Herm. Anders Krüger
Gottfried Kämpfer
Herm. Anders Krüger

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Zweites Buch

Girdein

Motto:
Laß ein Mann mich werden

 

Erstes Kapitel

Der Prinz im Winkel

Solang der Zug durch die lieblichen, laubwaldreichen Gefilde der mittelschlesischen Landschaft dahinbrauste, hatte Gottfried nur geringe Aufmerksamkeit für die Gegend bekundet. Es war ja alles wie zu Hause: wellige, üppig lachende Fluren und Wälder im bunten Schmuck des farbenfrohen Herbstes, langgestreckte Dörfer mit ziegelroten oder schiefergrauen Dächern, mitten drin des Kirchturms graugrüne Zwiebelkuppel im Stil der Leubuser Zisterzienser, dahinter blaue, rundliche Bergkuppen mit vereinzelten Ruinen oder Aussichttürmchen.

Jetzt hinter Hainau änderte sich das Bild mehr und mehr, und aufmerksamer schaute Gottfried zum Fenster hinaus. Die Berge verschwanden, Felder und Dörfer wurden selten; es ging meilenweit durch dichte, schweigende Kiefernwälder, deren schlanke, korkbraune Stämme zu Millionen am Fenster vorbeihuschten gleich tanzenden Besenstielen. Wenn er das Fenster öffnete – so oft der Zug auf dem braungelben Sanddamme, an dem teilweise noch gebaut ward, langsamer fahren mußte – dann hörte Friedel trotz der Windstille durch die blaugrünen Kiefernwipfel ein leises, 180 sonderbares Rauschen tönen, das ihn an das geheimnisvolle Sehnsuchtslied der großen Meermuscheln erinnerte, die er daheim so oft von Vaters Schreibtisch genommen und lauschend ans Ohr gehalten hatte.

Die Mutter sagte ihm, das da draußen sei die Lausitzer Heide, und Gottfried erinnerte sich schon manches Schlimme von der gehört zu haben: langweilig sollte sie sein und alle ihre Bewohner traurig machen.

Dem Knaben, den das Ungewohnte fesselte, erschien die Heide anders. Er stellte es sich herrlich vor, stundenlang durch diese rauschenden Wälder zu schweifen, ohne Weg und Steg, ohne Menschen und Hütten, immer weiter und weiter, bald über das hellgrüne Preißelbeerkräuticht und duftende Rosmaringestrüpp, bald über die violetten Erikalichtungen fort, an den blumenarmen, moosreichen Waldwiesen, an glitzernden Seespiegeln und schwarzen Moorbrüchen vorbei – am liebsten fernhin bis zum Horizont des goldig schimmernden Abendhimmels.

Gottfried wurde schweigsamer und schweigsamer, so daß selbst die Mutter, die bisher ihre liebe Not hatte, ihm all seine vielen Fragen zu beantworten, sich wunderte. War es das erwachende Heimweh, das ihn in dieser ungewohnten Gegend plötzlich überkam, oder war es der melancholische Zauber der Heidelandschaft, der ihn sacht zu überschatten begann? Noch war es wohl keines von beiden, es war nur die innerliche Freude, die jedes wirklich eigenartige Naturbild – mag es auf den ersten Blick noch so armselig scheinen – auf ein stimmungempfängliches Menschengemüt ausüben wird.

Plötzlich sah Gottfried eine weite, wiesengrüne Lichtung vor sich aufleuchten, dahinter grüßten ein paar rundliche Lindenkronen – ganz ähnlich wie in Herrenfeld – herüber, nur daß sich aus ihrer Mitte ein anderer, spitzig steifer Kirchturm emporreckte, der recht modern und nüchtern dreinschaute.

181 Ein schriller Pfiff der Lokomotive ertönte, der Dreivierteltaktschlag der Räder ward langsamer und langsamer, und ein roter, viereckiger und häßlicher Bahnhof erschien, auf dessen Ziegelwänden mit großen schwarzen Buchstaben zu lesen stand: Girdein.

Gottfried fuhr wie erschreckt aus seinen Träumen empor, auch die Mutter schien überrascht, da ihr die Gegend ebenfalls unbekannt war. Doch schon hielt der Zug. Die Schaffner rissen die Wagentüren auf und schnauzten herein: »Girdein, aussteigen, Girdein, eine Minute Aufenthalt!«

Gottfried und seine Mutter stiegen aus, gaben ihre Sachen ab und gingen, da keine Droschke zu haben war und der Ort nicht gar weit sein sollte, zu Fuß nach Girdein hinein, dessen hohes Kirchturmkreuz gerade vor ihnen wie zum Willkommgruß in der Abendsonne freundlich funkelte und gleißte.

Sonst war der erste Eindruck der neuen Heimat nicht sonderlich anmutend. An Stelle der zwar holprigen, aber immerhin sauberen Herrenfelder Pflasterstraße sah man hier eine staubige Chaussee; daneben statt des wohlgepflegten granitnen Herrenfelder Bürgersteigs einen schlackenbestreuten, unter jedem Schritt wie Januarschnee knirschenden Fußweg. Auch die Häuser zeigten nicht die vornehme Würde derer von Herrenfeld, die im Schmuck ihrer gebrochenen Giebel, ihrer behaglichen Mansarden und ihrer blauen Schieferdächer meist etwas Herrenhausartiges hatten; während sich die Girdeiner Bauten, soweit sie alt waren, klein und ärmlich, soweit sie neu waren, unschön und kasernenartig ausnahmen. Dazu kam, daß gleich am Eingang von Girdein eine gewaltige Fabrik mit all dem Ruß und Rauch, den Schloten und Essen ihrer an der Straße gelegenen Eisengießerei die Ankömmlinge empfing. Trotzige Arbeiter mit schwarzen, schwieligen Fäusten fluteten emsig um ein mächtiges Hoftor, zu dem gerade ein riesiger Dampfkessel von 182 acht schweren, belgischen Gäulen gezogen, langsam herausschwankte, vom Zuruf seiner Hersteller johlend begrüßt.

Girdein war viel größer als Herrenfeld, das sah Gottfried bald. Schon allein durch die Bahnhofstraße ging man länger als quer durch den ganzen Heimatort. Am Ende dieser nüchternen Geschäftstraße gelangte man auf den sogenannten Platz, und hier endlich sah Girdein lieblicher aus als bisher. Der vierteilige, in der Mitte mit einem gotischen Kriegerdenkmal gezierte Platz war größer als der Herrenfelder, nur machte er trotz seiner mächtigen Raumverhältnisse einen viel kleinstädtischeren Eindruck, weil an seinen vier Ecken vier ländliche Brunnenhäuschen standen und auf den vier Wiesenvierteln allerlei Wäsche zum Bleichen und Trocknen hing. Man schien hier ungenierter und praktischer zu sein als in dem stets ängstlich auf das Decorum bedachten Herrenfeld.

Auch der »Gasthof«, in den jetzt Mutter und Sohn eintraten, zeigte nicht die breitspurige Behaglichkeit des heimatlichen »Gemeinlogis«, sondern eine gewisse raumausnutzende Enge, zu der die ungemütliche Vielgeschäftigkeit der Bediensteten und das berechnende Gesicht des hageren Wirtes nicht übel paßten.

Die ersten Fragen Gottfrieds an das Stubenmädchen, das die Herrschaften ins Zimmer zu geleiten hatte, waren die nach der Knabenanstalt und dem Pädagogium, denn er wußte bereits sehr genau, was es mit diesem Unterschiede auf sich hatte.

Die Anstalt, in der alles sehr militärisch hergehen sollte, ging von Sexta bis Untertertia, und das Pädagogium, in dem mehr die Freiheit auf Grund des bis dahin wachgewordenen Ehrgefühls walten sollte, umfaßte die Klassen von Obertertia bis Oberprima. Gottfried wußte ferner schon, daß man in der Anstalt in Stubengesellschaften, die ungefähr gleichen Alters doch nicht immer gleicher Klasse 183 waren, zusammenwohnte, daß jede Stube unter zwei Lehrern, einem studierten und einem unstudierten Bruder stand, und daß man die letzteren Aufseher nannte.

Das Dienstmädchen zeigte Gottfried bereitwilligst vom Fenster aus einen gelblichen, gewaltigen Quaderbau, dessen Schieferdach ein rundliches Türmchen, wohl eine Sternwarte, zierte, und meinte dazu:

»Das ist das Pädagogium, junger Herr! Die Anstalt ist a wink kleiner und nich so hibsch. Sehen kann man sie aber nich von hier aus, sie liegt hingerm Garten.«

Gottfried nickte verständnisvoll mit dem Haupte und setzte gleichsam ergänzend hinzu:

»Weiß schon – wohl nach den Spielplätzen zu!« Diese Weisheit hatte er nämlich von Bruder Friesen.

Dann setzte er sich nachdenklich ans Fenster und starrte das große gelbe Haus noch lange an, als ob er es durchs bohren wollte.

Am liebsten wäre er sofort hinübergelaufen und hätte dahinter geguckt – in die Anstalt, in seine Anstalt.

 

Am nächsten Morgen weckte Frau Angelika ihren Jungen beizeiten, denn um halb 9 Uhr war bereits die Vorstellung beim Direktor anberaumt.

Gottfried zog seinen violetten Sammetanzug an, zu dem ihm Großmutter noch einen schönen Spitzenkragen geschenkt hatte. Mit geheimem Stolz betrachtete ihn die Mutter, und unwillkürlich fielen ihr die Van Dykschen Kinderbilder ein, die sie als junges Mädchen in Genua gesehen hatte.

Nach dem Frühstück machten sich Mutter und Sohn auf den Weg; immer und immer wieder schärfte die vorsorgliche Vorstehersfrau ihrem Jungen ein, er solle ja recht bescheiden sein und nur sprechen, wenn er gefragt werde.

184 Gottfried versprach es auch, aber es sollte ihm schwer genug fallen. Denn als nun der Direktor erschien und ihn selber gar nichts fragte, die Mutter vielmehr in gewissenhafter Aufrichtigkeit haarklein alle seine Fehler und sogar einige seiner Schandtaten, darunter den Fluchtversuch, erzählte, da mußte er sich ordentlich auf die Zunge beißen und sich mit den Händen an die Stuhlkante anklammern, um nicht aufzuspringen und eine Verteidigungsrede zu beginnen. Aber er hielt an sich und vertiefte sich schließlich in den Anblick seines neuen Gebieters.

Das war freilich ein anderer Mann als der altväterliche, etwas unbeholfene Bruder Thierbach, über den man in Herrenfeld gelegentlich geulkt hatte. Der vor ihm stehende Direktor, Bruder Loskiel, sah nicht gerade zum Anulken aus. Seiner nur mittelgroßen, aber geschmeidigen und sehnigen Gestalt sah man das viele Turnen und Spielen, woran er auch als Direktor noch regen Anteil nehmen sollte, recht wohl an. Aus den ruhigen und doch energischen Zügen, vor allem aus den dunklen Augen, die etwas ungemein Überlegenes, bisweilen auch etwas Durchbohrendes hatten, sprach eine Herrschernatur. Anderseits, wenn er so sinnend dastand und mit der feinen Hand langsam durch den prachtvollen, tiefbraunen Bart strich, lag über seiner ganzen Erscheinung etwas von einem antiken Philosophen. Dazwischen zuckte er plötzlich einmal mit den starken Brauen oder lugte sein Gegenüber blitzenden Auges halb von unten herauf an, als wolle er drohend losfahren, aber schnell glätteten sich seine Mienen wieder. Recht schweigsam schien er gleichfalls zu sein, denn er ließ die heute übereifrige Mutter geduldig reden; nur von Zeit zu Zeit hörte man ein abwägendes »hm so, so«, oder höchstens ein erstauntes »ei, ei«. Endlich aber zog er die Uhr, und als ihn darob die Vorstehersfrau höchst verwundert ansah, meinte er lächelnd:

»Sie werden verzeihen, Schwester Kämpfer, wenn ich 185 Sie jetzt bitten muß, Gottfried und mir Urlaub zu geben, denn um 9 Uhr ist das Eintrittsexamen. Wir müssen also fort. Ich werde Ihnen aber sogleich meine Frau rufen, mit der Sie wohl das Wirtschaftliche abmachen.«

Dann gab er Frau Angelika freundlich die Hand, winkte Gottfried kurz mit der Hand und rief draußen auf dem Flur mit kräftiger Kommandostimme nach seiner Frau.

Gottfried hatte das Gefühl, vor diesem Manne müsse man wohl oder übel Respekt haben, und so schritt er ziemlich demütig hinter ihm drein durch einen lieblichen kleinen Garten, der ihn in dem taufrischen Herbstmorgenglanze seiner letzten zarten Monatsröschen und seiner lustig bunten Georginenpracht festlich anmutete, dem hohen, grauen Anstaltsgebäude zu.

Bruder Loskiel machte gewaltige Schritte, und Gottfried fiel unwillkürlich ein, einmal etwas vom Girdeiner Schritt gehört zu haben. So liefen also die großen Girdeiner Turner und Spieler! Der kleine Herrenfelder kam dabei ordentlich außer Atem. Plötzlich blieb Bruder Loskiel stehen und fragte Gottfried: »Nicht wahr, in die Unterquarta willst du?«

»Jawohl, Herr Direktor!« war die bescheidene Antwort des schon eingeschüchterten Knaben.

»Unsinn – Herr Direktor – Bruder Loskiel hast du mich zu nennen, merk dir das! Im übrigen wirst du dich sehr zusammennehmen müssen, mein Freundchen, denn in Herrenfeld scheint nicht allzuviel geworden zu sein. Na, wir werden sehen!«

Mit diesen Worten war er an der Tür des einen Anstaltflügels angelangt, trat ein und führte Gottfried in ein Schulzimmer des ersten Stockes, woselbst schon acht andere Neulinge des gleichen Schicksals, der Prüfung, warteten.

Das Examen verlief ziemlich schnell, freilich ganz anders als in Herrenfeld.

186 »Hier pfeift's ordentlich!« bemerkte in der Pause einer der Prüflinge, ein junger Reichsgraf namens Greiningen, dem ein wenig schwül zu werden begann. Gottfried bestätigte diese Ansicht aus angsterfüllter Seele. Auch ihm war nichts weniger als wohl zumute. Er gab sich seiner Meinung nach die größtmögliche Mühe, hatte jedoch bis jetzt kein Glück. Ihm ahnte nichts Gutes.

Und in der Tat teilte ihm Bruder Loskiel gegen Mittag mit, daß er nur nach Oberquinta kommen könne, für Quarta sei er durchaus nicht reif. Der kleine Reichsgraf kam sogar nur nach Unterquinta.

Gottfried mußte sich auf die Lippen beißen, um nicht zu weinen, ja zu weinen – nicht aus Rührung, wie ehedem bei Großmutter, oder aus Wut, wie früher so oft in der Schule – sondern zum ersten Male vor Scham, vor brennender Scham über sich selbst. Das Wort der Großmutter – »Mach mir keine Schande« – brannte ihm mit einem Male wie glühend auf der Seele. Und nun hatte er ihr doch welche gemacht, obwohl er wirklich nicht gewollt hatte.

