Herm. Anders Krüger
Gottfried Kämpfer
Herm. Anders Krüger

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Drittes Kapitel

Herzeleid

Nach einer Abwesenheit von zehneinhalb Monaten kehrte Gottfried Kämpfer zum ersten Male nach Herrenfeld zurück, um die fünf Wochen seiner Sommerferien bei den Eltern zu verbringen.

Ein erhebendes Gefühl überkam ihn, als er mit dem getreuen Pastormatthes aus dem Eisenbahnabteil herausschaute und endlich wieder hohe, blaue Berge vor seinen Augen aufsteigen sah, die lieben, wohlbekannten Falkenberge. An Heimweh hatte er nie sonderlich gelitten, aber nun war es ihm doch, als habe er in der armseligen, melancholischen Heide die herrliche Heimatnatur oft genug vermißt. Funkelnd im Abendsonnenglanz lag sie jetzt vor ihm, reicher, farbenfroher denn je.

Die ganze Familie holte Gottfried am Bahnhof ab, und mit ehrlicher Freude flog er in die Arme der Eltern, küßte die Schwestern herzlich, schüttelte Klein-Guido kräftig die Hand wie einem ebenbürtigen Kameraden. Auch die Eltern von Matthes waren beide erschienen.

241 Nur Frau Bürglin fehlte, sie wartete daheim auf ihren Friedel; ihr war es in letzter Zeit gar nicht gut gegangen. Gottfried konnte es daher kaum erwarten, zu ihr zu eilen. Sobald er den Fuß auf Herrenfelder Pflaster gesetzt hatte, war er nicht mehr zu halten. Ohne lang zu fragen, stürmte er davon, die neue Gasse hinunter, zur Haustür hinein, riß auf der Treppe das ganz erschrockene Fräulein Wehmeyer beinahe um, und dann lag er hoch aufatmend in den Armen der überglücklichen Großmutter.

Der alten Frau Bürglin, die recht eingelegt hatte, wankten bald die zitternden Knie, und Gottfried führte sie schnell zu ihrem bequemen Lehnstuhl, kauerte sich ganz wie früher auf die Fußbank zu ihren Füßen, um wieder einmal ein köstliches Erzählen zu beginnen, das allerdings bald von der Großmutter mit den Worten unterbrochen wurde: »Mein Gott, Junge, was fällt uns nur ein, wir müssen ja zum Abendessen zu deinen Eltern gehen. Komm, komm schnell!«

Und geführt von dem Enkelsohne, schritt Frau Bürglin scheinbar rüstig dem Vorsteherhause zu. Dort wartete der Ankommenden eine fertige Abendtafel, an der heute zur Feier der Ankunft Gottfrieds auch die beiden kleinsten Geschwister, die sonst schon um sieben Uhr zu Bett mußten, teilnehmen durften.

Als sich nach der Mahlzeit, bei welcher der Girdeiner das große Wort hatte führen dürfen, die Großmutter empfehlen wollte, fragte Gottfried den Vater: »Darf ich Großmuttel jetzt erst heimbringen?«

Der Vorsteher lächelte halb verschmitzt, als habe er auf diese Frage gewartet, dann erwiderte er trocken: »Gegen das Heimbringen habe ich nichts einzuwenden, nur fürchte ich beinahe, du findest dich in der ägyptischen Finsternis (dabei glühte draußen der Himmel im hellsten Abendrot) nicht wieder zurück. Also ich meine, du schliefest gleich ganz bei der Großmutter, und da das Bett nun einmal für 242 dich frisch überzogen wird, so dächte ich, das gescheiteste wäre, – du bliebest die ganzen Ferien über Großmutters Schlafbursche.«

»Wie, ich darf? – Ho, famos!« jubelte Gottfried und sprang auf, um dem Vater und der Mutter dankbar die Hand zu küssen. Lächelnd wehrte der Vater ab, während die Mutter es sich wie in Gedanken gefallen ließ. Eine nicht ganz unberechtigte mütterliche Eifersucht regte sich leise in ihrem Herzen.

