie Kranich wirst du überhaupt nicht mehr verkehren. Du siehst ja, wie schlecht sein Einfluß auf dich gewesen ist!«

Bei diesen Worten zog Gottfried seine Hand aus der des Vaters zurück. Wenn er seine Verzeihung so teuer erkaufen sollte, dann verzichtete er lieber. Ihm ging es wie dem Germanentäufling, der lieber auf den Himmel als auf seine Väter und Vorväter verzichtete.

Der Vorsteher erschrak. Die schon halb willige Seele entglitt ihm, und zugleich wankte seine Ruhe. Auch in ihm wallte es heiß herauf bei des Knaben trotziger Absage, und nur mühsam hielt er an sich, als er jetzt langsam sagte:

»Du willst nicht, Gottfried? Ist deine Bitte um Vergebung so oberflächlich gemeint gewesen?«

Gottfried biß erst die Lippen fest aufeinander, als wollte er mit Gewalt seinen Widerspruch hinabwürgen, dann aber kam es doch in abgerissenen Lauten über die Lippen:

»Nein – da – dann – mag ich nicht!«

»Du magst nicht? Und warum nicht?«

133 »Weil ich nicht bewacht, nicht eingesperrt sein will hier bei euch, weil ich bei Großmuttel bleiben will, weil sie mich lieb hat!«

In diesem Augenblicke war es dem Vorsteher, als gähne eine drohende Kluft vor ihm auf. Seine Befürchtungen von ehedem erfüllten sich, nun sollte er bitter bereuen, damals Frau Bürglin nachgegeben und ihr den Jungen doch gelassen zu haben. Vielleicht war es noch nicht zu spät, die Sache wieder gut zu machen, jedenfalls mußte er jetzt fest bleiben, es mochte biegen oder brechen.

Um also Gottfried von vornherein seinen unbeugsamen Willen zu zeigen, entgegnete er ihm mit eisiger Ruhe: »Von Einsperren ist keine Rede, aber ein Kind gehört in das Haus seiner Eltern. Wir haben dich beide ebenso lieb wie die Großmutter, und wenn du dich nur fügen und deine Ungezogenheiten aufgeben willst, sollst du auch bei uns deine volle Freiheit haben und dich froh und behaglich fühlen.

»Ich kann das aber nicht bei euch«, fiel Gottfried bitter ein, »und will es auch nicht, dann reiß ich eben wieder aus.«

»Du willst also nicht?« fragte der Vorsteher noch einmal mit scharfer Betonung des »willst«.

»Nein, ich will nicht!« antwortete Gottfried fast schreiend in aufloderndem Trotz.

Jetzt war der Vorsteher zu Ende mit seiner Geduld. Ein weiteres Verhandeln mit dem widerspenstigen Buben wäre ihm als unverzeihliche Schwäche erschienen. Es gab nur noch einen Ausweg: nämlich diesen Trotz mit Gewalt zu brechen. Die volle Strenge väterlicher Zucht mußte nunmehr walten, und so legte er seinen Sohn übers Knie und verabreichte ihm mit einem Rohrstock eine gehörige Tracht Prügel.

Dann verließ er schweigend das Büro, um dem Bestraften, der lautlos still gehalten hatte und nun in stummer Wut auf dem Boden kauerte, Zeit zu lassen, sein 134 Unrecht einzusehen und zugleich, um selbst wieder völlig ruhig zu werden. Denn noch niemals hatte er sich über seinen Buben so aufgeregt wie eben jetzt. Er schloß das Büro leise ab, steckte den Schlüssel ein, damit die Frauen nicht etwa in falscher Schwäche sich des eigensinnigen Sünders erbarmten, und ging dann hinauf, um ein wenig Luft zu schöpfen.

 

Kaum hatte Gottfried das Umdrehen des Schlüssels gehört, als er auch aufsprang und zum Fenster eilte. Fort, fort um jeden Preis! Das war jetzt sein einziger Gedanke.