Auch die Mutter war sehr bekümmert über das unerwartete Ergebnis der Prüfung. Frau Angelika war nicht so lehrhaft veranlagt wie ihr Gemahl, aber diesmal meinte sie doch mit ernster Miene: »Laß dirs zur Warnung dienen, mein Junge, für später! Hättest du das letzte Jahr in Herrenfeld nicht soviel Streiche gemacht, hättest du wahrscheinlich hier das halbe Jahr nicht eingebüßt, vorausgesetzt, daß es bei dem halben Jahr bleibt!«

»Ja Mutter, das verspreche ich dir: zu Ostern werde ich ganz bestimmt in die Quarta kommen.«

Das war das einzige, was Gottfried erwidern konnte. Damit war die unangenehme Sache abgetan.

 

187 Am Nachmittage desselben Tages galt es noch einen anderen Besuch zu machen, und zwar bei einer alten Tante Schlumberger, einer unverheirateten Base der Großmutter, kurzweg Tante Laura genannt.

Auch hiervor graute Gottfried nicht minder als eben noch vor dem Examen, denn Großmutter hatte ihm allerlei Wunderbares von Laura Schlumberger erzählt: so ganz geheuer sollte es nicht mit ihr sein, und besonders liebenswürdig sollte sie auch nicht sein. Und nun, nach dem übel abgelaufenen Examen, das konnte gut werden!

Am liebsten hätte Gottfried auf die Tante ganz verzichtet. Frau Angelika hielt jedoch viel auf Pflege der verwandtschaftlichen Beziehungen und wünschte zugleich, daß Gottfried auch in Girdein gelegentlich eine weibliche Hand über sich fühlen sollte, sonst würde er am Ende in der Anstalt ganz und gar verwildern. Daß Tante Laura etwas scharf sein könnte, war in den Augen Frau Angelikas kein Fehler, da sie ihren Jungen und seine selbstbewußte Art zur Genüge kannte.

Punkt 3 Uhr, mit echter Basler Pünktlichkeit erschienen Mutter und Sohn bei Tante Laura, die sie ohne jede Zärtlichkeit, aber mit einem kräftigen Willkommengruß empfing. Im letzten Grunde ihres schon etwas verstaubten Altjungferngemüts schien sie sich doch über den Besuch der Verwandten zu freuen. Von einem jungen, verschüchterten Dienstmädchen unterstützt, das sie mit lauten Kommandorufen anleitete, setzte sie den Gästen Schokolade und Törtchen vor, und zwar in einem wundervollen Empireservice.

Gottfried, der Tante Laura ehrfurchtsvoll und diplomatisch zugleich die Hand geküßt hatte, ward sich selbst überlassen, da die Mutter mit der Tante sehr schnell in ein eifriges Gespräch geriet, das größtenteils in Basler Dütsch geführt wurde und daher Gottfried unverständlich blieb. Nur einmal hörte er etwas von Mul, und da er 188 das für Maul nahm und nicht für Mund, so meinte er sich sehr über Tante Laura wundern zu müssen.

Wunderbar war ihm überhaupt vieles an ihr. Schon die Tracht – alles feinste Seide, aber ein Kleiderschnitt, wie er ihn nur aus dem Familienalbum kannte, und das waren doch alles Verstorbene oder wie man in der Gemeine zu sagen pflegte »Heimgegangene«. Nach Heimgehen sah die Tante sonst nicht gerade aus, obwohl sie noch vier Jahre älter sein sollte als Großmutter. Ansehen konnte man ihr das nicht. Pechrabenschwarzes Haar mit langen Pfropfenzieherlocken schaute unter der blendendweißen, mit dem Rosaband der ledigen Schwestern gezierten Haube hervor; volle, blendendweiße Zähne leuchteten beim Sprechen aus dem scharfgeschnittenen Munde, den nur selten ein Lächeln verschönte. Und dann die Augen, graugrüne, stechend scharfe Augen, die wie ein paar rastlose Geisterchen beständig auf der Suche waren nach einem Ruhepunkt. Hatten sie den endlich gefunden, dann schienen sie sich einbohren zu wollen, so starr sahen sie plötzlich; doch im Nu waren sie wieder auf der Wanderschaft. Nachdem sich Gottfried diese sonderbaren Augen genugsam betrachtet hatte, sah er wie zufällig auf die Hände und mußte beinahe lachen. Die Hände der Tante waren ebenso unruhig wie ihre Augen, sie spazierten ebenfalls fortwährend herum, suchten bald die imaginären Falten glatt zu streichen oder Krümel und Stäubchen wegzuschnippsen oder schließlich die Fransen der Decke langzuziehen und schnurgerade auszurichten.

Jetzt bemerkte die Tante, daß Gottfried ihr aufmerksam zusah, und ward ärgerlich; sie wollte ihn ablenken und sagte zu ihm:

»Horch nit gar so zu, Friedel, schau dir ebbes die Bilder an, da drunten (sie zeigte unter den Schreibtisch) stehen Bilderbücher genug! Guts kannst auch nit arg viel hören; die Mutter hat mir eben erzählt, du seiest sitzen 189 geblieben. Darfst dich schon schämen! So groß und noch in der Quinte herumhocken.«

Gottfried schämte sich auch in der Tat und sah verlegen zu Boden, dann erhob er sich wie ein aufgerufener Delinquent, klappte ebenso schnell wieder taschenmesserartig zusammen und verkroch sich zuletzt demütig bei den Bilderbüchern. So gewaltig wirkten die scharfen Augen und die harte Stimme der Tante auf ihn, aber nur eine Zeitlang.

Sobald die Luft wieder rein, d. h. das Gespräch der zwei Damen wieder im Flusse war, ging Gottfried vorsichtig spähend zu der oberen Hälfte des ihm zugeteilten Tisches über, unter dem die Bücher standen. Da war es wesentlich interessanter.

Vor allem war da eine runde Büchse, die aussah wie ein Kompaß, nur daß eine halbe Nadel darin war und eine ganz andere Grundtafel, auf welcher an Stelle der Windrose allerlei sonderbare Schnörkel und Worte standen. Sobald Gottfried das Kapselchen in die Hand nahm, schnellte der Zeiger auf einen bestimmten Punkt und blieb da stehen; sobald Gottfried die Büchse wieder hinstellte, schnellte die Nadel zurück. Sonderbar!

Da krähte auch schon die scharfe Stimme Tante Lauras herüber: »Komm mal her, Bengel, und bring die Bussole mit.«

Gottfried ging zögernd mit schlechtem Gewissen und zeigte das Experiment. Tante Laura war außer sich vor Erstaunen und meinte schließlich erfreut:

»Junge, wo hast du denn die viele Elektrizität her – da kann ja kein Schlumberger mit – auch ich nit!«

Gottfried machte ein blitzdummes Gesicht, denn er wußte noch nicht, was Elektrizität war; aber er freute sich im stillen über die Anerkennung der bissigen Tante. Bald darauf verabschiedeten sich die beiden Kämpfers; die Mutter mit auffallender, altmodischer Höflichkeit, wie sie scheinbar 190 unter Baslerinnen angebracht war, – Gottfried mit der angenehmen Aussicht, alle drei Wochen hierher zu Schokolade und Törtchen zurückkehren zu dürfen.

Auf dem Heimwege fragte er dann die Mutter, was es mit der Büchse auf sich gehabt habe. Frau Angelika meinte geheimnisvoll lächelnd:

»Na, sei froh, daß du ihr damit wenigstens imponiert hast, sonst wäre es mit den Einladungen nichts gewesen. Trotzdem nimm dich in acht, Friedel! Tante Laura hat so ihre Mucken!«

Gottfried verstand das mit der Büchse zwar immer noch nicht, aber er glaubte bei Tante Laura besser gefahren zu sein als bei Bruder Loskiel. Und doch irrte er sich.

 

Noch eine Nacht verbrachten Mutter und Sohn im Gasthof, dann fuhr die Vorstehersfrau nach Herrenfeld zurück. Auch dieser Abschied verlief ohne Zärtlichkeit. Der Mutter war freilich das Herz nichts weniger als leicht; doch gewann sie es nicht über sich, es den Knaben merken zu lassen und ihm die Eintrittsfreude zu stören.

Gottfried war mit seinen Gedanken schon ganz in der Anstalt, und nur bei dem Gruß an die Großmutter schien ihm ein bißchen wehmütig zumute zu werden.

Kaum war der Zug davongedampft, so trollte Gottfried in fröhlichen Sprüngen spornstreichs zur Anstalt. Diesmal wählte er den Eingang von der Platzseite, um Bruder Loskiel ja nicht zu begegnen, aber schon auf der Treppe stieß er auf den Gefürchteten.

»Nun, deine Mama ist wohl eben abgefahren?«

»Jawohl, Bruder Loskiel, Mutter ist weg. Da kann ich wohl gleich zu den andern«.

»Du scheinst es recht eilig zu haben.«

191 »O ja, ich freue mich riesig.« Bruder Loskiel lächelte behaglich; ihm schien diese Freude zu gefallen.

Mit den Worten: »Na komm, da will ich dich nur schleunigst einführen«, nahm er Friedel fest an der Hand, stieg mit ihm eine Treppe hinauf und hielt vor der ersten Tür.

»Du kommst zunächst auf die vierte Stube, hoffentlich kann ich dich zu Ostern auf die dritte bringen, aber da möchtest du dann auch in die Quarta versetzt sein. Du weißt vielleicht noch nicht, daß hier jede Stubengesellschaft ihre kleinen Sondervorrechte hat, die gerechtfertigt werden sollen durch das Vertrauen, das wir zur ganzen Stube wie zum einzelnen haben können. Wird dieses Vertrauen auch nur von einem getäuscht, so muß die ganze Gesellschaft darunter leiden. Das schreib dir hinter die Ohren, mein Junge. Du kannst hier ein neues Leben anfangen, Gottfried! Niemand weiß hier etwas von deiner nicht sonderlich rühmlichen Vergangenheit außer mir – und ich schweige viel zu gern, wenn du ein anderer werden willst. Und nun komm.«

Damit trat er in ein weites, etwas kahles Zimmer, in dem nur wenige Knaben schwatzend und scherzend ihr zweites Frühstück verzehrten. Beim Eintritt des Direktors grüßten sie alle ehrerbietig und zugleich zutraulich. Ein hoch aufgeschossener Knabe trat vor und meldete: »Bruder Robinson ist gerade auf die Lehrerstube gegangen, er wollte sich umziehen, weil wir dann spielen gehen.«

Gottfrieds Mienen leuchteten bei den letzten Worten. Bruder Loskiel, der das Lächeln bemerkte, erklärte ihm darauf hin:

»Bis morgen abend dauern nämlich noch die Michaelisferien, und in den Ferien gehen wir meist vormittags spielen und nachmittags spazieren. Übrigens sind noch viele verreist.«

Dann wandte sich Bruder Loskiel an die Stubengesellschaft und sagte freundlich:

192 »Hier bringe ich euch einen neuen Kameraden, Gottfried Kämpfer aus Herrenfeld, der euch draußen auf dem Spiel- und Turnplatz sicherlich keine Schande machen wird. (Bei diesen Worten sah Gottfried dankbar zu ihm auf.) Aber auch in der Arbeitzeit und in der Klasse wird unser neuer junger Freund hoffentlich recht wacker seinen Mann stellen. (Gottfried senkte bestätigend sein Haupt.) So, nun gebt ihm die Hand. Und wenn Bruder Robinson heraufkommt, Gottfried, dann wirst du dich ihm selber vorstellen, denn ich habe heute wenig Zeit und kann nicht warten. Guten Morgen, Jungens!«

Unter begeistertem Gegengruß verließ Bruder Loskiel die Stube; am lautesten grüßte jetzt Gottfried, dessen ganzes Herz plötzlich von dem neuen Direktor erfüllt war. Das war wirklich ein anderer Mann als Bruder Thierbach.

Als der Begrüßungshandschlag erledigt war, begannen einige der neuen Kameraden Gottfried zu examinieren. Die erste für Girdein sehr bezeichnende Frage war:

»Wieviel Klimmzüge bringst du denn?«

»Neun!« war die prompte Antwort.

»Oho,« riefen einige, »das ist nicht wahr, du schwindelst.«

»Soll ichs zeigen?«

»Ha, hier kannst du gut aufschneiden, hier ist doch kein Reck.«

»Ist doch gar nicht nötig. In Herrenfeld haben wir uns einfach an den Schranktüren gezogen. Also los! Hier sind doch genug Schränke!«

»Donnerwetter, ihr seid aber Kerle! Das haben wir noch nie probiert.«

Unterdessen hatte der resolute Gottfried die Tür eines der Wandschränke aufgerissen, und mit den Worten: »Aber mit Aufgriff gehts halt schwerer und da werd ichs nur achtmal bringen«, klomm er wacker empor.

Staunend stand die Schar der Vierten, als Gottfried nun zum fünften Male sich hinaufwand, sogar noch ohne 193 mit den Beinen zu strampeln. Da plötzlich, beim sechsten Male, gab es einen ächzenden Ton, die Türangeln hatten nachgegeben, und mit Gepolter stürzte die Tür zur Seite, Gottfried war gerade noch zur rechten Zeit abgesprungen.

Allgemeine Aufregung entstand, besonders der Lange, der Bruder Loskiel vorhin gemeldet hatte, war ganz außer sich, als träfe ihn persönlich die Schuld. Es war, wie Gottfried nun erfuhr, der Senior, d. h. der verantwortliche Schüler, der in Abwesenheit des Lehrers eine Art Respektperson für die Stubengesellschaft war und bei allen Stubenangelegenheiten den Lehrern gegenüber den berufenen Sprecher abzugeben hatte. Dieser Senior war ein sogenanntes Missionskind, hieß Rodbeck mit Familiennamen und mit Spitznamen Schnarchawusch oder Schniefke, weil er infolge eines Nasenfehlers nachts schnarchte und am Tage schniefte.

Fritz Rodbeck suchte zunächst die Tür wieder einzurammen, doch vergeblich, die obere Angel war völlig verbogen. Während man noch ratschlagte, was zu tun sei, tat sich plötzlich die Tür auf, und der Lehrer, Bruder Robinson, trat herein.

Bruder Robinson war Supernumerar, d. h. ein älterer Lehrer, der für gewöhnlich keine Aufsicht hielt, auch nicht mit den andern Kollegen auf einer der zwei Lehrerstuben wohnte, sondern für sich allein hauste. Dem Range nach kam er hinter dem unverheirateten Mitdirektor, an Ansehen nahm er freilich eine weit geringere Stelle ein, und das nicht ohne Grund. Obwohl Bruder Robinson ein überaus gelehrter Herr war, oder vielleicht weil er es war, wußte er sich nämlich bei den Zöglingen nur wenig in Respekt zu setzen. Man hatte Crusoe, so war sein Kriegsname, ganz gern, aber man trieb bei ihm mit Vorliebe das Kalb aus. Und Bruder Robinson, der zu all seinem Ungeschick auch noch kurzsichtig war, hatte nicht immer 194 Humor genug, um gute Miene zum bösen Spiel zu machen, er fühlte sich daher den Knaben gegenüber unsicher und unbehaglich. Glücklich fühlte er sich überhaupt nur in seinem Wigwam, – so hieß seine Stube – in der er beständig die Friedenspfeife rauchen sollte, wie der Schulwitz meinte.