Das Glück, das sie ihrer geliebten Mutter in Gottfrieds Liebe schenkte, mußte sie immer wieder von ihrem eigenen Glück opfern. Und doch tat sie es schweigend, sie war ja so reich, sie konnte ihrer weniger reichen Mutter schon abgeben. Ja – sie wollte zufrieden sein, der alten Frau vergelten zu können, was sie ehedem für sie getan. Opfer um Opfer – Liebe um Liebe – auch für sie würde dereinst die Zeit der Ernte kommen, wenn sie Liebe gesät hatte. Und so kämpfte Frau Angelika ihre Eifersucht rasch nieder.

Erhobenen Gemüts ging Gottfried mit seiner geliebten Großmutter Arm in Arm über den einsamen Herrenfelder Platz – die Buchenhecken entlang – ganz wie ehedem. Die riesigen Silhouetten der hochragenden Platzlinden rissen sich noch deutlich von dem leuchtenden Abendhimmel ab, der süße Duft von tausend und abertausend Lindenblüten erfüllte die weiche Luft, und das Summen unzähliger Insekten klang leise wie ferne Sphärenmusik durch die weite Stille des herrlichen Sommerabends.

»Wollen wir nicht einen kleinen Umweg machen, Großmuttel? Es ist so schön heut abend.«

»Wenn du gern möchtest, komm, so gehen wir noch einmal kurz die Gottesackerallee hinauf. Das ist jetzt mein Lieblingsweg geworden.«

»Ach ja – da ists schön – da ists immer so lauschig am Abend.« Und Frau Bürglin und ihr Enkel schritten 243 langsam auf der Chaussee, die mitten durch Herrenfeld führt, entlang, bis sie der Apotheke gegenüber in die dunkle Allee einbogen. Weiter oben an dem gotischen Eingangstor hielten sie und schauten auf den dämmernden Friedhof, der in majestätischer Ruhe vor ihnen lag.

Beide schwiegen eine Zeitlang, endlich sagte Frau Bürglin leise: »Wie lang wirds dauern, Friedel, dann mußt du stets hier herauf kommen, um deine Großmutter zu grüßen.«

»Hier herauf? Das versteh ich nicht.«

»Ja, ja, ich bin in der letzten Zeit gar oft hier herauf gegangen und hab mir mein Ruheplätzchen schon ausgesucht.«

Jäh ward es Gottfried klar, was die Großmutter andeuten wollte, und in elementarem Schmerzgefühl schlang er die Arme um die alte Frau, preßte sie schluchzend an sich und rief: »Nein, nein, so was darfst du nicht sagen, liebes, liebes Großmuttel!«

Auch Frau Bürglin kamen die Tränen, als sie zum ersten Male wieder fühlte, wie sehr Friedel noch immer an ihr hing.

Sanft löste sie sich aus der Umklammerung des Knaben und beschwichtigte ihn: »Bscht, mein Junge, wir wollen uns den schönen Abend nicht verderben. Komm, laß uns nach Hause gehen und dort noch still ein bischen Wiedersehen feiern.«

Aber die harmlos glückselige Stimmung Gottfrieds war verflogen, auch die prächtigsten Erzählungen der alten Frau vermochten ihm die frohe Stimmung nicht wiederzugeben, und noch in der Nacht hörte ihn die Großmutter in seinem Bette leise schluchzen. Er konnte sich die Welt nicht ohne seine Großmutter vorstellen. Erst mit dem nächsten Morgen kehrte sein unbefangener Frohsinn völlig zurück.

 

244 In der Gemeine Herrenfeld hatte sich unterdessen gar manches verändert.

Der geheime Gegensatz der letzten Jahre zwischen den aristokratisch-konservativ und den mehr demokratisch-liberal gerichteten Geschwistern war durch Aufrollung von Verfassungsfragen nunmehr offen zutage getreten. Davon merkte der kleine Vorstehersohn zwar herzlich wenig; aber er sah seines Vaters früher so freie Stirn jetzt häufig bewölkt, sah in der Folgezeit so manches graue Haar darüber aufleuchten und hörte von Mutter und Geschwistern öfters die stille Klage: Vater habe nie mehr Zeit für sie, weil so viele Brüder mit ihm sprechen müßten.