Aber jede Aussicht auf einen neuen Fluchtversuch war benommen. Das Archivfenster war mit einem eisernen Gitter versehen, und die abgeschlossene Archivtür war stark und mit Eisenblech überschlagen; es blieb also nichts übrig als Ergebung. Und doch wollte sich Gottfried nicht ergeben, nur dieses Mal nicht, nein, nur jetzt nicht!

In ohnmächtigem Grimm warf er sich abermals zu Boden, wälzte sich wie wahnsinnig umher, als müsse er die ganze rasende Leidenschaft, die in ihm gärte und brandete, irgendwie aus sich heraus zu setzen versuchen. Dann ward er allmählich ruhiger und begann auf Rache zu sinnen.

Konnte er dem Vater nicht wenigstens irgendwie schaden, ihm irgend etwas vernichten? Dann aber schämte er sich sogleich wieder seines frevelhaften Gedankens und fühlte: er müsse etwas anderes tun, etwas Größeres, etwas Heldenhafteres – aber zugleich etwas, was vornehm und doch dem Vater unlieb sein müsse.

Und da kam seine knabenhafte Phantasie zum erstenmale in seinem Leben auf den rücksichtslosesten Ausweg, 135 übermächtigen Verhältnissen ein Ende zu machen, – er wollte aus dem Leben scheiden.

Aber unwillkürlich ward sich der sonst tapfere Junge der großen Feigheit dunkel bewußt, die stets in einem solchen Entschlusse liegt, und darum glaubte er eine edle, eine schwere Todesart wählen zu müssen, die nebenbei auch gerade die einzige war, die dem hilflos Eingesperrten möglich war, den freiwilligen Hungertod.

Daß es zur Durchführung eines so heroenhaften Entschlusses vieler Entsagung und Energie bedurfte, war ihm wohl klar, denn zufälligerweise kam ihm der Gedanke ans Verhungern fast gleichzeitig mit dem entgegengesetzten Gedanken ans Essen. Jedenfalls verspürte er seit diesem Augenblick einen ganz empfindlichen Hunger, der übrigens kein Wunder war, da die Ausreißer seit dem frühen Morgen nichts mehr zu essen bekommen hatten. Fast höhnisch hatte man ihnen nur ihren verhängnisvollen Proviantwagen, der sie allein verraten hatte, geleert in den Bauernkarren gegeben.

Als der Vater kurze Zeit darauf wieder aufschloß und ins Archiv trat, sah er auf den ersten Blick, daß die erhoffte Reue und Einsicht in das Herz seines Gottfried noch nicht eingezogen waren. Dennoch fragte er ihn mit aller Milde, deren er fähig war:

»Nun, mein Sohn, du hast hoffentlich dein Unrecht eingesehen?«

»Nein«, war die finster entschlossene Antwort des noch am Boden kauernden Gefangenen.

»Also dein böser Trotz ist noch nicht gebrochen? Gottfried, Gottfried, geh in dich, ich rate dir gut!«

»Ich will nicht, will gar nicht mehr.«

»Das merke ich, aber erwarte nicht, daß ich deinem Willen nachgeben werde. Nein, mein lieber Junge, ich werde deinen unverständigen Willen brechen. Du wirst 136 darum nicht eher diese Kammer verlassen, bis du dein Unrecht eingesehen, demütig um Verzeihung gebeten und gelobt hast, von Grund aus ein anderer zu werden. Und nun gehab dich wohl, Gottfried, und geh in dich. Ich werde dir dein Abendbrot nachher selber bringen!«

»Ich brauche keins, ich will nicht mehr essen, ich will sterben!«

Der Vorsteher stutzte. Hatte er recht gehört? Er fragte noch einmal zögernd: »Was willst du?«

»Sterben will ich!« war die in wilder Verzweiflung hervorgestoßene Antwort des Knaben, der plötzlich aufsprang.