In den kürzeren Ferien pflegte der Supernumerar für verreiste Kollegen Aufsichtdienste zu tun, und so war Crusoe für Bruder Heinrich Lechner, der zum Unterschied von dem angeblich sanfteren Bruder Heinrich Grunert, der wilde Heinrich hieß, auf die vierte Stube geraten.

Im Gegensatz zu den Zweiten und Dritten galten die Vierten für eine gutgeartete und darum leicht zu behandelnde Gesellschaft, und Bruder Loskiel hatte nicht ohne guten Grund Gottfried Kämpfer zunächst in eine gesunde Umgebung bringen wollen. An Bruder Robinson hatte der Direktor sicherlich nicht gedacht. Und es war eine Art von Verhängnis, daß dieser zum Erzieher wenig geeignete Mann die erste Lehrerpersönlichkeit Girdeins war, die mit Gottfried in Berührung trat.

Als nämlich Bruder Robinson die losgebrochene Schranktür an die Wand gelehnt sah, wurde er sofort heftig. Das wirkte leider auf die Knaben stets erheiternd, zumal er die Angewohnheit mancher verlegener Stubengelehrten besaß, seine Worte sehr oft durch Räuspern zu unterbrechen. Jemehr er sich ärgerte, um so heftiger und ruckweiser ward dieses Räuspern, so auch jetzt wieder:

»Welcher Vandale, hm, hat denn das, hm, wieder verbrochen, hm! Nicht fünf Minuten, hm, kann man euch – hm, euch Rangen, hm, allein lassen. Rodbeck, hm, Rodbeck, ich – hm – ich wills wissen, hm, wissen will ichs!«

Der immer korrekte Schniefke trat zaghaft vor und sagte leise: »Bitte, Bruder Robinson, das ist aus Versehen passiert. Wir hatten den Neuen gebeten« –

»Welchen, hm, welchen Neuen?«

195 »Hier den da – Bruder Loskiel hat ihn eben eingeführt.«

Gottfried verbeugte sich und wollte Bruder Robinson die Hand geben. Vergebens, sie ward nicht genommen, ob aus Ärger oder Kurzsichtigkeit, war nicht zu erkennen. Gottfried ward darüber rot und wollte zurücktreten.

Da faßte ihn jedoch Bruder Robinson vorn an der Jacke und zog ihn zu sich heran mit den Worten: »Also, hm, du bist der Anstifter – hm – na, du fängst ja gut an!«

Unwillkürlich griff nun Gottfried nach der ihn genierenden Hand des Lehrers, bescheiden sagte er jedoch: »Bitte, ich konnte nichts dafür!«

Bruder Robinson faßte noch fester zu und meinte: »Oho, mein Bürschchen, – hm – wie, hm – wie heißt du eigentlich?«

»Ich heiße Gottfried Kämpfer – aber bitte, lassen Sie mich jetzt los, ich, ich laß mich nicht angreifen.«

Bruder Robinson ward dunkelrot vor Ärger, er meckerte nur: »Hm – so ne Unverschämtheit! Hm, diese Frechheit sondergleichen!«

Dann aber ließ er Gottfried los, wies ihn zum Tisch und sagte barsch: »Du bist am Platz!«

Gottfried wußte nicht, wie ihm geschah. Er hatte in Herrenfeld einmal gehört, daß es in Girdein fünf Arten von Strafen gebe, nämlich 1. Stille sein, 2. Stille mit Strafarbeit, 3. Am Platz (d. h. 24 Stunden Stille mit großer Strafarbeit), 4. Im Winkel (dieselbe Strafe mit der ehrenrührigen Verschärfung, in jeder freien Zeit im Winkel stehen zu müssen), endlich 5. Ausgeschlossen (d. h. Einschließung bei Wasser und Brot.) Die letzten beiden Strafen kamen jedoch nur ganz selten in Anwendung. Schon »Am Platz« galt für eine schwere Strafe, und nun sollte Gottfried seinen Girdeiner Aufenthalt mit einer solchen Blamage beginnen!

196 Eine Menge verschiedener Gedanken schoß ihm wirbelnd durch den Kopf. War es nicht eine schreiende Ungerechtigkeit? Sollte er sich das gefallen lassen? Lohnte es sich da überhaupt erst nach Girdein zu kommen? Wenn das Bruder Loskiel erführe! Wenn er es gar Vater schreiben würde – und dann – ah – Großmutter – wie sie über ihn weinen würde! Mach mir keine Schande, Gottfried – er hörte es plötzlich ganz leise – nein, das wollte er nicht – nein – nur das nicht – also sich fügen – gut! Gottfried bezwang sich in der Tat und fragte so bescheiden, wie es für seine trotzige Natur nur irgend möglich war: »Wohin soll ich mich denn setzen, ich habe doch noch keinen Platz?«

Bruder Robinson, der sich noch längst nicht beruhigt hatte, witterte in dieser Antwort sofort eine zweite Frechheit. Der Neue schien noch Witze über seine Strafe machen zu wollen. Das Fernliegende erspähte sein überbildeter Verstand, an das Nächstliegende dachte er nicht. Vielleicht war er selbst verwirrt, jedenfalls fiel ihm nicht ein, daß er dem neuen Schüler die Strafe und ihre Folgen erklären müßte; vielmehr herrschte er Gottfried an: »Schweig – hm – eben wenn du glaubst, hm, mich anulken zu können, hm – du – du, hm – dann fliegst du noch in den Winkel – hm, hm – das fehlte gerade noch!«

Das war zuviel für Gottfrieds stolze Natur, nun konnte er nicht mehr an sich halten, und wie ein Strom brach es aus seiner gepreßten Seele:

»Bruder, Bruder – ich weiß gar nicht mal, wie Sie heißen – guten Tag wollten Sie mir auch nicht sagen – und ich habe nichts Böses getan, und nun wollen Sie mich in den Winkel schicken, was man in Herrenfeld nur mit Lügnern tut. Und ich habe mich so auf Girdein gefreut!«

Heiße Tränen stiegen plötzlich bei Gottfried auf, er mußte die Fäuste ballen, um nicht laut aufzuschreien.

197 Bruder Robinson war zunächst verblüfft. Er war einmal zu klug, um nicht die Wahrheit aus der aufbegehrenden Kritik Gottfrieds hervorklingen zu hören, anderseits zu gutmütig, um nicht Mitleid für seinen tapferen, kleinen Gegner zu empfinden. Aber wieder ging der Theoretiker mit ihm durch, sobald er überlegte. Er war kein geborener Erzieher, der gleich dem schöpferischen Künstler für jede besondere Individualität ein besonders geeignetes Mittel anwenden kann, er war nur ein armselig hülfloser Schulpädagog, der sich furchtsam an die Schablone klammert, weil ihm stets um seine persönliche Autorität bange ist.

Bruder Robinson empfand zwar seine erste Bestrafung deutlich als einen Mißgriff, anstatt ihn aber gutzumachen durch eine mutige Annullierung, griff er zum zweiten Male fehl und verfügte kurz entschlossen die nächst höhere Strafe. Mit den Worten: »Hm, du bist ja ein, hm, ganz, hm, ausverschämter Patron – marsch in den Winkel mit dir«, packte er Gottfried am Kragen und wollte ihn persönlich an seinen Bestimmungsort befördern.

Im Nu aber hatte sich Gottfried losgerissen, griff in heller Wut zum nächsten Stuhl, den er entschlossen zur Wehr vor sich hielt, und rief dem völlig verdutzten Lehrer zu:

»Ich sags Ihnen noch mal, ich laß mich nicht anrühren – von niemand – außer von meinem Vater und vielleicht« – er stockte – Großmutter wollte er sagen und konnte es nicht – wollte es nicht, vor diesen fremden Knaben, vor diesem Lehrer, der ihn so beleidigt hatte. Aber weiter – was wollte er denn eben tun? wollte er sich nicht an einem Lehrer vergreifen? – Pfui, das nennst du Wort halten? lispelte ihm plötzlich Großmütterchen ins Ohr. Noch war es Zeit einzulenken, und krach – setzte er den halb erhobenen Stuhl wieder hin und sagte, bebend vor Selbstüberwindung: »Ich werde in den Winkel gehen, da Sie es befehlen, aber ich will allein gehen.«

198 Und er ging und legte die Hände auf den Rücken, wie er es einmal bei einem Herrenfelder Winkelsträfling gesehen hatte. Es war auch besser so, sonst hätte er sich doch eine Träne der Scham aus dem Auge gewischt.

Bruder Robinson war innerlich froh, daß sein Gegner nachgab; ihm war schon wieder recht unbehaglich geworden. Diese unangenehme Ferienaufsicht! Es wäre ja beinahe coram publico zu einer Prügelszene gekommen, und das wäre eine Schande für die ganze Girdeiner Anstalt geworden.

In der Stube war es still geworden – auch die Knaben hatten selten etwas Ähnliches erlebt.

Der Senior trat endlich schüchtern hervor und fragte: »Wollen Sie nun mit uns spielen gehen, Bruder Robinson?«

»Nein, hm, wir werden jetzt, hm, nicht spielen, hm. Es wird weiter, hm, stille Freizeit sein, hm. Setzt euch nur wieder an die Plätze, hm, stille Freizeit! – Hm – vorwärts – hm – ach so erst Kommando geben – hm, also! Hm. Zurechtmachen! Zeit!

Kopfschüttelnd gehorchten die Knaben, aber sie verstanden diesen Lehrer nicht. Manch einer dachte: So etwas wäre bei Bruder Lechner nie passiert!

Nach einer halben Stunde, während der die Tür von dem herbeigeholten Nachtwächter und Anstaltsfaktotum wieder eingehängt worden war, hatte endlich auch Bruder Robinson das Gleichgewicht seiner Seele wiedergefunden, und die Vierten gingen doch noch spielen. Gottfried mußte auch mitgehen, aber als Sträfling – immer zwei Schritt vor Bruder Robinson her, den ganzen Weg über – durch die Anstaltgärten, durch die mächtige Buchenlaube hindurch, die dichten Hecken entlang. Und endlich beim Spielplatz – da kam das Schwerste!

Während die Kameraden einen lustigen »Ballon« spielten, auf den sich Gottfried ganz besonders gefreut hatte, weil dieses 199 Spiel in Herrenfeld nur selten und schlecht gespielt wurde, – mußte er an der Seite des Spielplatzes, mit den Händen auf dem Rücken, auf und ab marschieren. Und ging er einmal langsamer, um eine besonders aufregende Szene des Spiels genauer verfolgen zu können, so rief ihm Bruder Robinson unerbittlich zu: »Vorwärts Kämpfer, hm, schneller gehen, hm, das Spiel geht dich gar nichts an.«

Oh war das eine Qual! Am liebsten wäre Gottfried in den nahen Birkenbusch und dann weiter über die Heide zu den fernen, endlosen Kiefernwäldern davongelaufen, weit, weit fort von diesem entsetzlichen Girdein, das ihn so bitter enttäuscht hatte. Oder sollte er sich drüben in den qualmenden Kalkofen stürzen? Aber wie unbemerkt hinaufkommen? Endlich erscholl das erlösende Kommando Bruder Robinsons »Zeit«, und man ging nach Hause.

Dort hieß es wieder im Winkel stehen, bis es zum Essen ging. Nur mit Anstrengung gewann es Gottfried über sich, ein paar Löffel Suppe und ein paar Bissen Fleisch hinunterzuwürgen.

Als er nach Tische abermals in seinem Winkel stand, kam ein Vierter, namens Zehwen, aus den Ferien zurück, sah ihn stehen und brüllte so laut wie möglich: »Was steht denn da fürn Prinz im Winkel?«

Schallendes Gelächter folgte, nur Schniefke trat auf den Neuangekommenen zu und sagte verweisend: »Zehwen, du weißt wohl nicht, daß es verboten ist über einen zu sprechen, der in Strafe ist.«

Gottfried nahm sich heimlich vor, dem Senior später für dieses Wort zu danken.

Zehwen, der Thersites der Stube, gab nicht nach und meinte: »Ach, Unsinn, noch sind Ferien; will auch bloß wissen, wer die violette Sammetpuppe da ist. Scheint doch ein rechtes Milchsüppchen zu sein.«

»Schäm dich, Zehwen«, warfen nun auch andere ein. 200 »Der Neue kann sich doch jetzt nicht wehren – aber wart nur, der ist ein ganz strammer Kerl – der kann mehr als du, der kann neun Klimmzüge.«

»Das prinzliche Muttersöhnchen neun Klimmzüge, na, das macht ihr mir nicht weiß!«

Gottfried kochte vor Wut.

»Na bitte. Deswegen ist er doch in den Winkel geflogen, bei Crusoe natürlich!«

»Wegen Klimmzügen?«

»Ja, hier an der Schranktüre zog er sich, und die hat er dabei losgerissen.«

»Wird ja immer schöner, der Sammetprinz da soll ne Schranktüre ausreißen? – Kinder – daß ich nicht lach!«

Jetzt hielt es Gottfried nicht mehr aus. Mit drei Sprüngen war er aus seinem Winkel hervor, stellte sich drohend vor den verdutzten Zehwen und donnerte ihn an: »Den Anzug hat mir meine Großmutter geschenkt, und wenn du mich noch einmal Prinz schimpfst, so« –

»Was willst du denn? Du bist doch im Winkel. Du darfst doch gar nicht sprechen.«

»Das ist mir ganz wurscht – du darfst auch nicht von mir sprechen und tust es doch, weil du denkst, ich muß es mir gefallen lassen. Aber ich laß es mir gar nicht gefallen – hörst du! – Noch ein Wort, und du sollst sehen, ob ich ein Muttersöhnchen bin – du – du lumpig feiger Kerl!«

Jetzt legte sich der Senior ins Mittel und machte Gottfried klar, daß er sich nur noch mehr ins Unglück bringen würde, wenn er seine Strafe nicht ordentlich abbüße, denn er dürfe weder sprechen noch den Winkel verlassen. Zehwen dagegen bedeutete er, wenn er noch ein Wort über den Neuen sagen würde, so würde er ihn zur Meldung bringen, denn das wäre allerdings lumpig, einen zu necken, der sich nicht wehren dürfe.

201 Als auch die übrigen Gottfrieds Partei nahmen, ließ sich Zehwen einschüchtern, und Gottfried trat seinen Rückzug in den Winkel mit erleichtertem Herzen an.

Kaum war er dort wieder angelangt, als Bruder Loskiel ins Zimmer trat. Er traute anfangs seinen Augen nicht, als er Gottfried im Winkel stehen sah. Sofort tauchte freilich in ihm die Ahnung auf, daß Bruder Robinson wieder einmal einen seiner pädagogischen Schwabenstreiche vollbracht habe. Er beschloß daher augenblicklich die Sache zu untersuchen, aber natürlich, ohne daß die Knaben etwas davon merken sollten. Sonst wäre der geringe Respekt Robinsons noch völlig untergraben worden. Und so rief er nur kurz den Senior heran und befahl ihm, mit Gottfried Kämpfer zum Auspacken in die Kleiderstube zu Schwester Loskiel (er sprach dienstlich nie anders von seiner Frau) zu gehen und mit ihm dann einzuräumen.

