Herm. Anders Krüger
Gottfried Kämpfer
Herm. Anders Krüger

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Zweites Kapitel

Bei der Großmutter

Der Herrenfelder Vorsteher besaß noch einen zweiten Sohn Guido, der um mehrere Jahre jünger war als Gottfried. Guido, ein schönes, aber etwas zartes Kind, war mit der Großmutter, deren Liebling er nicht gerade war, bei Verwandten zu Besuch gewesen und erschien erst einige Wochen später in Herrenfeld, nachdem die Eltern den ersten Wirrwarr des Einräumens überstanden und sich schon eine ganz behagliche Wohnung in dem alten, kleinen Vorsteherhäuschen eingerichtet hatten.

Die Großmutter, Frau Bürglin, stieg zunächst bei ihren Kindern ab, doch lange blieb sie nicht. Sie war eine sehr eigene, etwas stolze Dame, ein echter Baseler Typus, schroff und kantenreich, aber aus einem Guß. Trotz ihrer baslerischen Sparsamkeit liebte sie einen gewissen Komfort in ihrer Umgebung und hatte sich stets eine besondere Wohnung gehalten, obwohl sie gern an demselben Orte lebte wie ihre Kinder, bei denen sie übrigens einen großen Teil des Tages zuzubringen pflegte.

24 Auch für Herrenfeld hatte ihr der Schwiegersohn bereits eine eigene Wohnung mieten müssen, in die sie nun recht bald mit ihrem Lieblingsenkelchen, Gottfried, einzuziehen wünschte.

Es bestand ein eigenartiges Verhältnis zwischen Gottfried und der Großmutter, das dem Vorsteher und seiner Frau schon oft zu denken gegeben hatte. Gottfried war vor einigen Jahren bei der Großmutter längere Zeit auf Besuch gewesen, während die Eltern und anderen Geschwister in einem Bade geweilt hatten. Die alte Baslerin, selbst ein eigenartiger Mensch, hatte damals an Friedel trotz – ja vielleicht wegen seines vorlauten, bisweilen auch ungezogenen Wesens ihre stille Freude gehabt. Für sogenannte Musterkinder hatte sie nie Vorliebe, ja nicht einmal Verständnis gehabt.

Seit jenem ersten Besuch hatte Gottfried öfters bei der Großmutter wohnen dürfen und zog sehr gern zu ihr.

Der Vorsteher und seine Frau konnten Frau Bürglin keineswegs den Vorwurf machen, daß sie Gottfried sonderlich verwöhne, im Gegenteil, die resolute, alte Dame schwang nach gutem Urväterbrauch oft selbst die Hand oder den »Stab Wehe« über Gottfried; jedoch zwei andere Momente in ihrer Erziehungsweise erschienen dem Vorsteherehepaar bisweilen bedenklich: Einmal bestärkte sie den von Natur schon sehr selbständigen Jungen immer mehr in seinem oft zügellosen Freiheitsdrang, der mit einem Hang zum Alleinsein verbunden war. Anderseits gewann die Großmutter auf Gottfried ganz unwillkürlich einen viel stärkeren Einfluß als die Eltern. Der Zucht und strengen Ordnung des elterlichen Hauses ward Gottfried ebenfalls unmerklich entrückt und begann sich über seine Geschwister erhaben zu fühlen. Mit Mühe hatte es darum der Vorsteher durchgesetzt, daß Gottfried wenigstens in den letzten zwei Jahren, seit er die Schule besucht hatte, im Elternhause wohnte.

25 Versuchsweise war nun Guido an die Stelle des Bruders getreten.

Als jedoch jetzt Frau Bürglin in Herrenfeld angelangt war, erklärte sie kurz und bündig: Guido sei ein höchst. braves, aber schrecklich langweiliges Knäblein; Gottfried sei ihr trotz seiner Unarten lieber, und so bitte sie von neuem um Gottfried.

Der Vorsteher wollte davon zunächst nichts wissen. Seiner Schwiegermutter gegenüber ungefällig zu sein, lag ihm zwar völlig fern; aber er hielt es im Interesse von Gottfrieds Entwicklung für geraten, den Jungen auch weiter unter seiner unmittelbaren Aufsicht zu behalten. Da Frau Bürglin nicht mehr allein sein wollte, so bot er ihr nunmehr Henriette, seine älteste 10jährige Tochter, zur Gesellschaft an, allein vergebens.

Die alte Baslerin beharrte diesesmal hartnäckig auf ihrer Bitte, erhob sie schließlich zu einer Forderung und drohte, Herrenfeld wieder verlassen zu wollen, wenn man ihr den kleinen Gefallen nicht erweisen würde.