Also hatte der Vorsteher doch recht gehört – alles Blut stieg ihm plötzlich zu Haupte, er ward dunkelrot. Einen Augenblick schien er zu schwanken, was er zu tun habe, dann aber trat er in flammendem Zorn auf den Knaben zu und schlug ihn mit der flachen Hand schallend ins Gesicht, so daß der Junge ächzend zu Boden sank.

Jetzt erst schossen dem noch immer mutig mit sich kämpfenden Gottfried die hellen Tränen aus den Augen hervor, Tränen der hilflosen Empörung über die brennende Schmach, die ihm sein Vater mit diesem Schlag ins Gesicht angetan hatte.

Der Vorsteher aber faßte sich rasch wieder, sah seinen Sohn mit großen, ernsten Augen an und sagte mit bebender Stimme:

»Weißt du auch, Gottfried, daß dein letztes, trotziges Wort eben eine Gotteslästerung war. Jeder Gedanke, das Leben, das uns Gott, der Herr, gegeben, von uns werfen zu wollen, ist eine Versündigung, eine schwere Versündigung gegen Gott. Und ich dulde nicht, daß du solche frevelhafte Gedanken aussprichst. Es ist schon schlimm genug, daß du dergleichen denken kannst.«

Gottfried hörte kaum noch auf das, was ihm der Vater 137 da sagte; er fühlte sich nur entehrt, gequält, mit Füßen getreten von seinem eigenen Vater und wimmerte leise vor sich hin: »Ich will aber sterben, ich will aber sterben, ich mag hier nicht mehr leben, denn ihr habt mich nicht mehr lieb, du nicht und Gott auch nicht.«

Mit geheimem Entsetzen über den unergründlichen Trotz seines Sohnes verließ der Vorsteher das Archiv, dessen Tür er abermals verschloß. Es tat ihm furchtbar weh, daß er dieses Kind so hart hatte züchtigen müssen, aber es war nicht anders möglich gewesen; das Gift der herrischen Auflehnung und des unbändigen Trotzes hatte eben schon zu tief gefressen. Gelang es ihm jetzt nicht, das Übel wirklich mit der Wurzel auszureißen, dann war es vielleicht überhaupt zu spät. Es galt darum auch, vor einer momentanen Härte nicht zurückzuweichen, wenn diese Härte heilsam war.

Das Schwerste war ihm, die Frauen von seinem unwiderruflichen Entschlusse, Gottfrieds Trotz mit Gewalt zu brechen, in Kenntnis zu setzen und seine Ansicht zu begründen. Frau Bürglin, die in ihrem Schwiegersohn längst einen Tyrannen sehen wollte, war schlechthin entsetzt über des Vorstehers Grausamkeit; aber auch Frau Angelika begann wiederum bitterlich zu weinen, als ihr Mann den Zusammenstoß im Archiv erzählte und dann hinzufügte:

»Und nun mag der Junge erst mal erfahren, was es mit seinem gottlosen Vorsatze, verhungern zu wollen, auf sich hat. Die ganze Nacht über bleibt er im Archiv, kein Mensch darf zu ihm hinein und auch keinen Bissen bekommt er zu essen, falls er heute Abend bei meinem letzten Besuch nicht zu Kreuze kriecht.«

Frau Bürglin war in tiefster Seele empört über ihren Schwiegersohn und sagte mit ungewöhnlicher Bitterkeit:

»Nimm mirs nicht übel, Ehrentraut, aber dein Vorgehen ist mindestens ebenso unverständig wie der Entschluß 138 Gottfrieds, ja es ist ein Gottversuchen bei dir. Wenn der kleine elfjährige Junge, der die ganzen letzten Tage schon nichts Rechtes zu essen bekommen hat, es nun gar nicht übersteht, wenn er uns plötzlich umfällt – dann bist du der Mörder deines eigenen Kindes. Ehrentraut, hör auf mich. Tiere kann man wohl mit solchen gewagten Experimenten zähmen, aber mit Menschen treibt man solche rohe Barbareien und Quälereien nicht, und gar mit den eigenen Kindern!«

Damit ging Frau Bürglin hinaus, nahm eilends ihre Sachen und ging in ihre Wohnung, um dort die ganze Nacht kein Auge zuzutun, vielmehr im heißen Gebet Gott, den Herrn, um das Leben und die Besserung ihres Lieblingsenkels anzuflehen.