Als Rodbeck verwundert fragte: »Sollen wir auch einräumen, so lange der Neue noch im Winkel ist«, antwortete Bruder Loskiel nur kurz: »Ich werde gleich mal mit Bruder Robinson reden, ich hoffe, er wird es auf meine Bitte trotzdem erlauben. Kämpfer soll ihn jedenfalls noch persönlich um Erlaubnis bitten. Guten Tag!«

Was Bruder Robinson und Bruder Loskiel dann unter vier Augen gesprochen haben, ist nie bekannt geworden.

Bald darauf kam jedoch Bruder Robinson etwas verlegen wieder auf die Stube, ließ sich Gottfried Kämpfer vom Auspacken herüberrufen und sagte unter besonders heftigem Räuspern:

»Kämpfer, hm, ich nehme an – hm – daß du – hm, nun dein Unrecht, hm – einsiehst. Du bist noch neu – in den Verhältnissen – darum will ich – hm, dir deine Strafe – noch einmal erlassen – hm, verstehst du, also hm – erlassen – also – hm, du bist wieder frei!«

Gottfried bedankte sich kurz und wollte zur Kleiderstube 202 zurückkehren. Plötzlich drehte er wieder um, ging nochmals zu Bruder Robinson und fragte: »Bitte, wird diese Strafe an meine Eltern gemeldet werden?«

»Nein, hm, dieses erste Mal, hm, nein, es sind – hier noch Ferien – hm, und die Strafe ist erlassen.«

Noch einmal dankte Gottfried, und jetzt kam der Dank aus warmem Herzen. Darauf gab ihm Bruder Robinson – was er selten tat – die Hand, und der Friede war geschlossen.

 

Kurz vor dem Abendessen kehrte Bruder Lechner, der wilde Heinrich, von seiner Ferienreise zurück und übernahm das Regiment über seine vierte Stube.

Das war ein sehr anderer Mann als Bruder Robinson. Er erzählte lustige Geschichten von seiner Reise, die er ganz zu Fuß gemacht hatte; er zeigte den Knaben, wie man Papierschiffchen faltete, verbesserte selbst ihre Säge- und Schnitzarbeiten, tauschte mit ihnen Marken, ja boxte sich sogar mit Zehwen, als dieser mit seinen Kräften allzusehr prahlte.

Den Vorstehersohn begrüßte Bruder Lechner wie einen alten Bekannten und erzählte ihm, daß er als Gast bei dessen Onkel Karl Eugen vor Jahren, gelegentlich einer Studentenreise, ein paar fröhliche Tage verlebt habe.

Nach dem Essen war es sogar erlaubt, zehn Minuten zu balgen, weil noch Ferien seien, und Bruder Lechner beteiligte sich lustig dabei. Gottfried bekam als Neuling zur Einweihung die übliche »Stubenkloppe,« die er stoisch lächelnd hinnahm, da nichts Ehrenrühriges dabei war, wie etwa bei der Herrenfelder Klassenkloppe. Ein besonderer Hochgenuß war es für ihn, daß nach ihm noch Zehwen gekloppt wurde, weil er nach Bruder Lechners Meinung gar zu unanständig fest zugehauen hatte.

203 Alles das störte die Gemütlichkeit keineswegs, nur als Zehwen Gottfried plötzlich wieder Prinz nannte, da mußte Bruder Lechner beschwichtigend eingreifen. Wie staunte Gottfried, als sein neuer Lehrer zu ihm sagte:

»Hauen dürft ihr euch schon mal, aber nicht hassen, verstehst du! Und über einen Spitznamen darf man sich überhaupt nicht ärgern, Gottfried! Das muß sich jeder, auch unsereins, gefallen lassen. Also nur ruhig eine gute Miene zu solchen Späßen machen. Prinz ist überdies ein Ehrenname. Löwenstein ist doch sogar einer.«

Das leuchtete Gottfried Kämpfer ein. Trotzdem beschloß er bei sich, nach Hause zu schreiben, daß er den violetten Sammetanzug nicht mehr anziehen wolle.

Anstatt stille Freizeit zu halten, las Bruder Lechner später das Märchen vom großen und kleinen Klaus vor, so daß der Abend rasch genug verging. Um halb neun Uhr hielt Bruder Lechner einen kurzen Abendsegen, indem er mit seiner kräftigen Tenorstimme »Jesu geh voran« anstimmte. Begeistert fielen die frischen Knabenstimmen ein, auch der Herrenfelder Vorstehersohn sang aus vollem, freudig überquellendem Herzen mit und wünschte dem schon jetzt verehrten Bruder Lechner mit leuchtenden Augen gute Nacht. Dann ging es in langer Reihe, zu zwei und zwei, eine gewundene Treppe hinauf zum Schlafsaal.

Gottfried ging mit Schniefke vornweg, da er vorläufig der zweitälteste war. Vor der Tür des Schlafsaals konnte er sich nicht enthalten Rodbeck zuzuflüstern: »Du, Bruder Lechner ist doch ein famoser Kerl.«

Schniefke sah ihn nur bedeutungsvoll an und legte einen Finger auf den Mund, zum Zeichen, daß das Sprechen nun verboten sei, und doch nickte er dann verstohlen. Gottfried folgte und schwieg; denn er hatte vor dem Senior seit heute Nachmittag eine stille Achtung.

Auf dem Schlafsaal war überraschenderweise Bruder 204 Loskiel anwesend, der anscheinend überall zum Rechten sah. Er hatte einige Rekonvaleszenten zur Krankenstube zu schicken und wollte an diesem letzten Ferienabend auch die übliche Schlafsaalwache selbst übernehmen, obwohl Bruder Lechner das nicht dulden mochte. Gottfried hörte wenigstens im Vorbeigehen die Worte: »Nein, bitte, lieber Bruder – laß mich nur, ihr Stubenlehrer habt so viel Dienst, ich gönne euch eure Ferien bis zum letzten Tage. Also bitte laß mich nur. Nach halb zehn Uhr komme ich dann noch etwas auf eure Lehrerstube zum Schwatzen.«

Was für ein lieber Mensch ist doch Bruder Loskiel, das hätte ich nicht erwartet, dachte Gottfried bei sich, während er sich langsam auszog. Plötzlich bemerkte er, daß die meisten seiner Kameraden vor ihren Betten niederknieten, ehe sie sich auszogen. Da er schon halb entkleidet war, griff er schleunigst nach dem Schlafrock und wollte ebenfalls seine Andacht kniend verrichten.

Bruder Loskiel sah es, trat heran und sagte leise: »Gottfried, wenn du nichts auf dem Herzen hast, dann laß lieber das Beten. Unser Gebet darf nie zur leeren Form werden. Willst du wirklich beten, so kannst du es ebenso gut im Bette tun. Und noch eins! Du darfst ganz ruhig darüber sein, daß von deiner heutigen Bestrafung, die dir wieder dein böser Trotz zugezogen hat, nichts nach Hause berichtet wird, wenn du mir versprichst, dich von nun an selbst zu zähmen. Willst du das?«

»Ja, Bruder Loskiel, ganz gewiß. Meine heutige Schlechtigkeit tut mir tüchtig leid. Bitte, verzeihen Sie mir.«

»Mich hast du nicht eigentlich betrübt, aber deine lieben Eltern und deinen Heiland, und in deren Namen will ich dir verzeihen. Aber bitte, nun hüte dich ernstlich. Deinen jetzigen Lehrern darfst du volles Vertrauen schenken. Sollte trotzdem einmal etwas vorkommen, was du nicht gleich verstehen kannst, so gehorche erst und folge nicht deinem 205 Trotz. Nachher darfst du auch jederzeit zu mir kommen und mir dein Herz ausschütten. Hörst du, jederzeit! Und willst du das?«

»Ja, gern, Bruder Loskiel. Ich danke Ihnen recht, recht sehr!«

»Laß nur. Ich stehe für euch alle hier an Vaters Stelle. Nun aber gute Nacht – schlaf das erste Mal bei uns recht gut.«

»Gute Nacht, Bruder Loskiel!«

Gottfried legte sich still in sein Bett und dachte noch einmal lange, lange über all seine heutigen Erlebnisse nach, während seine Blicke die schmalen Schatten verfolgten, die von der im Saale hängenden, grünen Nachtlaterne aus über die schimmernde Decke tanzten. Endlich fand er doch die nötige Fassung zu einem Gebet, und so sprach er still vor sich hin:

»Lieber Heiland! Verzeih mir bitte meinen schrecklich bösen Trotz und hilf mir, daß ich dem lieben Großmuttel keine Schande mache. Ich danke dir, daß du mir Bruder Loskiel und Bruder Lechner geschickt hast, und mache doch, bitte, daß ich auch mal später so ein Mann werde wie diese Brüder oder doch so brav wie Rodbeck. Amen.«

Dann schlief Gottfried wie ein Gerechter bis zum Morgen. 206

 


 

Zweites Kapitel

Stubenkönig

Am folgenden Tage ward die vierte Stube allmählich vollzählig. Mehrere Alte kamen aus den Ferien zurück, und einige Neue, denen gegenüber Gottfried nun schon stolz den Alten spielen konnte, traten noch ein.

Mit Bruder Lechner ward jetzt manch freier Nachmittag verbracht. Nun erst begriff Gottfried, warum man ihn den wilden Heinrich getauft hatte. Daß Bruder Lechner persönlich stets mitspielte, war nichts Ungewöhnliches für einen Girdeiner Lehrer; aber wie er spielte, das war außerordentlich. Rodbeck, ein gewiß zuverlässiger Berichterstatter, erzählte: Er laufe von allen Lehrern am besten, selbst im Pädagogium könne kein Lehrer, ja sogar kein Primaner schneller laufen. Bei der großen Festfahnenbarre am Geburtstag des Pädagogiumdirektors habe Bruder Lechner einmal mitgespielt und sei zuerst gewählt worden. Beim »Ballon« mache er stets den Königslauf, und wenn er den Ball schlage, so komme es oft vor, daß man 5 Minuten danach suchen müsse, weil er weit über den Spielplatz weggeflogen wäre.

207 Sehr gern ging man mit Bruder Lechner spazieren, denn das war eigentlich noch interessanter. Da übte man Girdeiner Schritt, d. h. man griff mächtig aus, vor allem außerhalb des Weichbildes von Girdein. Die Chaussee mochte Bruder Lechner gar nicht, sondern schweifte am liebsten mit seinen Jungens, die ihn vielfach im Dauerlauf umschwärmten, durch den dichten Föhrenwald, oder querfeldein über die weite Heide. Dann setzte er gern in mächtigem Sprung über moorige Gräben, oder ging das nicht an, so baute er wohl selbst eine Notbrücke und trug den Ängstlichsten persönlich hinüber.

Eine besondere Vorliebe hatte er für die Romantik der germanischen Vorzeit. So hatte er allmählich die ganze Umgegend getauft. Da gab es einen Baldurhain, einen Mitgartschlangenpfuhl, eine Lokihöhle, einen Donarhügel usw. Auf diese Weise machte er die landschaftlich eintönige Umgegend den Knaben interessant. Namentlich suchte er auf ihre Phantasie zu wirken und zugleich damit ihr Auge für die Natur und deren reiches Leben zu schärfen. Wenn es neblig war, so hatte laut Bruder Lechners Bescheid Odhin seinen Mantel um Mitgart geschlagen, oder die finstere Hel hatte aus Niflheim Nebelboten zu den Asen entsandt. Wenn es an schwülen Herbstabenden am Horizont wetterleuchtete, dann kämpfte fern der rotblonde Donar mit den trutzigen Frostriesen, den Tursen.

Gottfried ging allmählich eine ganz neue Welt an Bruder Lechners Seite auf, denn stets wußte dieser zu lehren, ohne daß man es eigentlich merkte; vor allem kannte er Tiere, Pflanzen und Steine aufs genaueste und ordnete und ergänzte die Sammlungen seiner Pflegebefohlenen beständig. Sobald er merkte, daß Gottfried zunächst vieles unklar blieb, nahm er ihn mit in die Anstaltbücherei und suchte ihm erst ein Buch über die alten Germanen heraus, dann ein zweites, betitelt »Der kleine Sammler« und so fort. Es 208 waren die ersten Bücher, die Gottfried gern und mit Eifer las, denn in Herrenfeld hatte er fast nur auf Kommando gelesen. Jetzt ging er oft mit Bruder Lechner Sonnabends in die Bücherei, um neue Schätze zu heben.

Der Lektüre der Knaben ward überhaupt in den Girdeiner Anstalten besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Aufregende, romanhafte Bücher, wie z. B. der Lederstrumpf, waren zwar nicht geradezu verboten, wurden aber höchstens in den Ferien aus der Bibliothek geliehen. In der Schulzeit ward jedenfalls darauf gehalten, daß die Schüler bildende Bücher zu lesen bekamen. Die Zeit dafür war in den »stillen Freizeiten« der freien Nachmittage und Sonntage geboten. Guten Schülern ward auch gern in der Abendarbeitzeit dazu Erlaubnis ereilt. An den Sonnabend- und Sonntagabenden, an denen keine Arbeitzeit abgehalten wurde, lasen dann die studierten Lehrer, falls sie Aufsichtdienst hatten, fast regelmäßig, die Aufseher gelegentlich unterhaltende Bücher vor, während die Zuhörer schnitzten, zeichneten oder sich Bilder ansahen. Auch bei Tische wurde wochentags von den »Ersten« laut gelesen, und zwar Biographien, Reisebeschreibungen oder anschauliche historische Schilderungen. Auf diese Weise wurde in den Anstalten manchem Schüler ganz unmerklich und frühzeitig ein guter, literarischer Geschmack anerzogen, der ihm später half, sich einigermaßen selbständig durch das Chaos der modernen Literaturen hindurch zu finden und sich trotz der Modetorheiten den Sinn für das Schlicht-Gesunde zu erhalten.

Neben Bruder Lechner, dem Theologen, stand als anderer Stubenlehrer Gottfrieds, Bruder Schmiedecke, der Aufseher.

Im großen und ganzen hatten die Aufseher, unter denen bisweilen neben gebildeteren Seminar- und Mittelschullehrern auch ziemlich ungebildete Missionsschüler, d. h. Missionaraspiranten, waren, einen schwereren Stand bei den Knaben als die studierten Lehrer, die fast ausschließlich Theologen 209 der Brüdergemeine waren. Alle 24 Stunden wechselten Studierte und Unstudierte, die auf zwei getrennten Lehrerstuben wohnten, im Aufsichtsdienst.