In der Tat gab sich der Vorsteher, mit Bruder Friesen vereint, die erdenklichste Mühe, die aufgeregten Gemüter zu besänftigen und zum Frieden zu raten. Aber einmal merkte er immer deutlicher, daß man in ihm mehr das Parteihaupt als den Vermittler sehen wollte, anderseits konnte er sich selbst nicht verhehlen, daß es sich bei der ganzen Sache um eine historische Entwicklung handelte, die nicht schlechthin aufzuhalten war, sondern höchstens von besonnenen Männern in die richtigen Bahnen gelenkt werden konnte. Und so beschloß der Vorsteher, getreu seiner Bruder- und Beamtenpflicht, die Rechte der alten Brüderunität nach bestem Wissen und Gewissen, aber auch furchtlos zu vertreten und den Reformern die Gefahren, die ihre Neuerungen im Gefolge haben würden, unerbittlich vor Augen zu halten.

Gottfried sollte den inneren Zusammenhang zwischen den unsichtbaren Ursachen und den sichtbaren Wirkungen erst sehr viel später verstehen lernen. Er ahnte damals schwerlich, daß sich in manchen Gemeinen des weltfremden Brüderkirchleins, das bisher im glücklichen Besitze einer gesunden Überlieferung sein lautloses Dasein zugebracht hatte, gegen Ausgang der siebziger Jahre ein neues Leben zu regen begann.

245 Die fleißigen Moraven hatten sich vielfach, besonders in Herrenfeld, dazu gehalten, von dem industriellen und geistigen Aufschwung, der auf den großen Krieg gefolgt war, zu profitieren. Schon durch die vielen neuen, geschäftlichen Verbindungen waren die Brüder genötigt, mehr als bisher mit den Kreisen der sogenannten Welt Fühlung zu gewinnen. Es konnte nicht ausbleiben, daß nun auch manch einer der jüngeren Gemeinbrüder, mehr oder minder verständnisvoll, die freien staatlichen und städtischen Einrichtungen des neugeeinten Vaterlandes prüfte. Der geheimnisvolle Zeitgeist, für viele eine engelhafte Erscheinung, die Licht und Freiheit verbreitet, für ebensoviele ein düsteres, unbegreifliches Gespenst, das Verwirrung und Haß in die Gemüter unzähliger Menschen sät, streifte mit seinen Fittichen manches Gemeinlein der Brüderkirche, und vor allem in Herrenfeld glaubten sehr viele sein mächtiges Rauschen vernommen zu haben.

Im Bürgerzimmer des Gemeinlogis, vor allem aber in dem behaglichen Bierstübchen des Brüderhauses, wo ein guter Tropfen gleichermaßen an Gerechte und Ungerechte verschänkt ward, hörte man des öfteren, nicht nur gereiste Kaufleute und Schullehrer, sondern bald auch brave Handwerkmeister, die noch nie in ihrem Leben über den breiten Kamm des Falkengebirges geschaut hatten, allerlei schöne Worte von der Freiheit und Selbständigkeit der neuen Bismarckschen Ära, von der Herrlichkeit des allgemeinen Wahlrechts und der zwingenden Notwendigkeit persönlichster politischer und kommunaler Betätigung reden. Allen voran natürlich Bruder Seewolf, der doppelt genähte Sattlermeister, der jetzt ein wichtiger Mann zu werden begann. Er hatte bis zum Kriege wie sein Vater und Großvater Stuben tapeziert und Riemen geschnitten, gelegentlich wohl auch einmal ein hübsches Schaukelpferdchen gefertigt und war nun, wie über Nacht, ein ausstopfendes Genie geworden. Auf Anregung eines findigen Wagenbauers hatte er einmal ein 246 paar große Pferde ausgestopft, damit Anklang und zahlreiche neue Aufträge gefunden, ja kürzlich in Berlin bei der Ausstellung eine goldene Medaille erhalten. Der angehende Großindustrielle Seewolf kam nun öfters nach Berlin, besuchte mit Vorliebe den Reichstag und setzte seitdem seinen Mitbürgern mit großer Überlegenheit auseinander, was er unter einer konstitutionellen Verfassung mit demokratischer Grundlage verstehe.