Der alten Dame war es bitter Ernst, und so gab der Vorsteher nach, zumal seine Frau die Bitte der Mutter angelegentlich unterstützte, obwohl auch sie eine Entfremdung Gottfrieds befürchtete. Wenigstens sollte Gottfried Mittag und Abendbrot im Elternhause einnehmen, und dagegen hatte die Großmutter schon darum nichts einzuwenden, weil sie selbst sehr oft bei ihren Kindern aß.

 

So siedelte Gottfried zu seiner größten Freude nach wenigen Wochen in das Haus der Großmutter über.

Frau Bürglins Wohnung lag am Westende des Ortes im letzten Haus der neuen Gasse. Auf zwei Seiten stieß es schon an Gärten und Wiesen des angrenzenden Dorfes 26 Leipa, das von den Morgenfenstern des ersten Stocks aus betrachtet höchst malerisch um seinen länglichen Dorfteich herum gelagert erschien.

Gottfried hatte sicherlich noch keinen ausgeprägten Natursinn, aber daß es ihm bei der Großmutter dreimal so gut gefiel, auch in bezug auf die landschaftliche Umgebung, darüber konnte kein Zweifel walten, denn der Junge sah anfangs mit einer Andacht zum Fenster heraus, als wollte er die Gegend anbeten oder abmalen oder sie später strategisch ausbeuten.

So ganz fern mochte ihm die letztgenannte Absicht in der Tat nicht liegen, denn schon nach wenigen Tagen begann er mit nachdenklichem Gesicht den großen Garten, der zu Großmutters Haus gehörte, zu durchwandeln und weiterhin die Hecke, den Bretterzaun und eine alte, sehr abgenutzte Laube einer genauen Untersuchung zu unterziehen.

Seinem Feldherrauge war es jedenfalls nicht entgangen, daß dieser Garten sich weit besser zu einer Operationsbasis für Entdeckungen und Abenteuer eigne als der rings von Häusern eingeschlossene Vorstehergarten, auf dem überdies sehr oft die sorglichen Blicke verschiedener Bewohnerinnen des angrenzenden Witwenhauses ruhten. Dort gab es keine eigentliche Umgegend; hier beherrschte man durch ein ziemlich großes Guckloch in der Laube, das sich vielleicht durch emsige Arbeit auch zu einem Schlupfloche erweitern ließ, den ganzen linken Nachbargarten, in dem es nebenbei zahme Kaninchen gab.

In der Hecke hatte sich ferner eine halb verwachsene Lücke auffinden lassen, durch die man bei einiger Gewandheit in den schönen freien Hühnerhof des rechts gelegenen Bauerngutes kriechen konnte. Und im Bretterzaun endlich ließ sich ein wackliges Brett so merkwürdig verschieben, daß man ganz prächtig hindurch huschen und auf eine weite grüne Roßweide gelangen konnte, die auf drei Seiten mit 27 hohen breiten Mauern umgeben war. Überhaupt diese Mauern! Auf ihnen konnte man ganz bequem einherspazieren. Es war herrlich! Kein Polykrates konnte vergnügteren Sinnes auf seines Daches Zinnen stehen als Gottfried auf dem großen Eckpfeiler dieser Mauer, von dem aus der ganze Dorfteich sich überschauen ließ. Wenigstens machte er ein Gesicht, als erschiene ihm der Hafen von Samos dagegen nur als eine Lumperei!

Besonders aufregend war der Genuß dieses Lustwandelns, wenn ein oder gar zwei mutwillige Fohlen auf der Weide umhergaloppierten, die der Zuschauer ganz weidlich necken konnte, ohne dabei Gefahr zu laufen, von ihren Hufen zerstampft zu werden.

Doch die verschwiegenen Herrlichkeiten der großmütterlichen Residenz waren noch nicht zu Ende. Es gab neben dem Garten noch einen Schweinestall mit drei ganz richtigen Ferkeln, die übrigens in ihrer rosigen Appetitlichkeit Gottfried nichts weniger als ferkelhaft, sondern höchst anmutig erschienen.

Und zehn Schritte weiter fand sich schließlich auch eine Hundehütte, deren rechtmäßiger Bewohner, ein großer, biederer Köter von sonderbarer Art, einem in der Mansardenwohnung hausenden Nachtwächter zugehörte. Mit Knurps, so sollte der Hund getauft worden sein nach Angabe der Frau Nachtwächter, ließ sich vor der Hand noch keine persönliche Freundschaft schließen, da man sich charakterlich leider zu wenig kannte; immerhin betrachtete man sich gegenseitig einstweilen mit großem Interesse, ja bald mit einem offenbaren Wohlwollen, das mit Winken auf der einen, mit trägem Schwanzwedeln auf der anderen Seite zum gebührenden Ausdruck gelangte.