Auch ihre Tochter wußte sich nicht zu fassen vor Herzeleid. Den ganzen Abend weinte sie um ihren armen Gottfried, ihr Schmerzenskind, vollends nachdem er am späteren Abend jede Versöhnung mit dem Vater rundweg abgewiesen und bei seinem Entschluß zu sterben trotzig verharrt hatte. Als Frau Angelika ihre Kinder zu Bett gebracht und unter Tränen mit dem kleinen Guido auch für den trotzigen Gottfried gebetet hatte, da fiel ihr der liebe, kleine Blondkopf plötzlich schluchzend um den Hals und schmeichelte zärtlich:

»Muttel, armes Muttel, um mich sollst du niemals so weinen wie um Gottfried! Gelt ja?«

Das war der einzige Trost, den Frau Angelika in diesen schweren Stunden hatte, denn ihr Mann ging seit den drohenden Worten der Großmutter finster und schweigsam umher, als drücke ihn doch etwas wie eine geheime Schuld.

Es folgte eine lange, bange Nacht für das Vorsteherpaar, noch schlimmer als die vorhergehenden Nächte der Sorge um den Verlorenen.

139 Nur Gottfried schlief nach all den Strapazen der vergangenen Tage, nachdem er seinen Hunger und seinen Groll verträumt, auf dem harten Boden seines Archivkerkers mit der ganzen seligen Vergessenheit eines echten, traumlosen Kinderschlafes.

 

Als Gottfried am anderen Morgen erwachte, mußte er sich lange die Augen reiben, bis er sich klar darüber wurde, wo er war. Er fühlte seinen Rücken etwas zerschlagen, und das half ihm weiter zur völligen Klarheit über seine Lage. Dann entsann er sich auch der gestrigen Vorkommnisse und seines heldenhaften Gelöbnisses.

Aber als nun die Sonne so licht und so lieblich durch das Gitterfester hereinlugte, als er draußen im Garten die Amseln und die Stare so lustig zwitschern, den anmaßenden Hahn des nahen Schwesternhaushofes so gellend krähen hörte, als er schließlich eine sehr, sehr große Lust auf Kaffee und Butterbrot in sich verspürte, da kam ihm sein gestriger Entschluß – so einfach sterben zu wollen – doch entsetzlich schwer und eigentlich auch entsetzlich dumm vor. Freilich, gelobt hatte er es, und was man gelobt hatte, das mußte man halten, besonders einem Manne wie dem Vater gegenüber. Es half also wirklich nichts!

Und so zwang sich Gottfried langsam und grausam zu dem alten Entschlusse, sterben zu wollen, zurück, obwohl er, als er abermals durchs Fenster hinab in den Garten lugte, im Innersten so gar keine rechte Kraft mehr fand, solche alte, dumme Entschlüsse von gestern durchzuführen. Aber die Ehre, das war das Hindernis.

140 Und darum mußte er doch aufs schöne Leben verzichten. Am liebsten hätte er sich selbst beweint, denn er tat sich jetzt wirklich selber leid.

Ziemlich früh erschien der Vorsteher mit bekümmerter Miene im Archiv, um nach Gottfried zu sehen.