Allzuviel erfaßten die meisten der braven Mitbrüder nicht, aber eines ward ihnen doch langsam klar: daß es so wie bisher mit dem Gemeinregimente nicht fortgehen dürfe, daß vielmehr ein jeder Bürger – direkt oder indirekt – jedenfalls irgendwie mit dreinzureden habe, und zwar nicht nur in der üblichen Gemeinversammlung, sondern durch eigene Vertreter in den niederen und oberen Behörden. Der verhängnisvolle Einfluß der vielen Studierten in der Unitätsdirektion sei ferner vom Übel, die allzugroßen Befugnisse der Ältestenkonferenz in der Einzelgemeine hätten zu einer ebenso ungerechten wie unmodernen Eigenwirtschaft geführt, die schleunigst abgeschafft werden müsse. Doch damit hatten diese liberalen und radikalen Reformer noch keineswegs genug. Die Gemeinverwaltung sollte nicht nur der Oberaufsicht der Unitätsbehörden entzogen, sondern auch finanziell von ihr völlig unabhängig gemacht werden, mithin ein Teil des großen Unitätseigentums und seiner reichen Einkünfte nunmehr der Einzelgemeine zur Bestreitung ihrer neuen Verwaltung überwiesen werden.

Mit diesem allgemeinen Programm trat man bald öffentlich und allenthalben hervor; und in der Tat, in vielen Gemeinen ward mit Erfolg für diese Ideen Propaganda gemacht. Nur wenige Gemeinlein blieben unberührt oder erklärten von vornherein, sie wollten sich ihren behaglichen Frieden nicht stören lassen.

Schon auf der nächsten deutschen Provinzialsynode in 247 Herrnhut kam es zu hartnäckigen Kämpfen, die eben, weil sie zu keinem Siege führten, daheim mit der Erbitterung des Guerillakrieges fortgeführt wurden. Herrenfeld stand obenan. Hier war das Hauptlager der Reformer, hier war jedoch einer ihrer Hauptgegner auf dem Plan und zunächst auch noch am Regiment.

Die beiden Gebrüder Kämpfer hatten auf der Synode mit viel Geschick und großer Energie das Prinzip der bisher gewahrten Einheitlichkeit in der Gemeinverwaltung zu verfechten gewußt, insbesondere der Herrenfelder Vorsteher. Ohne große Beredtsamkeit, aber mit der unwiderstehlichen Sachlichkeit des gewiegten Kenners und der unerbittlichen Schärfe eines logisch geschulten Verstandes, wies er den Liberalen nach: daß aus ihren Forderungen nicht nur ein unberechtigter Eigennutz spräche und darin der lokale Egoismus zum Prinzip erhoben werde, sondern daß damit auch jeder historischen Überlieferung ins Gesicht geschlagen, ja die Existenz der ganzen Brüderkirche aufs äußerste gefährdet werden würde. Die Unitätsverwaltung habe bisher die Gehälter sämtlicher Gemeindiener, habe alle Schulen, Kirchen und Missionen erhalten. Wolle man ihr nun einen erheblichen Teil der Einkünfte nehmen, so müsse die Einzelgemeine gerechterweise auch den dementsprechenden Teil der Lasten übernehmen, zum mindesten die für Schule und Kirche. Sobald man ferner eine gesonderte Kommunalverwaltung einrichten wolle, müsse man auch den zahlreichen fremden Einwohnern der Ortsgemeinen Sitz und Stimme zubilligen, und damit beginne notwendigerweise die Auflösung der rein brüderischen Gemeinwesen. Endlich fehle den Neuerern in jeglicher Beziehung das Recht, von dem Eigentum, das seinerzeit der Brüderunität in ihrer Gesamtheit vom Staat oder reichen Privatleuten geschenkt worden sei, irgend etwas als lokales Sondereigentum zu fordern. Nach ältester Überlieferung gehöre eigentlich der gesamte Grundbesitz der Unität, sogar das, 248 was die Bürger längst als ihr persönliches Eigentum zu betrachten gewohnt wären, stünde ihnen nach streng historischer Auffassung nur in einer Art von Erbpacht zu. Sie sollten daher in der Aufrollung der Besitzfrage vorsichtig sein.