Bruder Schmiedecke, kein eigentlicher Aufseher, sondern ein seminaristisch gebildeter Lehrer, war ebenso wie sein Kollege ein tüchtiger Erzieher, nur bei den Knaben, die seine Strenge fürchteten, nicht ebenso beliebt wie der humor- und temperamentvollere Bruder Lechner. Gottfried, dem Strenge nichts Ungewohntes war, verehrte jedoch auch Bruder Schmiedecke, da er sehr schnell merkte, daß dieser jederzeit gerecht zu sein suchte wie Bruder Lechner und Bruder Loskiel, und Gerechtigkeit ist ja stets das erste, was ein Schüler von seinem Lehrer verlangt. Ein ganz besonderer Vorzug Bruder Schmiedeckes war ferner, daß er sich bis ins einzelne um die Schularbeiten seiner Untergebenen kümmerte, ja ihnen mitunter sogar ein wenig half. Gerade in den ersten Schulwochen, in denen es manche harte Nuß für den sehr ungleichmäßig vorgebildeten Herrenfelder Lateinschüler zu knacken gab, empfand das Gottfried besonders dankbar. Auch das Kaffeekochen lernte er bei Bruder Schmiedecke, der gerade am ersten Sonntagnachmittag die Aufsicht hatte. Die meisten Schüler gingen zu dieser Zeit in den Ort, eingeladen von irgend einer verwandten oder bekannten Familie. Die übrigen durften sich in der großen Anstaltküche Kaffee kochen und sich dazu vom Wochendiener – d. h. dem Knaben, der die Woche über an der Reihe war, die Besorgungen der »Stube« auszuführen – für 10 Pfg. Kuchen mitbringen lassen.

Trotzdem waren diese Sonntagnachmittage für Gottfried mitunter recht traurig; namentlich wurmte ihn der Gedanke, daß viele andere Kameraden es besser hatten als er. Daher wartete er stets mit Sehnsucht auf den dritten Sonntag, an dem auch er eingeladen ward zu Schokolade und Törtchen – bei Tante Laura.

210 Anfangs hatte Gottfried im stillen gehofft, die Basler Tante würde ihm ein klein wenig von Großmutters Fürsorge ersetzen können, aber bald merkte er, daß dies unmöglich war. Nicht einmal von Großmutter plaudern konnte er mit Tante Laura, ohne daß sie mit einer Unmenge bissiger Bemerkungen dazwischen fuhr, die sich allerdings immer auf die gemeinsam verlebte Jugendzeit gründeten. Am liebsten wäre Gottfried einmal tüchtig losgefahren, denn es kränkte ihn gewaltig, wenn man an seiner vergötterten Großmutter etwas auszusetzen hatte; aber damit hätte er sich bei der schon so überaus gnädig tuenden Tante die sehr dankenswerten Schokoladestunden für immer verscherzt. Zum ersten Male in seinem Leben lernte er sich schicken ins Unbequeme – aus Klugheitsgründen; ja er ward mit der Zeit ein wenig Diplomat, er brachte es fertig, die Gedanken der Tante von den heiklen Gegenständen abzulenken und sie auf ihre drei Lieblingsgespräche zu bringen: In erster Reihe stand natürlich die körperliche Elektrizität, wobei Gottfried meist als Versuchskarnikel herhalten mußte. In zweiter Linie kamen die Spieldosen und Musikwerke, von denen die Tante nicht weniger als neun Stück besaß, die sie sehr oft spielen ließ. Am liebsten hätte sie sich auch noch ein zehntes Spielwerk gekauft, das mit sogenannten Engelsstimmen spielen, dafür auch 2100 Mk. kosten sollte. Das war ihr jedoch zu viel Geld, und so schloß sie mit der frivolen Bemerkung: »Es wäre doch ein rechter Unsinn! Im Himmel höre ich ja die Engel wesentlich billiger und vielleicht auch besser.«

Gottfried schwieg klüglich dazu, dachte aber bei sich: Es sei ihm noch gar nicht so ausgemacht, ob die hämische Tante, die sich so gern über all ihre Mitmenschen lustig machte, mit ihrem bösen Munde so ohne weiteres im Himmel geduldet werden würde.

Das dritte und unerschöpflichste Lieblingsthema von Tante 211 Laura behandelte ihre Hinterlassenschaft. Stundenlang konnte sie sich darüber unterhalten, wie sie ihre verschiedenen Erben am besten enttäuschen, verhöhnen oder auch überraschen könnte. Gelegentlich wurde Gottfried gefragt, was er am liebsten erben möchte, und antwortete jedesmal: »ein paar schöne Bücher«, worauf ihm Tante Laura stets auslachte und meinte: »Bengel, du bist doch gerade so langweilig ehrenhaft wie dein Vater. Warum sagst du denn nicht, ein paar tausend Taler!«

Das verstand Gottfried zum Glück nicht ganz. Er freute sich nur im stillen, als die Tante von ihrer Erbschaftsprahlerei doch einmal einen ordentlichen Ärger hatte, obwohl er darunter leiden mußte.

Schwester Schlumberger wohnte nämlich bei einem braven Schlosserehepaar, das ein einziges Töchterchen hatte, mit dem sich Tante Laura auch manchmal in ähnlicher Weise amüsierte wie mit Gottfried. Auf Anraten der alten Dame hatte sich das Mädchen einen Schaukelstuhl als Erbstück ausgesucht, auch mit sehnsüchtigen Blicken öfters betrachtet. Eines Morgens war die Sehnsucht bei dem Schlossertöchterchen wohl gar zu mächtig geworden; jedenfalls erschien sie früh bei Schwester Schlumberger und fragte zu deren Entsetzen:

»Tante, bist du denn noch nicht endlich tot, wir könnten den Erbstuhl jetzt furchtbar gut gebrauchen, das meint Papa auch.«

Seitdem hatte Tante Laura empört jeden Verkehr mit ihrem Hauswirt abgebrochen.

Gottfried hatte sich unklugerweise bei Erzählung dieses entsetzlichen Vorfalls das Lachen nicht ganz verbeißen können und wurde infolgedessen sofort zur Anstalt zurückgeschickt und für sechs Wochen nicht wieder eingeladen. Dann erst gelüstete Tante Laura wieder nach seiner Körperelektrizität.

212 Den stärksten Eindruck machte auf Gottfried, der für alle körperlichen Leistungen eine besondere Vorliebe hatte, in diesen ersten Wochen seines Girdeiner Aufenthaltes sein Eintritt in das Girdeiner Regiment.

Dieses Schülerregiment hatte eine ehrwürdige, ja ruhmvolle Geschichte. Es war ehedem, in den Jahren des Nachklangs der Freiheitskriege, da man in deutschen Landen mehr zur eigenen Erhebung als zum Schrecken der Nachbarn das Beckersche Trutzlied: »Sie sollen ihn nicht haben« sang, gegründet worden, und zwar von ein paar romantischen Girdeiner Schülern aus dem fürstlichen Hause Plawe, zu dessen Besitz das Girdein benachbarte Gut Unkendorf gehörte. Neben der Turnerei, die schon damals in Girdein eifrigst gepflegt wurde, ward bald auch das Exerzieren und Manövrieren in der Heide fleißig betrieben. Ja, im Anfang der 40er Jahre ward das junge Girdeiner Regiment sogar durch eine Parade vor dem romantischen Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. feierlich sanktioniert und erhielt Patrontaschen und ein paar Offiziersdegen mit Namenszug vom gütigen Landesvater, eine prachtvolle Fahne von der Fürstin Plawe.

Seitdem war das Regiment ganz allmählich zu einem wichtigen Moment in der Girdeiner Erziehungsarbeit geworden. Alle Sonnabend morgen rief Trommelklang anstatt der sonst üblichen Schulglocke sämtliche wehrhafte Mannschaft in den Hof vor die Rüstkammer, und von dort aus marschierte das Regiment mit seinem diensttuenden General (meist einem der »gedienten« Lehrer), mit seinen Offizieren und Unteroffizieren, Fahnenträger und Junkern, Tambourmajor, Trommlern und Pfeifern (alles Anstaltknaben) bald hinaus auf den Exerzierplatz, den oft der Rauch des nahen Kalkofens wie mit Pulverdampf überflutete, bald zum Felddienst in die Heide oder bei sehr schlechtem Wetter zum leidigen Griffekloppen in die Turnhalle. Außerdem gab es noch 213 mancherlei militärische Ehren- und Festtage, vor allem das Regimentsfest mit großer Parade, die meist ein paar aktive, inaktive oder Reserveoffiziere in Uniform abnahmen. Ferner gab es Manövertage, Nacht- und Winterfelddienste mit Biwaks, Abkochen oder Schneeballschlachten; gelegentlich galt es wohl auch einmal, vor dem Landesvater oder einem seiner großen Paladine Spalier zu bilden. Das blieb dann für jeden Girdeiner in unvergeßlicher Erinnerung.

Gottfried ward natürlich mit Leib und Seele Soldat des Girdeiner Regiments.

Schon bei der Rekrutenausbildung, die während der vier ersten Wochen durch Unteroffiziere im Beisein eines Leutnants (es gab deren vier) geleitet wurden, zeigte er einen auffallenden Eifer und war sehr stolz, als er infolgedessen bei der Einreihung trotz seiner geringen Körpergroße gleich ins erste Glied gereiht wurde. Er gab sich auch weiterhin solche Mühe, daß er ordentlich enttäuscht war, daß er bei der nächstmaligen Beförderung nicht zum Unteroffizier oder wenigstens zum Fahnenjunker avancierte. Aber trotz der besten Führung mußte er ein ganzes Jahr darauf warten. Schon wollte er sich mißmutig als Tambour melden, da ward ihm plötzlich die blaue Schnur des Unteroffiziers zuteil. Nun brachte er es schnell zum Feldwebel, ja zum Leutnant, namentlich weil er sich dank seiner Räuberschulung beim Manövrieren durch große Verschlagenheit auszeichnete. Als Hauptmann und Führer der ersten Kompagnie – eine Würde, die nur ganz ausnahmsweise verliehen wurde – erhielt Gottfried später bei seinem Eintritt ins Pädagogium ehrenvoll den Abschied. Freilich das silberne Verdienstkreuz für dreijährige brave Führung konnte er zu seinem großen Leidwesen nicht erhalten, da er nur 2½ Jahre dem Regiment angehört hatte.

Neben dem Exerzieren brachte Gottfried, wie es Bruder Loskiel vorausgesagt hatte, dem Spielen besondere Neigung entgegen.

214 Auch in Herrenfeld war von der Schule aus fleißig gespielt worden, aber es war kein Vergleich zwischen Herrenfelder und Girdeiner Spiel. Dort war es ein oft ungeordnetes Austoben, hier war es eine von geheiligter Tradition überwachte und stets aufs neue gepflegte Kunst. Am besten ward natürlich im Pädagogium gespielt, weil sich dort eine wohlgeübte Mannschaft freiwillig aus den sämtlichen Oberklassen zusammenfand, während in der Anstalt stubenweise gespielt ward. Aber man übte sich gehörig. Im Sommer ging man dreimal, im Winter zweimal am Tage, je eine Stunde spielen. Ballon, Barron, deutsche und englische Barre wurden im Sommer gespielt; im Winter fast ausschließlich Fußball.

Gottfried hatte in Herrenfeld nie ordnungsgemäß Fußball gespielt, erstlich weil dieses Spiel dort selten gespielt wurde, und weil er überhaupt lieber mit Ibikus und Matthes frei umhergeschweift war, anstatt sich den Pensionären der Herrenfelder Lateinschule anzuschließen. Hier in Girdein konnte er bald gar nicht mehr genug Fußball spielen. Das wilde Draufgehen, das mutige Einsetzen aller Kräfte für die Partei, deren Führer er ganz unwillkürlich wurde, lag seiner Kämpfernatur im Blute. Ja bisweilen steigerte sich seine Kampfesfreude bis zur brutalen Rücksichtlosigkeit gegen seine Gegner – namentlich wenn es eine andere Stube war, – so daß ihn Bruder Schmiedecke öfters zur Ordnung rufen mußte. Bruder Lechner, den dieses Ungestüm nur wohltuend berührte, ging nie so weit, sondern spielte stets auf der Gegenpartei und sehr oft auch persönlich gegen Gottfried, der trotz aller Anstrengungen wenig gegen seinen vergötterten Lehrer ausrichten konnte. Umsomehr bewunderte ihn Gottfried.

Am liebsten wäre er auch beim Turnen in die Pflege Bruder Lechners gekommen, aber trotz seiner neun Klimmzüge hatte er es im Turnexamen nur auf 53 Punkte 215 gebracht. Für die erste Riege, die Bruder Lechner unterstand, bedurfte es aber mindestens 60 Punkte. Zum Glück gab es Gelegenheit, außerhalb der zwei offiziellen Turnstunden, z. B. an freien Nachmittagen, mit Bruder Lechner freiturnen zu gehen, und so übte sich Gottfried nun dermaßen, daß er richtig zu Ostern mit 64 Punkten als Zweitletzter in die erste Riege kam.

 

Weniger günstig stand es mit Gottfrieds Schulleistungen. Er war nicht eigentlich faul, aber es stürmte zunächst so viel Neues auf ihn ein, daß er sich die stete Konzentration des Geistes zur energischen Arbeit nicht recht bewahren konnte. Auch gewöhnte er sich an die strenge Art der Girdeiner Arbeitzeiten nicht ohne große Mühe. Es war nicht nur bei Strafe verboten, nach dem Kommando »Zeit« etwas aus seinem Fache zu nehmen – dafür gab es das »Zurechtmachen« –, sondern auch jedes Aufsehen, Hinübersehen zum Nachbar, Stützen des Kopfes, schlechtes Sitzen war verpönt. Dabei wurde im Arbeitraume von den Musikbeflissenen der Reihe nach Klavier geübt, ein besonders spartanisches Mittel, um eine Konzentration der Gedanken auf die vorliegende Arbeit zu erzwingen. Vielleicht sollten auch die Nerven dabei abgehärtet werden. Tatsächlich wurden beide Zwecke erreicht, aber mit jedem Neuling gab es anfänglich Schwierigkeiten, zumal bei einem schon von Natur zerstreuten Jungen wie Gottfried.

Es war in Girdein Brauch, daß über jeden Zögling allvierteljährlich an Eltern oder Vormünder ein genauer Bericht gesandt wurde, der sich zunächst auf Informationen von seiten der betreffenden Stubenlehrer aufbaute. Auch Vorsteher Kämpfer erhielt nach neun Wochen eine solche 216 Auskunft von Bruder Loskiel, die es ihm wünschenswert erscheinen ließ, Gottfried zu Weihnachten nicht nach Hause kommen zu lassen.

Der Vorsteher glaubte, sein Sohn würde über diese Entscheidung sehr gebeugt sein, aber er täuschte sich. Gottfried schrieb sehr gefaßt zurück: Er glaube selber, daß er sich eine Ferienreise noch nicht verdient habe, und es läge ihm nichts daran, sich in Herrenfeld als Quintaner sehen zu lassen. Dafür hoffe er eine »Freßkiste« zu Weihnachten zu erhalten, die andern, die da blieben, würden auch welche bekommen, nur die Missionskinder bekämen von Bruder Loskiel beschert.

Natürlich ward die »Freßkiste« bewilligt, und Großmutter, der ihr Friedel am meisten fehlte, sorgte dafür, daß auch noch manches andere darin zu finden war, was nicht gerade eßbar und doch sehr dankenswert für Gottfried war.

So feierte er vergnügt und zufrieden sein erstes Weihnachtfest in der Fremde. Am Morgen des 24. Dezembers durfte er mit Bruder Schmiedecke und Schniefke den Stubenchristbaum schmücken, dann ging es nachmittags in die sogenannte kleine Christnacht, einem besonders feierlichen Gemeingottesdienst für Kinder. Da gab es Tee und rosinenreiche Milchbrötchen, wie im Liebesmahl am Kindergemeintag, auch ein mit grünem Papierflitter umwundenes Christnachtlicht für jedes Kind, es mochte noch so klein sein. Nach dieser Feier erwartete die Knaben im Anstaltspeisesaal die Christbescherung, bei der Bruder und Schwester Loskiel liebevoll die Eltern zu ersetzen suchten. Daran schloß sich ein festliches Abendessen, und nach diesem gab es auf der Stube noch ein Glas leichten Punsches nebst Mohnstrietz, den die mütterliche Schwester Loskiel persönlich den Knaben brachte.