Als er den Schlingel ganz wohl und munter auf dem Fensterbrett sitzen und in den Garten hinabgucken sah, hellten sich seine Züge ersichtlich auf, und so mancher der düsteren Selbstvorwürfe, die er sich heute Nacht neben seinem schluchzenden Weibe gemacht hatte, erschien ihm jetzt fast leer und überflüssig. Er fragte seinen Sohn in freundlichem Tone:

»Nun Gottfried, ist dir dein Unrecht leid geworden? Hast du vor allem deinen ebenso gottlosen, wie unsinnigen Entschluß sterben zu wollen, aufgegeben?«

Gottfried war schnell vom Fensterbrette herunter gesprungen, denn es schien ihm, als gehöre es zu einem so ernsten Gefangenen, wie er es doch sein wollte, daß er nicht eine so lebenslustige Stellung behalte, wenn der Kerkermeister kam. Jetzt sah er seinem Vater forschend ins Auge, als hoffte er, trotz allen Ernstes doch etwas von Liebe darin entdecken zu können.

Zugleich fiel ihm aber ein, daß dieser Mann ihn gestern mit der Hand ins Gesicht geschlagen, und mit der neu aufglühenden Scham kam auch neuer Trotz über ihn. Außerdem hatte ers ja gelobt, und sein Wort mußte man halten, solange man konnte. Und so antwortete er, freilich längst nicht mehr in so schroffem Tone wie gestern Abend: »Nein, ich habs gelobt, und ich will fest bleiben, ich muß, ich will sterben!«

Der Vorsteher mußte verstohlen lächeln, denn er fühlte ganz deutlich aus den Worten des Knaben heraus, daß er dies eigentlich gar nicht mehr wollte, daß er sich im Grunde nur schämte, vor seinem Vater schwach zu erscheinen. Der 141 Vorsteher freute sich innerlich über die männliche Selbstbeherrschung dieses elfjährigen Kindes, und er war heut noch viel eher bereit, ihm die Hand zur Versöhnung zu reichen als gestern. Und so erwiderte er ruhig:

»Sieh mal, mein Junge, es ist recht von dir, daß du ein gegebenes Wort nicht leichtfertig aufheben willst; aber es handelt sich hier zunächst darum, ob dieses Wort es auch verdient, gehalten zu werden. Es war ein Wort des Trotzes, der Übereilung, der aufflammenden Wut, ein unrechtes, ein gottloses Wort, und das auch nur zu halten versuchen – wäre eine Torheit, und wie ich dir gestern schon sagte, eine große Sünde. Gewiß ist es tapfer, ein rechtes, ein gutes Wort zu halten; aber noch viel tapferer ist es, den Mut zu haben, ein falsches Wort zurückzunehmen und offen und ehrlich sein Unrecht zuzugeben.«

Gottfried horchte immer aufmerksamer zu. War das der unerbittliche Kerkermeister von gestern, oder war das ein erfahrener, fast liebevoller Freund, der heute zu ihm sprach? Es war ihm, als müsse er dem Vater unwillkürlich recht geben; es schien ihm fast, als sei sein ganzes Verhalten ein lächerlicher Streich gewesen. Wem hätte er denn mit seinem Tode, der doch sicherlich noch lange nicht kam und wohl furchtbar weh tun würde, einen wirklichen Gefallen getan? Sich selbst doch am wenigsten! Aber das Verbot, auf des treuen Ibikus Gesellschaft zu verzichten und dann – ja das war das grausamste, er sollte nun nicht mehr bei Großmuttel bleiben dürfen. Nein, das konnte er nicht ertragen, und was würden dann die Dritten sagen? So schien es ihm plötzlich wieder, als ginge es doch nicht an. Lange schwieg er, in ein stummes Ringen mit sich selbst verstrickt.

Der Vorsteher sah es und wollte dem zähen Buben heute gern die Kapitulation ein wenig erleichtern. So redete er ihm nochmals gut zu:

142 »Gottfried, denk doch an uns, deine Eltern, an Großmuttel und deine Geschwister, die wir dich alle lieb haben und dich recht, recht bald froh und zufrieden unter uns sehen möchten, nachdem wir dich so lang nicht gesehen haben, weil du uns heimlich und treulos fortgelaufen warst. Was würdest du wohl sagen, wenn wir dich mal so heimlich verließen? Nicht wahr, das war doch unrecht von dir?«