Davon wollten die Liberalen natürlich nichts hören. Kaum einer von ihnen hatte sich jemals die Mühe genommen, sich eingehend und gründlich mit der Geschichte der Brüderkirche, geschweige denn mit ihrer schwierigen Verfassungsentwicklung zu beschäftigen. Nur wenige suchten nun Versäumtes nachzuholen, viele zogen lieber die ehrwürdigen Traditionen, von denen vielleicht manch eine unzeitgemäß und unbequem geworden war, ins lächerliche, spotteten nicht nur über den scheinbar sinnlosen Begriff der Unität – die nach modernen Rechtsanschauungen gar keine Eigentümerin sein könne – sondern nörgelten systematisch an vielen bisher geübten Bräuchen der Gemeine.

Nun kam die Reihe der Verteidigung an Bruder Friesen, der mit Prophetenblick die schlimmen Zeichen der Zeit deutete und den kommenden Verfall ankündigte. Mit einer Unerschrockenheit und Wucht, die vorher niemand bei dem kleinen, zarten Manne vermutet hatte, schleuderte er in seinen Predigten und namentlich in seinen engeren Gebetversammlungen diesen törichten Brüdern entgegen: »Ihr sät eine giftige Drachensaat in euren eigenen Mauern; ihr untergrabt die Autorität, gefährdet die Tradition überhaupt; ihr gebt selbst das verhängnisvolle Beispiel der Respektlosigkeit, die sich nur allzu schnell in euren eigenen Kindern zur Verachtung, ja zum Haß gegen alles Gemeinmäßige auswachsen wird. Als ein Geist unduldsamer und pietätloser Kritik zeigt sich der Zeitgeist jetzt –, als ein Geist rücksichtloser Verneinung und undankbarer Auflehnung wird er sich dereinst enthüllen. Heute ist es die Verfassung, vielleicht morgen schon sind die Lehren und Einrichtungen der Brüderkirche Gegenstand der Kritik. Anfangs wird es sich auch dabei um belanglose 249 Äußerlichkeiten handeln. Ob schließlich die Gemeinen von Gemeinhelfern, Vorstehern und Ältesten oder von Bürgermeistern und Kommunalräten geleitet werden, scheint zunächst ebenso gleichgültig für die innere Tüchtigkeit der Brüderkirche zu sein wie das Fallenlassen des Loses, der Liebesmahle, des Engelfestes, die Lockerung der Chordisziplin und Kirchenzucht, die Aufhebung des Tanz- und Kartenspielverbotes oder endlich der malerischen Kirchentracht der Frauen. Im Grunde aber geht mit all diesen äußeren Formen auch der innere Gehalt nach und nach verloren, weil eben das lautere Wesen und die trotzige Kraft des alten weltfremden und darin weltüberwindenden Moraventums mit seiner Überlieferung und seinen Bräuchen unlösbar zusammenhängt.«

»Kommen wird einst der Tag, da die heilige Ilion hinsinkt,« so schloß der alte Humanist Friesen eine seiner gewaltigsten Bußpredigten, »und dann werdet ihr und eure Kinder weinen, wie Israel weinte an den Wassern zu Babylon! Fuimus Troes! Wir waren einst eine Gemeine von Brüdern, so wird unsere Klage dann tönen, aber wir sind es nicht mehr und können es nie mehr wieder werden! Möge uns Gott der Allmächtige davor bewahren und den bösen Geist der Zuchtlosigkeit unter uns dämpfen, wie Josua die Amalekiter dämpfete. Amen!«

 

Gottfried und Matthes saßen auch in dieser Predigt; aber ihre Gedanken waren ganz und gar nicht bei dem Untergange Ilions oder dem der Gemeine, auch nicht bei dem amalekiterdämpfenden Josua, sondern bei einer militärischen Parade, die sie unmittelbar nach der Predigt auf dem Kunkelberge über einige frühere Herrenfelder Kameraden abhalten wollten. Die Zeit war klug gewählt, denn nach 250 der Sonntagspredigt hatten beide Väter stets amtliche Besuche abzufertigen, beide Mütter den Sonntagsbraten oder anderes Wichtige zu besorgen.