Über all den Herrlichkeiten kam Gottfried gar nicht dazu, viel nach Hause zu denken oder sich der Sehnsucht zu überlassen. Erst abends im Bett, als er den schönen Tag 217 noch einmal an sich vorüberziehen ließ, fiel ihm ein, daß es doch noch viel schöner gewesen wäre, wenn Eltern und Geschwister und namentlich Großmutter hätten dabei sein können. Und dann stellte er sich vor, wie sie wohl zuhause den Weihnachtsabend verbracht haben würden. Er sah durch den Türritz der guten Stube Vater die Lichter anstecken, sah Mutter sich ans Klavier setzen und hörte sie mit ihrer klaren, schönen Stimme: »Fröhlich soll mein Herze« anstimmen, Vater fiel ein – Großmutter öffnete glückselig lächelnd die Tür, jubelnd hüpften Guido und Agnes hinein – Jettchen zog ihn nach – da schossen ihm plötzlich die Tränen aus den Augen. Schnell – schnell – sich in die Kissen vergraben, ehe das Heimweh ihn überkam. Rasch schlief er ein, und im Traume feierte er noch einmal Christabend – zu Hause!

Die Weihnachtferien verliefen ebenso angenehm wie der Christabend. Es fiel so viel Schnee, daß man sich mit Bruder Schmiedecke bis Neujahr auf der großen Rutschbahn am Wartturm weidlich tummeln konnte. Da galt es für Gottfried, einen ganz neuen, eigenartigen Sport zu erlernen; denn um auf den länglichen, unten mit schmalen Eisen beschlagenen Schlitten, die man mit hinterher schleifenden Stangen lenkte, sicher und kunstgerecht die fast tausend Meter lange Bahn hinabgleiten zu können, galt es immerhin mit Mut und Energie zu üben. Nachdem jedoch Gottfried einige Dutzendmale umgeworfen hatte, lernte er das Rutschen rasch. Am Silvestertage kam er sogar, vorschriftsmäßig beide Beine vorn übergelegt, das erste Mal ganz unten an, ohne auch nur ein Mal gekippt zu haben.

In derselben Nacht trat leider Tauwetter ein, und nun folgte eine ebenfalls interessante Zeit, nämlich die der großen Wasserstiefelspaziergänge. Zu Gottfrieds besonderer Freude hatte gerade Bruder Lechner für diesen zweiten Teil der Ferien die Aufsicht übernommene und so fehlte es nicht an 218 Abwechselung, Abenteuern und Schneeschlachten. Da ging es durch schier endlose Wälder, zu einsamen Heideschenken, romantischen Felspartien, gespenstischen Raubschlössern, stillen Waldseen und Torfmooren. Auch eine sonderbare Bohnensteingrube, vielleicht der geheimnisvolle Grund eines verschwundenen Binnensees, ward besucht, mächtige erratische Blöcke bewundert, altwendische Opferwerkstätten begutachtet, ja einmal sogar mit bescheidenem Erfolge nach Totenurnen gegraben. Jede Wanderung unter der Führung dieses einzigartigen Lehrers ward gleichsam zu einer neuen Offenbarung.

Eines Tages fragte Gottfried gerade heraus: »Bitte Bruder Lechner, wie haben Sie es nur gemacht, daß Sie so schrecklich viel wissen und uns immer wieder was Neues zeigen können?«

Der wilde Heinrich lächelte fein und antwortete: »Du irrst dich Gottfried, wenn du meinst, ich wisse viel. Es scheint dir nur jetzt so, weil du noch sehr wenig weißt. Was ich aber weiß, verdanke ich zumeist auch nur wieder meinen Lehrern, und die wohl wieder den ihrigen. Bedenke mal: meine Lehrer, Eltern und Großeltern sind schon hier in dieser Anstalt erzogen worden, sie alle sind die Träger der Überlieferung, die ich jetzt wiederum auf dich vererben möchte, und die du dann deinen Schülern weiter geben sollst, falls du mal hier Lehrer werden solltest.«.

»Ich hier Lehrer werden?«

»Nun, möchtest du nicht?«

»O ja, wenn ich wüßte, daß ichs könnte – da möchte ich gleich.«

»Na – wer kanns wissen. Nicht jeden trifft es gerade so glücklich, daß er an derselben Stelle als Lehrer stehen und geben darf, an der er ehemals als Schüler stand und empfing.«

»Und wenn Sie nun weg müßten?«

219 »Dann ginge ich ebenso gern, Gottfried, wie ich bliebe. Ein guter Soldat folgt seinem Feldherrn überall hin.«

»Und wer ist denn Ihr Feldherr? Meinen Sie Bruder Loskiel?«

»Unser aller Feldherr, lieber Gottfried, ist der Heilande das solltest du als Kind der Brüdergemeine doch wissen. Wohin der mich ruft, folge ich gern, es mag Girdein oder Grönland, Suriname oder Tibet sein. Weißt du nichts davon, daß die ersten Brüder von Herrnhut auf seinen Wunsch nach Westindien eilten und sich dort als Sklaven verkaufen ließen, um den armen Negern das Evangelium verkündigen zu können? Heutzutage ist das vielleicht nicht mehr nötig; aber folgen, wohin uns der Heiland ruft – das gilt noch heute für uns alle!«

Gottfried schwieg – er war zu wenig religiös veranlagt, um sich mit diesen Gedanken ohne weiteres vertraut machen zu können. Erst auf dem Umwege der germanischen Mannentreue, die seinem Gedankenkreis näher lag, kam er langsam zu der Überzeugung, daß sein Lehrer recht habe; doch immer wieder tauchten Zweifel in ihm auf, ob nicht ein Mann wie Bruder Lechner für Eskimos oder Neger viel zu gut wäre. Bruder Lechner sagte er das freilich nicht.

Bald darauf sprang das Wetter abermals um, es setzte empfindliche Kälte ein, und am vorletzten Ferientage konnte Gottfried zum erstenmal auf dem herrlich gelegenen Waldteich Schlittschuh laufen. Die Anfangsgründe dieser Kunst hatte er schon in Herrenfeld erfaßt, dort spielte man freilich auf dem Eise nur »Letzten«, oder man jagte und prügelte sich mit der Leipaer Dorfjugend herum. In Girdein pflegte man dagegen auch das Schlittschuhlaufen als eine gymnastische Kunst.

Der beste Läufer war natürlich wiederum Bruder Lechner. Er konnte nicht nur sämtliche Bogen vorwärts und 220 rückwärts, er konnte auch allerlei Zahlen und Figuren fahren, ja in besonders lustiger Stimmung tanzte er sogar Polka auf dem Eise. War es einmal sehr kalt, so arrangierte er allerlei Spiele, bei denen es tüchtig zu laufen galt. Ein ander Mal unternahm er eine große Entdeckungsfahrt auf den gefrorenen Moorgräben, die weithin durch die Wälder führten. Fast wäre man darob zu spät zur Arbeitszeit gekommen, doch ein strammer Marsch im Girdeiner Schritt brachte die Bubenschar so pünktlich nach Hause, daß sie noch sehr behaglich jausen konnte. Und wie schmeckte das Vesperbrot nach einer solchen Leistung!

 

Im März gelang es Gottfried endlich, fünf Plätze heraufzukommen, und so glückte es ihm auch zu Ostern mit der ersehnten Versetzung nach Quarta. Zur Belohnung dafür erlaubte der Vorsteher seinem Sohne, die Verwandten in Herrnhut zu besuchen.

Gottfried war glückselig über diese Erlaubnis und eilte sofort zu Bruder Loskiel, um ihm die freudige Botschaft mitzuteilen. Bruder Loskiel tat ungemein überrascht und schmunzelte still vor sich hin. Daß er selbst dem Vorsteher diesen Vorschlag gemacht, ließ er sich klugerweise nicht merken. Auch weidete er sich sehr an Gottfrieds Verlegenheit, als er ihm zur Bestreitung der Reisekosten nur 50 Pfennig in die Hand drückte.

Gottfried fragte schließlich: »Bekomme ich dann noch ein Billet?«

»Nein, das würde zu teuer werden,« meinte Bruder Loskiel schalkhaft.

»Ja, aber wie komme ich mit 50 Pfennigen hin?«

»O ganz einfach. Du setzt dich morgen nach dem Mittagessen in die Bombe, bist recht hübsch bescheiden gegen die 221 anderen Insassen, steigst in Reichenbach aus, labst dich dort für dein Kapital an einer Tasse Kaffee und einem Stück Kuchen, kletterst nach Fütterung der Gäule abermals in die Bombe und steigst auf dem Platze von Herrnhut endgültig aus. Dort wird dich dein Onkel schon in Empfang nehmen.«

Gottfried begann zu begreifen, bedankte sich und ging. Er erinnerte sich, daß mit der Bombe wohl der alte, große Gasthofomnibus gemeint war, der zu Festtagen, zu Beginn und Ende der Ferien zwischen Herrnhut und Girdein verkehrte, da der Eisenbahnverkehr zwischen diesen Gemeinen umständlich und kostspielig war.

Und richtig, am folgenden Tage hielt das mächtige Gefährt, das von Rechts wegen längst in ein Postmuseum gehört hätte, vor dem Pädagogium und nahm anscheinend mühelos 16 Insassen in sich auf. Da die Fahrgäste zumeist Pädagogisten oder »Erste« und »Zweite« waren, so schlüpfte Gottfried schleunigst auf den Bock, woselbst er einen recht geräumigen Platz neben dem Kutscher fand. Dieser knurrte etwas von einem jungen Fräulein, doch das focht Gottfried wenig an, da er sich nicht denken konnte, daß ein Mädchen, noch dazu aus der Gemeine, allein mit so vielen Jungens eine Reise machen würde.

Aber siehe da, an der Post ward es Wahrheit; der Wagen hielt noch einmal kurz, und ein hübsches, schwarzlockiges Mädchen von ungefähr elf Jahren stieg zum Kutscherbock herauf und setzte sich leicht errötend mit einem schüchternen »Guten Tag« neben Gottfried, der ebenfalls ein wenig verlegen ward ob dieser ungewohnten Nachbarschaft, um die ihn, nach gewissen Bemerkungen aus dem Wagengrund heraus, einige der Pädagogisten recht zu beneiden schienen. Den Gruß hatte Gottfried natürlich erwidert, aber ein weiteres Wort der Unterhaltung wollte nicht über seine Lippen kommen.

222 Die Schwarzlockige gefiel ihm zwar ganz gut, von Zeit zu Zeit sah er scheinbar recht interessiert nach den Chausseesteinen hinüber und maß dabei das zierliche Profil; besonders das kecke Stumpfnäschen sagte ihm zu. Aber die Nachbarin darum anzureden, dafür lag kein Grund vor, zumal er nicht wußte, ob er sie mit Sie oder mit Du anreden sollte. Sie sah zwar schon ganz damenhaft aus, immerhin trug sie noch einen Bummelzopf. Außerdem glaubte Gottfried: ein richtiger Bub müsse alle Mädel als Gänse verachten, und so schwieg er erst recht.

Der Kutscher, der als unterhaltender Kavalier in zweiter Linie hätte in Betracht kommen können, redete grundsätzlich nur in allerlei unartikulierten Lauten mit seinen Gäulen, würdigte seine Gäste jedoch nach dem Einsteigen keines Blickes mehr, geschweige denn eines Wortes.

Die kleine Dame hätte sicherlich am liebsten gesprochen, aber anfangen wollte auch sie nicht, und so fuhr man denn selbander über Unkendorf und Seifersdorf bis nach Reichenbach, d. h. zwei ganze lange Stunden, ohne ein einziges Wort zu wechseln.

Gottfried erinnerte sich während dieser etwas eintönigen Fahrt unwillkürlich an seine erste herrliche Frühlingsfahrt nach Tannewitz, und es wollte ihm dünken, als könne er heute auf dem Bocke der schwerfälligen Bombe, noch dazu zwischen einem Mädel und einem so ruppigen Kutscher, der nicht einmal einen anständigen Rock, geschweige denn eine Livree anhatte, keinen sonderlichen Staat machen.

Auch das Wetter und die Gegend waren nicht gerade festtagmäßig; es nieselte leise, und ein blaugrauer Dunst verhüllte die fernen Häupter der Götzenköpfe und des Rotsteins, so daß nur die schmucklosen Bauernhäuser zwischen den kahlen Obstbäumen der langweilig graden Chaussee zu sehen waren.

Als der Wagen vorm Gasthof zu Reichenbach hielt, machte Gottfried Anstalten auszusteigen und wunderte sich 223 sehr, daß seine Nachbarin anscheinend nicht dergleichen tun wollte. Und so platzte ihm unvermutet heraus:

»Willst du denn sitzen bleiben, hier ist doch Vesperpause!«

Die kleine Dame errötete ein wenig und erwiderte: »Ja, ich möchte im Wagen bleiben. Mama hat mir was zum Vespern mitgegeben.«

»Und trinken willst du nichts dazu?«

»Nein, ich habe kein Geld dafür bekommen, ach, und dann sind so viele große Jungens da.«

»Die tun dir nichts!« sagte Gottfried im sicheren Tone eines Beschützers, der es getrost mit all den übrigen aufnehmen könnte.

Während er nun, an seiner Begleiterin vorbei, vom Bocke herunterkletterte, fuhr ihm plötzlich der Gedanke durch den Kopf: Könntest du nicht von deinen 50 Pfennigen zwei Tassen kaufen und ihr eine bringen? Gedacht, getan.

Nach wenigen Minuten kam er mit einer Tasse dampfenden Kaffees, die sogar nur 15 statt 25 Pfennige kostete, aus dem Gasthofe heraus und brachte sie der erstaunten Kleinen.

»Du, das geht doch nicht, dann hast du doch keinen Kaffee«, wehrte diese erst ab.

Gottfried beruhigte sie mit der Sicherheit eines Großkapitalsten: »O bitte, ich habe mir drin eine zweite bestellt, ich habe Geld genug, ich kann dir sogar noch etwas Kuchen kaufen, wenn du magst.«

»Nein, nein, bitte ja nicht, hier sieh doch, Mama hat mir schrecklich viel Honigsemmeln und auch zwei Hörnchen mitgegeben. Darf ich dir vielleicht eins anbieten.«

»Nein, ich danke schön, ich werde mir drin –«

»Du – höre, wenn du nicht willst, dann trink ich deinen Kaffee auch nicht. Überhaupt – du könntest doch mit deiner Tasse hier heraus kommen, das wäre viel gemütlicher.«

224 Gottfried, dem an der Gesellschaft der älteren, unbekannten Reisegenossen, die sämtlich rauchend in der Wirtsstube saßen, wenig gelegen war, leuchtete der Vorschlag ein, und so holte er seine Tasse heraus. Er aß auch gutwillig nicht nur das angedrohte Hörnchen, sondern noch eine ganze Portion von den Honigsemmeln. Und nun begann eine ausgedehnte Unterhaltung, die dann nach der Futterpause auf dem Bocke eifrigst fortgesetzt wurde.