Jetzt brach das Eis des Bubentrotzes bei Gottfried langsam, aber stetig. Der Gedanke an die Großmutter hatte ihn plötzlich weich gemacht, die Sehnsucht, sie wieder zu sehen, regte sich zugleich mächtig in seiner Seele – ja, wenn er sie nur nicht hätte verlieren müssen – den Ibikus hätte er allenfalls geopfert. Aber er mußte jetzt reden. Der Vater war heute gut zu ihm. Stotternd, zögernd begann er:

»Lieber Vater – es tut mir ja leid – es war gewiß schlecht von mir, euch fortzulaufen, aber sieh, ich habs wirklich nicht getan, um euch zu kränken, ich habs eben nicht mehr aushalten mögen in der Schule und bei den Geschwistern, die immer so heilig taten. Und gestern, nun ja, weil ich nun auch hier nicht mehr raus konnte, da – da wollte ich eben am liebsten gar nicht mehr leben – und da – ja – es war schlecht – kannst du mirs verzeihen?«

Der Vorsteher zog den Jungen mit einem leisen Jubellaut an seine Brust, er küßte ihn auf die trotzige Stirn, und heiß stieg es ihm dabei in die Augen, als müßte er Freudentränen darüber vergießen, daß er seinen Buben endlich wieder hatte.

»Ja, mein lieber, böser Junge, ich verzeihe dir so gern,« – das war alles, was er vor innerer Bewegung hervorbringen konnte.

Gottfried war geradezu starr über diese plötzliche Verwandlung seines sonst so gemessenen Vaters. Vor lauter 143 Staunen kam er gar nicht dazu, die Liebkosungen des tief ergriffenen Vaters gebührend zu erwidern. Daneben regte sich freilich auch die geheime Sorge um die harten Bedingungen, die ihm fortwährend vor der Seele standen und bei ihm noch keine rechte Lebenslust aufkommen lassen wollten. Am besten war es wohl, gleich mit einer Bitte vor den Vater zu treten, und so begann er noch einmal schüchtern und bescheiden, wie es sonst nicht gerade seine Art war: »Und nicht wahr, Vater, von Großmutting brauche ich nun doch nicht weg, ich will auch ganz brav sein und keine Streiche mehr machen. Und den Ibikus, den –«

Der Vater unterbrach ihn rasch, aber nicht etwa unwillig: »Doch, Gottfried, von dem, was ich gesagt habe, kann ich nichts zurücknehmen. Du sollst jetzt bei deinen Eltern bleiben, wenigstens jetzt und die Ferien über.« Diese letzten Worte fügte er schnell bei, als er sah, wie es im Gesicht seines eben überwundenen Buben schon wieder unwillig aufzuckte, dann fuhr er nach einer kurzen Beobachtungspause fort:

»Sobald du mir gezeigt hast, daß du dich wirklich bessern willst – und ich denke, du wirst jetzt endlich ein ganz neues Leben bei uns hier anfangen – dann verspreche ich dir: daß du im Fall deiner Versetzung zu Michaelis nach Girdein auf die große SchuleGleichsam das Schulpforta der Herrnhuter. kommen sollst.«

Gottfried machte ein völlig verdutztes Gesicht, als er diesen letzten Satz vernahm. Er hatte fest darauf gerechnet, daß der Vater ihm versprechen würde, daß er dann endlich wieder zur Großmutter kommen werde und wollte eigentlich wieder trotzig werden. Aber andererseits kam ihm die plötzliche Aussicht, nach Girdein, dem Ziel der Sehnsucht 144 für jeden ehrgeizigen Herrnhuterjungen, zu kommen, so unerwartet und zugleich so verlockend, daß er am liebsten dem gütigen Vater, der ihm auf alle seine Unarten mit einer so freudigen Botschaft antwortete, jauchzend um den Hals gefallen wäre.