Die beiden Girdeiner hatten ihren früheren Klassengenossen viel erzählen müssen, nichts jedoch hatte größeren Eindruck auf die Zuhörer gemacht als die Schilderung des Girdeiner Regiments.

Gottfried, der den Augenblick benutzte und seinen früheren Räubern vorschlug, sofort mit Exerzierübungen zu beginnen, fand begeisterte Zustimmung. Kurz entschlossen ernannte er sich selbst zum Leutnant, Matthes zum Unteroffizier, einen anstelligen Herrenfelder Kaufmannsohn zum Gefreiten, und die Kompagnieschule begann.

Bald ging es ganz prächtig, und schon nach einer Woche konnte die interessantere Felddienstausbildung ins Auge gefaßt werden. Vorher sollte noch eine feierliche Sonntagsparade die Ausbildung der Mannschaften abschließen. Natürlich war Sonntaganzug befohlen, die Vorgesetzten legten Gala an. Gottfried hatte sich heimlich aus einer alten, roten Gardinenschnur ein paar Achselstücke zurecht gedreht und die mitgebrachte Exerziermütze aufgesetzt, Matthes endlich hatte sich von Vaters blauer Schlafrockschnur soviel abgeschnitten, um sich die Achsel ähnlich wie der Herr Leutnant in Blau zu schmücken. Für die militärische Feier hatte Gottfried den alten Spielplatz bestimmt, der früher einmal Steinbruch gewesen sein mochte und noch auf zwei Seiten von steinigen Hängen umgeben war.

Die Parade nahm ihren Anfang, sobald der Herr Leutnant erschien. Er schritt würdevoll die Front ab, fand die Richtung ausgezeichnet und wollte eben das Kommando zu den Marschbewegungen geben, als es plötzlich auf dem westlichen Seitenhang des Spielplatzes lebendig ward und höhnische Rufe laut wurden: »Lumpenparade, Lumpenparade!«

251 Gottfried war es, als kenne er eine dieser Stimmen, und richtig – jetzt sah ers auch deutlich – da stand Ibikus und neben ihm ein paar Lehrjungen, die augenscheinlich zu einer solennen Prügelei aufgelegt waren. Im ersten Augenblicke dachte Gottfried daran, den Hang im Sturm zu nehmen und noch einmal mit dem Totengräbersohne abzurechnen, dann aber fiel ihm ein, daß es Sonntag wäre, daß man im guten Anzuge unmöglich raufen könne, daß ferner ein Kampf mit den derben Lehrjungen aussichtlos sein dürfte, noch dazu in ihrer starken Position. Ein ehrenvoller Rückzug schien das klügste zu sein. Und so kommandierte Gottfried so schneidig wie nur irgend möglich: »Stillgestanden! Das Gewehr über. In Sektionen vom rechten Flügel abmarschiert. Bataillon marsch!«

Johlendes Gelächter scholl vom Feinde herüber, er schien nicht übel Lust zu haben, die Verfolgung aufzunehmen; aber ein paar nahende Spaziergänger hinderten ihn augenscheinlich daran.

In guter Ordnung marschierte Gottfrieds Kolonne nach Herrenfeld ein, ward auf Matthes klugen Rat nach dem großen Gemeingarten hinter der Kirche geführt, und hier, im eigensten Reiche des Vorsteher- und Pastorsohnes, ward die abgebrochene Parade ruhig und glorreich zu Ende geführt.

Wenige Tage darauf gelang es bei einer Felddienstübung zufällig dem braven Unteroffizier Matthes, auf Ibikus zu stoßen und ihn gefangen zu nehmen. Im Triumph ward er vor den Herrn Leutnant gebracht. Für einen Moment zuckte in Gottfried die Rachsucht auf, dann aber ward er sich seiner Würde als Girdeiner Senior bewußt und bedeutete seinen Soldaten mit pathetischer Gebärde: sie sollten den elenden Spion nur laufen lassen, er verachte ihn.

Ziemlich verblüfft, aber grimmig trollte sich Ibikus davon. Und Gottfried hatte das stolze Bewußtsein, seinen letzten Überfall auf Ibikus, vom 3. September des vorigen 252 Jahres, nunmehr wieder gut gemacht zu haben. Sein Gerechtigkeitsgefühl war befriedigt.