Zuerst wurden die Personalia durchgehandelt, und dabei erfuhr Gottfried, daß seine Gefährtin das älteste Töchterchen des Girdeiner Postmeisters, eines Hauptmanns a. D., namens von Delmenhorst sei, zwei Geschwister, eine Schwester Walburg und einen Bruder Bodo, habe und selbst Inge hieß. Der Name gefiel Gottfried über die Maßen – Inge von Delmenhorst – etwas Germanischeres konnte er sich kaum vorstellen. Schade nur, daß die Trägerin des schönen Namens gar nicht germanisch aussah, sondern eher wie eine kleine Zigeunerin.

Auf Inge anderseits machte es sichtlichen Eindruck, daß Gottfried bereits Quartaner war, da ihr Bruder mühsam erst für Sexta vorbereitet wurde. Sie fuhr übrigens auf Besuch zu einer alten Tante, die im Witwenhause zu Herrnhut lebte. Sobald Inge das erzählt hatte, berichtete Gottfried allerlei Erbauliches von Tante Laura, worüber sich Inge ausschütten wollte vor Lachen.

Darauf wagte Gottfried schüchtern anzufragen: »Ist deine Tante nicht auch ein bischen komisch?«

»Was denkst du wohl – Tante Clotilde komisch?«

»Nu, ich meine mehr so lustig« –

»Ja, lustig ist sie schon, ungefähr so wie meine Großmutter.«

»Ach, du hast auch eine Großmutter?«

»Freilich und die hab ich riesig lieb.«

»Ich habe nämlich auch eine – und die habe ich noch viel lieber, lieber sogar als meine Eltern.«

225 »Pfui, schäm dich – lieber als die Eltern soll man niemand haben.«

»Ach was, die Liebe kommt und geht doch von selber – und außerdem kommt das immer drauf an, wen man liebt, z. B. eine Frau kann man stets lieber haben als seine Eltern.«

»Was denn für eine Frau?«

»Nu, die man eben geheiratet hat.«

»Ach so – nun ja. Das steht auch in der Bibel. Das haben wir erst in der letzten Religionsstunde zu lernen aufgekriegt.«

»Hast du Religion gern, ich nicht.«

»Ach ich hab sie sehr gern, schon weil sie Bruder Borchart gibt. Den können wir alle schrecklich gern leiden, der spricht immer so sehr schön und hat so herrliche braune Augen, und ach – wenn er betet zu Anfang – das ist himmlisch.«

»Bei uns wird nicht gebetet, das paßt doch auch gar nicht in die Schule.«

»Warum denn nicht, das ist viel christlicher!«

»Das gefällt mir eben nicht. Unsere heidnischen Vorväter« –

»Was? Dir gefallen etwa die heidnischen Gebräuche besser?«

»O ja, wenigstens die germanischen. Nee, überhaupt damals wars viel feiner!«

Und nun begann Gottfried all die Herrlichkeiten der germanischen Naturmythen, verklärt von den starken Eindrücken verschiedener Spaziergänge, die er mit Bruder Lechner gemacht hatte, seiner aufmerksamen Zuhörerin auseinanderzusetzen. Zum Schlusse folgte ein begeisterter Lobgesang auf Bruder Lechner, der stark wie Tor und gut wie Baldur sei.

Darauf begann Inge ein Loblied auf eine ihrer Lehrerinnen.

226 Gottfried war jedoch längst nicht so geduldig im Anhören wie seine Nachbarin, er unterbrach den Panegyrikus plötzlich mit der Frage: »Na möchtest du wohl eine solche Lehrerin werden?«

»Nein, Lehrerin zu sein, stelle ich mir nicht sehr angenehm vor,« war die zögernd gegebene Antwort.

»Na also«, erwiderte Gottfried triumphierend, »siehst du, ich wäre kolossal froh, wenn ich mal so ein Kerl würde wie Bruder Lechner, da würde ich gleich Lehrer.«

»Ich möchte aber überhaupt nicht immer in der Brüdergemeine leben,« warf Inge etwas hochfahrend ein.

»So? – Nu gehört ihr denn nicht zur Gemeine?«

»I wo. Wir sind Auswärtige, und wenn Vater mal wieder versetzt wird, dann kommen wir sicherlich nach Berlin. Da habe ich überhaupt einen Onkel, der ist General, und der muß sehr oft zum Kaiser kommen.«

»Einen Onkel habe ich auch in Berlin.«

»Ach, das trifft sich fein, den mußt du dann auch mal besuchen, wenn wir in Berlin wohnen – du, dann könnten wir uns überhaupt heiraten.«

»Na, weißt du! Das muß ich mir doch noch sehr überlegen.«

»O, ich natürlich auch. Aber es wäre ganz lustig. Gelt?«

»O ja – nur ich glaube, du bist schon zu alt für mich!«

»Ich zu alt, ich bin doch erst elf!«

»Na ja, und ich bin zwölfe durch, da siehst dus ja – eine Frau muß doch immer viel jünger sein als der Mann, sonst hat sie keinen Respekt vor ihm.«

»Das mag wohl wahr sein, aber vielleicht hätte ich doch welchen.«

Unterdessen war die alte Bombe glücklich in Herrnhut eingerollt und hielt plötzlich vor dem Gasthofe.

Mit einem kräftigen Händedruck schieden die beiden Reisegefährten.

227 Gottfried sah gerade noch, wie Inge in die Arme einer langen, alten Dame stürzte, dann schaute auch er sich nach seinen Verwandten um, zunächst allerdings vergeblich. Als er eben in den Gasthof gehen wollte, um Erkundigungen über seinen Onkel einzuziehen, trat ein schmächtiger Knabe von kaum zehn Jahren auf ihn zu und fragte ihn schüchtern:

»Bist du vielleicht der Vetter Gottfried? Ich bin der Peter und soll dich abholen.«

Gottfried maß den wenig ebenbürtigen Vetter von oben bis unten und sagte dann: »Du, dich hatte ich mir ganz anders vorgestellt!«

»Ach wohl nicht so klein – na – aber ich hoffe, ich wachse noch. Nun komm nur, ich will dir deinen Koffer tragen helfen.«

»Danke, nein, den trag ich schon selbst. Du bist doch zu schwach. Wir Girdeiner turnen und spielen furchtbar viel, da bekommt man Muskeln, da schau mal her!« Und mit Athletenstolz hielt er seinen Bizeps dem kleinen Vetter zur Bewunderung unter die Augen, und dieser beäugte den Ärmel, unter dem der gewaltige Muskel sich krümmen sollte, mit gebührender Ehrfurcht.

Dann gingen die beiden ungleichen Vettern nach dem Vogtshof, in dem der Onkel seine stattliche Amtswohnung hatte.

 

Die schönen Frühlingstage dieses Herrnhuter Osteraufenthaltes zogen an Gottfried wie im Fluge vorüber.

Die ehrwürdige Metropole der Brüdergemeine machte ihm noch keinen besonderen Eindruck; er hatte einstweilen nur Interesse für den in behaglichem Zinzendorf-Barock erbauten Vogtshof und dessen romantische Umgebung, in der er sich, unbehelligt von Onkel und Tante, mit den Vettern tüchtig austobte.

228 Inge von Delmenhorst sah er nur einmal flüchtig auf der Straße, grüßte sie aber nicht, weil er annahm, es würde auf den kleinen Vetter einen schlechten Eindruck machen, wenn er ein ganz gewöhnliches Schulmädel grüßte.

Am Sonnabend vor Quasimodogeniti ging die Reise mit der Bombe nach Girdein zurück. Diesesmal mußte Gottfried jedoch im Wagenfonds sitzen, da der Bockplatz von einem umfangreichen Pädagogisten besetzt war. Auch fuhr Klein-Inge nicht mit zurück.

Die Reisegefährten rauchten natürlich so stark wie möglich, und auch Gottfried mußte wohl oder übel, um seine angehende Männlichkeit zu beweisen, drei Zigaretten verpaffen, worauf ihm recht jämmerlich zumute ward.. Er bezwang sich aber bis zur Ankunft in Girdein und log sogar Bruder Schmiedecke, der ihn auf seine Blässe hin anredete, vor, er habe sich in Herrnhut bei einem Geburtstagskaffee den Magen verdorben.

Bruder Schmiedecke sah ihn scharf an und sagte nur: »Gottfried, das Lügen ist erstlich eine Sünde, zweitens eine Feigheit. Ich habe vielleicht ebenso heimlich auf der Reise zu rauchen versucht wie du, aber zum Lügen war ich zu stolz.«

Gottfried erwiderte kein Wort; er schämte sich wie ein Pudel, und abends nach dem Abendsegen bat er Bruder Schmiedecke leise um Verzeihung, die ihm gern gewährt ward.

Am nächsten Morgen ward Gottfried zu Bruder Loskiel zitiert und ging mit schlechtem Gewissen hin. Ihm ahnte ein Strafgericht wegen seiner Raucherei. Zu seiner großen Überraschung traf er seinen alten Freund, den Pastormatthes aus Herrenfeld, und begrüßte ihn mit geräuschvoller Freude, der man fast etwas die Erleichterung von banger Erwartung anmerkte.

Zu einem Austausch von Neuigkeiten ließ es Bruder Loskiel nicht kommen, sondern er fragte Gottfried kurzerhand: 229 »Sag mal, Gottfried, möchtest du gern auf die dritte Stube kommen?«

»Nein, Bruder Loskiel, ich bleibe viel lieber bei Bruder Lechner und Bruder Schmiedecke.«

»Das habe ich mir eigentlich schon gedacht. Aber fragen wollte ich dich doch erst, da ich dir seinerzeit die Versetzung auf die dritte Stube in Aussicht gestellt hatte. Ich freue mich recht, daß du so an deinen Lehrern hängst, und möchte dich zum Senior der vierten Stube machen, da dein Freund Rodbeck jedenfalls auf die dritte Stube kommen soll.«

»Das ist aber schade.«

»Ja, ich bedauere es auch, lieber Junge. Dafür will ich dir nun deinen Landsmann hier auf die Stube bringen, vielleicht tröstest du dich dann, und als Senior wirst du ihm wie der ganzen Stube mit gutem Beispiel vorangehen. Nicht wahr?«

»Ich wills versuchen, Bruder Loskiel, nur – eigentlich – nein –«

»Na, nur raus mit der Sprache!«

»Ich möchte lieber doch nicht Senior werden.«

»So, warum denn nicht?«

»Weil man da immer so schrecklich brav sein muß, da kann man nie was mitmachen. Kann ich nicht so auf der vierten Stube bleiben?«

»Nein, Gottfried, du bist einmal jetzt so ziemlich der Älteste und kannst ganz beruhigt sein, ein Spaßverderber brauchst du darum noch nicht zu werden. Bleib, wie du warst, im übrigen warte mal ab: wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand. In vier Wochen bist du wahrscheinlich ebenso gern Senior wie ich Direktor. So, Hand darauf! Und nun vorwärts mit Gott.«

Und es kam, wie es Bruder Loskiel vorausgesagt hatte. Bald gab es keinen zuverlässigeren, freilich auch keinen stolzeren Senior in der Girdeiner Anstalt als Gottfried Kämpfer. 230 Vielleicht hing es damit zusammen, daß er außer Zehwen der einzige Quartaner auf der Stube, oder daß er unstreitig der beste Spieler und Turner war – genug – nicht nur der gutmütige Pastormatthes, dem sein Landsmann treulich über ein grimmiges Heimweh hinweghalf, sondern fast die ganze Stube hatte einen gewaltigen Respekt vor Senior Gottfried, so daß der hämische Zehwen nicht ganz unrecht hatte, wenn er ihm als neuesten Spitznamen den Titel »Stubenkönig« anhängte.

Man hätte meinen sollen, daß die neugebackene, kleine Majestät mit dieser Anerkennung durchaus hätte zufrieden sein können, aber weit gefehlt. Es ging wie mit dem »Prinz«.

Der Grundzug der Girdeiner Stubenerziehung war eben ein merkwürdig republikanischer Geist. Keiner durfte irgendwie dem andern gegenüber etwas voraushaben, geschweige denn irgend einen Kameraden beeinträchtigen wollen. Völlige Gleichheit auch im Äußeren wurde ausdrücklich angestrebt; der Prinz Löwenstein und die beiden Reichsgrafen Greiningen durften darum nur ebensoviel Taschengeld erhalten wie die ärmsten Missionskinder, nämlich 15 ganze Reichspfennige; und alle hervorstechenden Schmuck- und Luxusgegenstände, sogar Glacéhandschuhe, waren streng verpönt. Schon bei Zusammensetzung der Stubengesellschaft wurde peinlich darauf geachtet, daß keine allzugroßen Alters- und Charakterunterschiede zutage traten. Jeder noch so leise Versuch von Pennalismus, d. h. schwächere Kameraden zu tyrannisieren, wurde in Girdein schwer bestraft. Es kam daher sehr selten vor. Schon die beständige Aufsicht der Lehrer schloß es fast ebenso aus, wie z. B. die anderwärts so verbreitete Unehrlichkeit bei den Schularbeiten. In Girdein galt dergleichen für ehrenrührig nicht nur bei den Lehrern, sondern vor allem bei den Schülern.

Nicht ganz zu vermeiden war in den Girdeiner Stubenrepubliken die Gefahr, daß ein eigensinniger Querkopf durch 231 hartnäckige Opposition die Einmütigkeit der Stube zu verhindern suchte. Zehwen neigte gelegentlich dazu. Wollte die Stube, etwa von Gottfried beeinflußt, an einem freien Nachmittag mit Bruder Lechner freiturnen, so wollte Zehwen sicherlich spielen oder spazieren gehen, obwohl er eigentlich gar kein passionierter Spieler war und sonst stets über das langweilige Ausgehen schalt. Brachte der Wochendiener das von der Mehrzahl bevorzugte Brot des Bäckers Heinrich aus der Küche, so tauschte es Zehwen heimlich in Raatzbrot um, das weniger beliebte Gebäck eines anderen Girdeiner Bäckers. Machte einer das Fenster auf, weil es zu heiß war, so erklärte Zehwen nach zwei Minuten: Es ziehe ihm. Und umgekehrt. »Natürlich Zehwen!« war in solchen Fällen der gewöhnliche Entrüstungsruf der Stubengesellschaft, über den sich dann der also Apostrophierte noch weidlich freute.

Gottfried juckte es oft in den Fäusten, um Zehwens sogenannte »Giftschnauze« mit Gewalt verstummen zu machen, doch der Amtsverstand ließ ihn immer wieder die nötige Selbstbeherrschung finden. Freilich – es kostete Mühe und Selbstüberwindung – aber solang er selbst Vertreter des Rechts war, wollte er das Recht um keinen Preis verletzen! Mit dieser Rechtsnoblesse Gottfrieds rechnete wiederum der boshafte Zehwen nur zu oft. Heimlich suchte er auch eine Partei zu bilden, der er schließlich einzureden verstand: Gottfried wolle allein auf der Stube regieren und sei außerdem der ausgemachte Liebling Bruder Lechners. Das zog schließlich. Sobald ein Schuljunge überzeugt ist, daß ihm ein anderer vom Lehrer vorgezogen wird, ist er zu allen Schandtaten bereit. Und so zogen sich die Wolken des Mißtrauens und der Scheelsucht immer dichter und drohender am Himmel der vierten Stube zusammen, und immer einsamer ward es um den Stubenkönig.