Nur kurze Zeit schwankte er widerstrebend hin und her, dann siegte doch das Gefühl freudiger Dankbarkeit, und er beugte sich über des Vaters Hand, küßte sie heiß und innig und rief glückselig:

»Wirklich, Vater, wirklich, soll ich nach Girdein! Wenn ich versetzt werd. O, du sollst sehn, ich werde versetzt, du sollst mal sehn, was ich kann.«

Das Herz des Vorstehers schlug schneller vor Freude; sein Sieg über das gestern noch so verstockte, sturmfeste Herz seines Sohnes war vollständig errungen; die Überraschung mit Girdein hatte den Ausschlag gegeben.

Ehrentraut Kämpfer war zu diesem Entschlusse, den er schon oft erwogen und auch mit seiner Frau gelegentlich besprochen hatte, in der letzten schlaflosen und kummervollen Nacht gekommen, weil er glaubte, daß für Gottfried eine Veränderung des Kameradenkreises, gleichsam ein geistiger Klimawechsel, das einzige, wirklich helfende Mittel sein würde. In einem oder spätestens zwei Jahren mußte er den Jungen so wie so von der Herrenfelder Schule fortnehmen. Vielleicht war es da besser, schon jetzt in der Krisis, in der sich Gottfried zur Zeit befand, die Übersiedelung vor sich gehen zu lassen. Zugleich wollte er dem Jungen einen deutlichen Beweis seines väterlichen Wohlwollens geben, damit er wieder Vertrauen zu seinem Vater fasse.

Und es gelang durchaus, zumal als jetzt der Vorsteher, gleichsam Öl auf die noch ungeschlossenen Wunden des Knaben gießend, hinzufügte:

145 »Und nun, Gottfried, wollen wir das Alte ruhen lassen und vergessen. Deine Übersiedelung zu uns soll nicht eine Strafe für dich sein, sondern wir wollen unsern lieben Jungen, der du jetzt sein willst, nur noch diese paar Wochen ganz bei uns haben, ehe er dann in die Ferne zieht. Du mußt doch einmal wissen, wie es eigentlich im Elternhaus ist. Und das mit dem jungen Kranich, das wird sich mit der Zeit ganz von selbst geben. Verraten sollst du ihn nicht, nur etwas weniger mit ihm umgehen; denn sieh, der Sohn unseres Totengräbers, der ewig mit rüden Lehrlingen zusammensteckt, ist kein dauernder Umgang für dich. Und bist du erst mal in Girdein und hast andere Freunde gefunden, dann wirst du das alles auch selber ganz schön einsehen und zugeben, daß dein Vater recht hatte. Nicht wahr? Und nun komm, Junge, nun wollen wir hinüber zur Mutter und zu den Geschwistern gehen, das Frühstück wartet, und einen anständigen Hunger wirst du wohl haben!«

Damit reichte der Vorsteher seinem Sohne noch einmal herzhaft die Hand. Von seinen sonst strengen Zügen leuchtete jetzt etwas wie lichter Sonnenschein.

War es der Widerschein des funkelnden taufrischen Sommermorgens, der durch das alte, griesgrämige Gitterfenster hereinlachte, oder war es der stille Abglanz eines sonst verborgenen Glückes, das in diesem Augenblick in seiner Seele aufleuchtete?

Als Gottfried mit dem Vater in gehobener Stimmung am Frühstückstische erschien, an dem nicht nur Mutter und Geschwister, sondern auch bereits die bleiche Frau Bürglin mit bang erwartungsvollen Gesichtern saßen, da war der Jubel des endlichen, frohen Wiedersehens unbeschreiblich.

Alle, alle, nicht nur die vor Freude ganz außer sich geratene Großmutter, herzten und küßten den bösen, trotzigen 146 Ausreißer, so daß diesem selbst die hellen Tränen über die etwas abgehärmten Wangen liefen.

Glückstrahlend warf sich Gottfried von einer Brust an die andere, und dazwischen stammelte er immer und immer wieder: »Denkt nur, denkt nur, ich komme nach Girdein. wirklich nach Girdein!« 147

 


 


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