 

28 Unter solchen Verhältnissen war es wohl kein Wunder, daß Gottfried Großmutters Wohnung dem Vorsteherhause vorzog.

Dazu kam, daß Gottfried im Elternhause nur ein deus minor, in dem der Großmutter dagegen ein deus major war, denn hier verhätschelte ihn die ganze Bewohnerschaft, durchweg ältere, kinderlose Leute. Nachtwächters aus der Mansarde nannten ihn mit einer gewissen Ehrfurcht den jungen Herrn, denn der Vorsteher war auch des Nachtwächters Vorgesetzter. Die Waschfrau im Parterre fuhr Gottfried, wo sie seiner nur habhaft werden konnte, mit ihren rosaroten Händen streichelnd über Wangen und Locken; und das alte Fräulein Meyer, die Nachbarin der Großmutter, die sie heimlich Wehmeyer nannte, ließ ihn Bilder ansehen und schenkte ihm Schokolade. Vollends Stine, die bucklige Aufwärterin, liebte ihn bald zärtlich und nannte ihn tagsüber wohl einhalbdutzendmal ihren Herzensliebling oder Goldsohn.

Im großmütterlichen Haus, Hof und Garten konnte Gottfried jedenfalls treiben, was er wollte, während zu Hause die Aufsicht ziemlich streng war. Auch war er hier, in der einsamen, romantischen Gartenherrlichkeit, ein souveräner Zaunkönig. Den Vorstehergarten dagegen mußte er mit den Geschwistern und dem Kindermädchen teilen, das mitunter gar noch die Vorgesetzte spielen wollte.

Es war erklärlich, daß der kleine Vorsteher es nachmittags kaum erwarten konnte, bis die Schule zu Ende war. Dann schoß er im schnellsten Laufe nach Hause, schüttete seine zwei Tassen Milch rasch hinunter, kaute hastig an seiner großen Pflaumenmusschnitte und bestürmte Großmutter meist schon vor der Zeit mit ihm nach Hause zu gehen, denn allein durfte er nicht fort.

Kaum waren sie beide in der neuen Gasse angelangt, so bat er voraus rennen zu dürfen, und Großmutter 29 erlaubte es viel zu gern. Heidi! wie gings da in sausendem Galopp die Gasse entlang, durch die Hausflur hindurch, zuerst zu Freund Knurps hinab, der bereits auf eine hoheitvolle Handbegrüßung Junker Gottfrieds mit Erheben und lebhaftestem Schweifwedeln antwortete; sodann zu den drei Rosenferkeln, denen natürlich die kleinen Rüssel mit einem Strohhalm gekitzelt werden mußten, worauf sie mit halb freudigem, halb entrüstetem Gequieke antworteten.

Weiter gings durch die Heckenlücke zum nachbarlichen Hühnerhof, woselbst mit den schäbigen Überresten der Abendstulle noch eitel Freude erregt wurde. Nunmehr schlenderte Friedel gemächlich durch den länglichen Garten, lugte durchs Laubenloch nach den Kaninchen, die freilich nur selten frei herumlaufen durften. Das Ende der abendlichen Inspektionsreise war dann der stolze Rundgang auf der Mauer, an der Roßweide entlang bis zum Wasserturm, wie Friedel den Eckpfeiler getauft hatte.

Waren die Fohlen da, so wurde die sichere Position natürlich nicht verlassen, der Feind jedoch um so kecker durch Ausfälle geärgert; waren sie nicht da, dann unternahm Gottfried auch eine Expedition auf die weite Wiese und pflückte einen Strauß von Hahnenfuß, Hirtentäschchen, Schafgarbe und Wegerich, ungefähr die einzigen Blumen, die der Gefräßigkeit der Fohlen entgingen. Den anspruchslosen Strauß verwandte Gottfried bald als Bestechungsmittel, d. h. er brachte ihn der Großmutter hinauf, um ihr noch ein Viertelstündchen Gartenzeit abzubetteln, bald als Tauschmittel, indem er ihn mit einigen Kratzfüßen zu Fräulein Wehmeyer trug, die nicht umhin konnte, den galanten Blumenspender mit einem Stück Schokolade oder gar mit köstlicher Quittenmarmelade zu belohnen.

So machten sich die Roßweidensträuße ganz gut bezahlt.