Nur der getreue Pastormatthes hielt durch dick und dünn zu seinem Landsmann, wie er es zuletzt auch in 232 Herrenfeld getan hatte. Und doch behandelte der Vorstehersohn jetzt gerade Matthes weniger liebevoll, ja kühl – so gut er ihm heimlich war – nur, weil er auf keinen Fall ungerecht gegen irgend einen Stubengenossen erscheinen wollte, denn er war ja Senior!

 

Unterdessen hatte auch in der Lausitzer Heide Junker Lenz seinen Einzug gehalten.

Er kam hier nicht als stolzer Triumphator wie daheim in der reichen Herrenfelder Gegend, wo tausend und abertausend farbenfrohe Blütenknospen demütig huldigend seiner harrten – nein, er zog hier zu Landen gar still und bescheiden daher, als habe er sich alle besonderen Umstände bei seinen armen Untertanen verbeten. Ein paar lichtgrüne, moosige Wiesen, kärglich geschmückt mit Hahnenfuß und Wiesenschaumkraut, ein paar blasse Hirtentäschchen und Wegerichquirle am sandigen Wege, hier und da ein paar verstreute, schüchtern errötete Anemonen oder blaue Leberblümchen in den endlosen Kiefernwäldern – das war die ganze Blütenherrlichkeit. Nur die jungfräulichen Birken, die im frischesten Hellgrün aus den dunklen Kieferkronen hervorlugten, und die schlanken Chausseeakazien, deren gelbliche Blätterrispen eben erst durchbrachen, wußten den festlichen Charakter bei dem Einzug einigermaßen zu wahren. Doch Junker Lenz war leutselig und drückte gern ein Auge zu.

Und nun genossen die Girdeiner die schöne Jahreszeit in vollen Zügen. Auf allen Bürgersteigen drehte die liebe Jugend ihre neuen Kreisel. Die Stubengesellschaften der Mädchenanstalt machten ihrem Spitznamen »Tuschkasten« wieder alle Ehre, indem sie die buntesten Kostüme aus ihrer stillen via sacra, in die kaum je ein männliches Auge zu schauen wagte, nun weit hinaus in die farbenarme Umgebung 233 Girdeins trugen. Die Missionsschüler holten ihre gewaltigen Panamahüte hervor und schoben sie kecker in den Nacken denn je zuvor, sobald sie wieder draußen auf ihrem Zimmerplatz in dem Gewerbe Josephs tätig waren. Auch die Herren Primaner machten ihre üblichen Platzrundgänge (eine Art Bummel, vulgo Pendel genannt) nunmehr im Girdeiner Sturmschritt mit leuchtenden Turnschuhen und flatternden Drillichhosen, die Turnjacken malerisch über die Schultern geworfen, die abenteuerlichsten Primaknüttel als Zeichen ihrer Würde herausfordernd in der Faust.

Auf den vier Wiesenvierteln des mächtigen Platzes, der bereits im Schmuck seiner hellgrünen Butterlinden strahlte, ward wieder blendendweiße Wäsche getrocknet und gebleicht, und die Pädagogisten, die spottlustig wie immer an ihren breiten Fenstersimsen spazieren lagen, konnten wieder ihre altgewohnten Witze machen über die sonderbar wechselnden Wäschestücke, die nun lustig und ungeniert im sanften Winde der Mailüfte flatterten und von den Pädagogiumschandmäulern bald dem oder jenem Philister oder gar einer Philisterin zugeschrieben wurden.

An den vier Brunnenhäuschen standen die verschiedenen Wasserholer und Holerinnen jetzt länger schwatzend und schäkernd beisammen, und schon sah man die ersten Bürgerfamilien des Abends nach der Versammlung – dem täglichen Gottesdienst – ihre würdigen Familienspaziergänge mit Kind, Kegel und Köter unternehmen, hinaus nach dem Wartturm oder nach Montravail zu, dem mächtigen Pädagogiumspark, den Hunderte von fleißigen Pädagogistenhänden in generationenlanger, harter Arbeit aus Sand und Heide emporgezaubert hatten.

Auch die »Anstalter« hatten einen solchen Schülerpark, der von seinen ersten Gründern, ein paar russischen Junkern, den altehrwürdigen Namen »Nowgorod« erhalten hatte. Nowgorod umfaßte an Areal kaum ein Achtel von 234 Montravail, aber es erfüllte seinen Zweck, seinen zeitweiligen Herren den Schimmer eigenen Besitzes und unumschränkter Freiheit in der Ausübung ihrer agrarischen und sonstigen Talente zu verleihen, ebenso vollkommen. Wie Montravail zerfiel auch Nowgorod in mehrere Gebiete, von denen jede Stubengesellschaft je eines als ihren besonderen Besitz betrachten durfte.

In der Mitte jedes Stubenländchens lag eine sogenannte Burg, und eine jede dieser Burgen trug wiederum ihren besonderen Charakter, meist ihren Burgsassen entsprechend.

Die Ersten hatten sich sehr breit und behaglich eingerichtet und sogar eine Kegelbahn an dem Fuße ihrer Veste angelegt; man merkte, daß sie sich erholen, aber nicht austoben oder arbeiten wollten.

Die Zweiten waren scheinbar von alters her besonders romantisch veranlagt gewesen; sie hatten die eleganteste Festung erbaut und mit allerlei malerischen Vorsprüngen und Ausblicken geschmückt. Statt der Mauern umgab duftender Flieder die Bänke und Tische des weiten Pallas, der Licht und Luft freien Eintritt gewährte.

Die Dritten hatten wohl mehr das Ideal des Raubnestes vor Augen gehabt. Hoch ragten ihre Wälle, tief luden ihre Wallgräben aus. Man merkte: ein streitbares Geschlecht mit gesunden Knochen und harten Fäusten pflegte hier zu hausen. Auf den Böschungen wuchs wenig Buschwerk, weil es in den wilden Kriegszeiten wenig gepflegt, oder gar von manchem harten Stiefel rücksichtslos zertreten wurde.

Die Burg ihrer traditionellen Erbfeinde, der Vierten, lag schräg gegenüber und schaute weit weniger drohend ins Land als das Bergnest der Dritten. Aber die unscheinbare Veste war geradezu ein Meisterwerk moderner Fortifikationstechnik, ein Produkt des genialen Strategen, Bruder Lechner, und des erprobten Fachmannes, Bruder Schmiedecke, der 235 bei der Metzer Fußartillerie zwei Lehrerübungen absolviert hatte. Ein weitschichtiger, tiefer Wallgraben, der kunstvoll wie eine Wolfsfalle mit Reisig überdeckt und so unüberschreitbar gemacht worden war, umgab sichernd die mit drei Bastionen geschmückte Zitadelle, zu der nur eine äußerst kunstvoll konstruierte Zugbrücke führte. Das größte Wunderwerk an der Burg war ein unterirdischer Zufluchtsraum, aus dem ein enger unterirdischer Gang nach außerhalb führte, für Ausfälle, Verstärkungen usw. gedacht. Da die Vierten naturgemäß schwächer als die Dritten waren, hatten sie sich eben auf Belagerungen einzurichten verstanden, und in der Tat galt die Burg der Vierten für uneinnehmbar, während das Raubnest der Dritten von Bruder Lechner und seinen Mannen schon ein paar Mal überrumpelt worden war.

Die Burg der Fünften endlich war nur eine harmlos erweiterte Rasenbank. Hier herrschte zumeist Landfrieden, und infolgedessen blühte die Bodenkultur. Saubere Blumen- und Radieschenbeete legten einen deutlichen Beweis von dem Arbeitsfleiß des kleinen, friedlichen Phäakenvölkchens ab.

Die ständigen Fehden der Vierten und Dritten standen dazu in schroffem Gegensatz; in ihren Gebieten sah man nur Schanzen und Gräben, aber keine Beete und Rasenbänke.

Der gegebene Führer der Vierten war natürlich Gottfried, der frühere Räuberhauptmann, der sich allerdings auf den Angriffskrieg besser verstand als auf die zähe Verteidigung, bei der wiederum Zehwen große Verschlagenheit entwickelte und daher die Rolle eines Burghauptmannes spielte. Namentlich verstand er es, die ohnmächtigen Belagerer durch witzige Schmähworte zur höchsten Erbitterung zu reizen.

Eines Tages war Gottfried mit seinen beiden getreuesten Vasallen, dem Pastormatthes und dem einen, sehr rauflustigen Reichsgrafen Greiningen, der seinerzeit mit ihm 236 zusammen im Eintrittexamen durchgefallen war, wieder auf einem Streifzuge gegen die Dritten begriffen, um womöglich einen gefangenen Vierten – es war der wenig brauchbare, dicke Prinz Löwenstein – zu befreien. Beinahe wäre der klug angelegte Überfall gelungen, hätte sich der brave Löwenstein nur ein wenig geschickter benommen. So aber verriet er seinen Wärtern die nahenden Freunde, und diese riefen beizeiten Verstärkungen heran. Den verratenen Befreiern gelang es nicht mehr auf den noch offenen Übergängen des Flusses (der Hauptweg galt als unüberschreitbarer Strom) zu entkommen, nur Gottfried schlug sich an einer sogenannten Brücke durch und eilte schleunigst seiner schützenden Burg zu, von einigen Dritten verfolgt. Als er hier, vielleicht etwas herrisch, Einlaß verlangte, erklärte ihm Zehwen: man könne ihn nicht einlassen, die Gefahr einer Überrumpelung sei gerade jetzt zu groß. Die Folge davon war, daß Gottfried von den Dritten totmüde gehetzt und schließlich mit Triumphgeheul gefangen ward.

Da packte ihn plötzlich wieder tief innerlich die alte, blinde Wut, die ihn ehedem gegen Ibikus erfüllt hatte; und kaum hatte er durch den allgemeinen Aufbruch die ersehnte Freiheit wieder erlangt, als er sich auch spornstreichs daran machte, Zehwen zur Rechenschaft zu ziehen. Bruder Schmiedecke rief ihn jedoch zur Ordnung und meinte, das Spiel höre mit dem Einmarsch auf.

Höhnisch lachend rief ihm Zehwen zu: »Na, da hast dus, Stubenkönig!«

Dieses schlimme Wort vernahm Bruder Schmiedecke nicht, und doch traf es jetzt Gottfried wie ein Keulenschlag. Die Rachsucht loderte wie ein rasendes Feuer durch seine Brust. Noch hielt er an sich, bis man auf der Stube angelangt war und Bruder Schmiedecke sich auf die Lehrerstube zurückgezogen hatte.

Dann endlich machte er seinem gepreßten Herzen Luft, 237 rief die Kameraden zusammen und nannte Zehwen einen ehrlosen Verräter, der nicht verdiene, auf der vierten Stube zu bleiben.

Zehwen, um den sich ein erkleckliches Häuflein von Anhängern schützend scharte, ließ sich nicht aus der Fassung bringen und erwiderte herausfordernd: »Du denkst, weil du hier den Stubenkönig spielst, kannst du gleich im Wuppdich alle dir unbequemen Leute von der Stube jagen. Ja Kuchen! Du bist nicht mehr als wir – etwa weil du dich bei Bruder Lechner eingeschmeichelt hast, oder weil du mit Ach und Krach in die Quarta gekommen bist, oder vielleicht weil du Senior bist? Bilde dir nur nicht zu viel darauf ein. Einer muß halt der Älteste sein, das ist kein Kunststück, alt werden kann jeder Esel!«

Gottfried wurde bleich vor innerer Erregung, aber noch immer bezwang er sich, noch war er ja der Senior, dessen Pflicht es war, jeder Unordnung, vor allem jeder Hauerei vorzubeugen.

Mühsam brachte er heraus: »Nimm dich in acht, Zehwen, ich könnte dich jetzt verhauen, verhauen, daß die Lappen flögen – ein Recht dazu hätte ich.«

Drohend stellte sich bei diesen Worten der größte Teil der Stube gegen Gottfried, der unbeirrt fortfuhr: »Glaubt nur nicht, daß ich mich vor euch fürchte – ich weiß sehr wohl, daß Zehwen euch gegen mich aufgehetzt hat. Ich fange nur darum nicht mit Hauen an, weil ich Senior bin. Aber auch nur so lang! Noch heute gehe ich zu Bruder Loskiel –«

»Klatschbüchse!« brach es donnernd von Zehwens Lager herüber. –

»Unsinn« rief Gottfried ebenso laut zurück, »ich werde kein Wort von euch oder Zehwen sagen, ich werde Bruder Loskiel nur erklären, daß ich nicht mehr Senior sein will, weil –«

238 »Wohl weil du Angst hast, Stubenkönig?«

»Blech, sondern weil ichs satt hab, immer so ruhig die Zähne aufeinanderbeißen zu müssen und nie mehr feste los ziehn zu dürfen. Sei Senior, wer will; ich habs dicke! Aber dann – wenn ichs nicht mehr bin – dann wollen wir schon sehen, wer mich noch mal Stubenkönig schimpfen wird.«

Mit diesen Worten drehte sich Gottfried energisch um und wollte die Stube verlassen, anscheinend um zu Bruder Loskiel zu gehen.

Da aber kam ihm Greiningen zuvor, hielt ihn fest und rief: »Das ist ja alles Mumpitz. Du sollst unser Senior bleiben! Du bist der alleranständigste Kerl von uns allen, und Zehwen ist ein elender Hundsfott, dem ich das Maul schon für dich stopfen will als dein treuer Vasall!«

Die ehrlichen Worte des kleinen Reichsgrafen fanden mit einem Male tosenden Beifall. Der Begriff der Mannentreue war auf Bruder Lechners Stube gar zu populär. Fast alle stürmten begeistert auf Gottfried los, riefen »wir sind auch deine Vasallen« und baten ihn stürmisch, doch ja Senior zu bleiben.

Zehwen, der plötzlich allein stand, merkte, daß der Wind sich gedreht hatte, er trat darum selbst zu Gottfried und sagte: »Du, so ernst hatte ich das nicht gemeint. Ich hab dich halt ärgern wollen mit dem Stubenkönig: aber ich dachte nicht, daß dichs gleich so knicken würde, na also, hier schlag ein – natürlich bist du ein ganz famoser Senior, bist überhaupt ein feiner Kerl – nee, wirklich – es tut mir leid!«

Gottfried traute seinen Ohren kaum, als er Zehwen so reden hörte. Zögernd reichte er ihm die Hand, und die ganze Stube brüllte dabei vor Jubel so laut, daß der vorbeigehende Bruder Loskiel plötzlich hereinfragte, ob denn hier ein Indianerfest gefeiert würde.

239 Ein Fest war es freilich, vor allem für Gottfried; denn von nun an war er in der Tat der unumschränkte König der Stube, auch wenn ihn niemand je wieder so zu nennen wagte.

Ungekrönt regierte er seine Vierten gerecht und weise bis zum 29. September desselbigen Jahres, des Jahres 1878. 240

 


 


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