Die vier Ferienwochen verflogen schnell, und doch freute sich der Vorstehersohn im geheimen wieder auf Girdein mit seinem geregelten, abwechslungsreichen Anstaltsleben. Er fühlte von Woche zu Woche mehr, daß er keinen rechten Boden mehr in Herrenfeld hatte.

Geistig schienen ihm die früheren Schulkameraden, die Geschwister nur wenig bieten zu können, was waren sie gegen seine Stubengenossen? Die Eltern hatten beide viel zu tun. Die Mutter war mehr Konferenzschwester als früher. Tag für Tag galt es Ehechorschwestern zu besuchen. Der Vater hatte erst recht den Kopf voll, auch wenn er sich gelegentlich für seinen Sohn hergab und z. B. mit ihm spazieren ging.

Dabei ward nicht viel geredet, Gottfried suchte Raupen und Käfer, der Vater hing meist seinen Gedanken nach, wie er der Gemeine Frieden schaffen und dem neuen Geist und dem Verlangen nach gesunden Reformen gerecht werden könne, ohne die alten Rechte zu verletzen. Von Zeit zu Zeit stellte der Vorsteher auch wohl einzelne Fragen an seinen Sohn, die Friedel bisweilen unangenehm an ein Examen erinnerten.

Gottfried verglich diese Spaziergänge im stillen unwillkürlich mit denen, die er an der Seite Bruder Lechners gemacht hatte, und der Vergleich fiel nicht zugunsten der ersteren aus. Warum konnte Vater nicht so zu ihm sein wie die Brüder Lechner und Schmiedecke oder wenigstens wie Bruder Loskiel? Vielleicht weil der Vater nicht Lehrer war und es nicht so mit Kindern verstand, oder weil er als Vorsteher mehr für die anderen Leute dazusein hatte, oder weil es ihm langweilig war, sich mit einem kleinen Jungen abzugeben? Doch halt! Machte er, Gottfried, es bei Guido nicht ebenso?

253 Hatte jedoch der Vater nicht größere Pflichten als er, der nur ein älterer Bruder war? Wer mochte es entscheiden? Plötzlich stieg der Gedanke in Gottfried auf: sein ganzes Grübeln und Vergleichen könne zu einer Sünde gegen das vierte Gebot werden, und erschrocken stand er davon ab.

Sofort nach der Rückkehr suchte er vielmehr Guido und die Schwestern auf und erzählte ihnen von Girdein, ja er zeigte dem jüngeren Bruder ausführlichst, wie man einen Schmetterling richtig aufspannt. Den nächsten Tag spielte er dann mit allen, auch mit den Schustern, Ritter und Knappe, den übernächsten Tag gab er ihnen sogar Turnunterricht. Und so ging es fort, bis der Abschiedstag herankam.

Da fühlte er leise, daß ihm plötzlich die Geschwister lieber geworden seien denn zuvor, und er nahm sich ernstlich vor, in den nächsten Ferien wieder recht viel mit ihnen zu spielen.

 

Eine jede schlesische Landschaft trägt einmal im Jahre ihr besonderes Staats- und Lieblingskleid.

Die breiten Waldrücken der rundlichen Sudetenberge und die wildromantischen Gießbachtäler zwischen ihnen werden zwar im Sommer am meisten besucht und genossen, aber ihre volle Schönheit offenbaren sie nur dem Kenner im funkelnden Schneeschmuck kalter Wintertage oder gar im Zauberglanze sternklarer Winternächte.

Die idyllische Hügellandschaft Mittelschlesiens mit ihren behaglichen, rotdachigen Dörfern zwischen Wiesen, Büschen und Teichen, will im ersten frischen Lenzesgrün gesehen und bewundert sein.

Die reichen, mächtigen Felder Oberschlesiens brauchen des Hochsommers reifen Goldglanz, um imponierend zu wirken.

254 Und die armselige, bescheidene Heide Niederschlesiens wartet jedes Jahr sehnsüchtig auf den Zauberer Herbst, der sie, das verachtete Aschenbrödel, für flüchtige Wochen köstlicher schmückt als ihre üppigen Schwestern.