30 Spätestens um acht Uhr wurde Gottfried von der Großmutter unwiderruflich herauf beordert. Da galt es auch gehorchen, denn die alte Baslerin hielt sehr auf Pünktlichkeit und strikten Gehorsam.

Oben in dem behaglichen, mit alten Empiremöbeln ausgestatteten Wohnzimmer liebte es Großmutter jedoch, noch ein Dämmerstündchen zu halten, ehe die hochbetagte, aber immer blitzsaubere Rüböllampe, die Großmutter stets selber putzte, angebrannt wurde.

Zuerst fiel es dem lebhaften Jungen, der das Quecksilber in Person war, recht schwer, so ruhig in des seligen Großvaters breitlehnigem Birnbaumstuhl zu sitzen und zuzusehen, wie der Mond langsam über den wispernden Baumkronen heraufkam, vollends wenn dann Freund Knurps dazu vom Hofe sehnsüchtig heraufheulte, – und das Jauchzen der auf der Gasse Letzten spielenden Jugend verlockend zu den offenen Fenstern hereinklang.

Aber mit der Zeit ward das anders, denn Großmutter wußte gerade in diesen Abendstunden das Herz des schwer zu beeinflussenden Knaben so zu finden und an sich zu fesseln, daß es mitunter vorkam, daß Gottfried freiwillig früher heraufkam, Großmutter den sonderbar langgestreckten Liegestuhl aus Jamaika hinschob und sie bat, heute wieder so hübsch zu erzählen wie gestern und vorgestern vom Großvater und Urgroßvater oder vom Kaiser Napoleon und der Franzosenzeit oder auch vom fernverstorbenen Onkel Paul und der großen Revolution.

Und am allerinteressantesten ward es dann, wenn Großmutter noch ein halbes Stündchen zugab, die Lampe anzündete, den prachtvoll eingelegten Empiresekretär, der ganz nach Puder und Lafrancerosen duftete, aufschloß und aus einem der wunderbaren Geheimfächer allerlei Andenken und Familienschmuckstücke hervor holte. Da sperrte Gottfried vor Staunen oft den Mund weit auf; 31 denn zu einem jeden der Kleinodien gabs eine besondere Geschichte.

Da war z. B. eine uralte, golddurchwirkte Schärpe von irgend einem Vorfahren, angeblich einem hohen französischen Offizier, der unter dem großen König Ludwig XIV. aus Frankreich hatte fliehen müssen, weil er einen anderen Offizier im Duell erstochen hatte. Er selbst war nur leicht verwundet worden, doch war in der Schärpe das Loch zu sehen, das des Gegners Degen gerissen hatte.

In demselben Fache lag ferner das kleine Goldkreuzchen, das die Großmutter als Mädchen getragen, und das ihr einst ein italienischer Soldat der Armee Napoleons vom Busen gerissen hatte. Großmutter war damals vor Schrecken ohnmächtig geworden, der böse Soldat jedoch war ertappt, vor Gericht gestellt und schrecklich geprügelt worden, obwohl Großmutter selbst unter Tränen beim Kolonel um seine Begnadigung gebeten hatte. Seit jenem Tage hatte sie das verhängnisvolle Kreuz nicht mehr tragen mögen, es war ihr, als klebe Blut daran. Großmutter wußte gut zu erzählen und liebte besonders das Grausige recht auszumalen.

Kein Wunder, daß Friedel manchmal mit großen, erschrockenen Augen da saß und nicht eher ins Bett gehen wollte, als bis Großmutter auch mit käme. Ja, eines Abends, es war nach der Geschichte vom Geistertanz am Basler Spalentor, da litt es ihn sogar nicht mehr im eignen Bett, im Hemdchen mit bloßen Füßen tappte er zu Großmutter hinüber und bat sie unter Tränen, zu ihr ins Bett huschen zu dürfen. Und die alte Frau, die sonst gar streng war, erlaubte es ihm, denn sie war selbst ein wenig furchtsam.

Die Lust nach Abenteuern, die jedem gesunden Jungen eigen ist, ward bei Gottfried von nun an sehr durch die Furcht vor gespenstischen Phantasiegebilden gedämpft.

32 Er begann sich den langen Garten und die Roßweide mit allerlei geheimnisvollen Beziehungen auszuschmücken, ja sogar mit unheimlichen Wesen zu bevölkern, mit denen er sich des Morgens und tagsüber frech unterhielt, vor denen er sich aber nach Sonnenuntergang fürchten zu müssen glaubte, da er sich selbst nicht lächerlich vorkommen wollte.

Mit der Zeit fürchtete er sich auch wirklich. 33

 


 


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