Der kleine Gottfried hatte davon keine Ahnung, hatte er doch noch keinen Herbst in Girdein verlebt. Nun aber, als Bruder Lechners große Herbstspaziergänge begannen, – jeden Mittwoch und Sonnabend nachmittag – da ging es ihm auf wie eine Offenbarung Gottes.

Wenn es um 3 Uhr nach der Arbeitzeit hinausging, schlug das Herz der Knaben jedesmal höher. Drei Stunden durften sie laufen, hinaus in die weite, endlose Welt, die ihnen jetzt in so verlockend bunten Farben ringsum entgegenleuchtete. Erst marschiert man über prächtig goldgelbe Wiesen, die Hunderte von Gräben und Wasserrinnen wie blitzende Silberadern durchziehen. Lustig setzen die Buben hinüber, Bruder Lechner voran, und endloser Schadenjubel ertönt, wenn irgend ein Tolpatsch zu kurz getreten ist und einen braunen Stiefel quatschend aus dem noch eben so strahlend klaren Moorwasser zieht. Hurtig gehts weiter, hinüber zum graugrün flimmernden Föhrenwald, und bald ist der nasse Fuß wieder trocken, so trocken wie die knirschenden blinkenden Kiefernadeln des Bodens.

Ein kurzer Halt wird gemacht. Die Tausende und Abertausende schwarzblauer Heidelbeeren kann man nicht ungerupft stehen lassen. Doch schnell ist der flüchtige Kosthunger gestillt. Allmählich kommt man zum Walde hinaus und sieht tief unten zwischen glitzernden Birken und rötlichen Ebereschen einen lieblichen See heraufleuchten. Im Sturmschritt sausen die kühnen Welteroberer den buschigen Hang hinab, um sofort am Seeufer die harmlose Kunst zu üben, mit flachen Steinen »Butterschnitten zu schmieren.« Pfeifend und klatschend fliegen die Steine über den majestätisch ruhigen Spiegel des Sees. Bald ist rings kein flacher Stein mehr 255 zu finden, und der Ehrgeiz der Könner und Nichtkönner nimmt ab.

Bruder Lechner weist verführerisch hinüber zu dem gegenüberliegenden Gestade, von dem mächtige Eichenriesen im prunkenden Herbstkleid herüberfunkeln, dazwischen die dunklen Strohdächer einsamer Heidehäuser in grünem Samtschimmer – ja da hinüber möchten sie alle, aber Kähne, Kähne! Ein Königreich für einen Kahn! Da – wirklich hat einer einen breiten Heukahn entdeckt, tief im Schilf liegen wie verloren auch zwei schlanke Entennachen – aber die Fährleute fehlen. Bruder Lechner winkte lachend ab, er will keines der ihm anvertrauten Leben durch Leichtsinn gefährden und kennt den leichtsinnigen Wagemut seiner tollköpfigen Buben zur Genüge.

»Nein, heute gehts nicht – heute müssen wir zur Heideschenke!«

Das Wort tröstet schnell und ermuntert zugleich zu neuer Wanderlust.

»Ja, ja, – zur Heideschenke – hurra!« gellt es jauchzend zurück, und stramm, im Girdeiner Schritt, geht es auch schon seitwärts durch die dichte Halbschonung. Wieder gibt es einen kurzen Aufenthalt. Auf dem schmalen Sandweg zwischen Schonung und Hochwald haben zahllose Ameisenlöwen ihre tückischen Trichterfallen gestellt, und mit stummem Staunen und verhaltener Aufregung sieht man hier und da dem heißen Ringen zwischen Ameise und Löwe zu. Dann klatscht Bruder Lechner in die Hände, es ist das Zeichen zu neuem Wandern, fort über den schwellenden Moosteppich, auf dem in tausend Lichtern die sinkende Sonne spielt. Lang, lang geht es jetzt unter hohen, rostroten Kiefernstämmen dahin, endlich winkt ein Stückchen blauer Himmel. Im Hallo galoppiert man zum Walde hinaus, plötzlich – staunend steht alles still.

In purpurner Pracht liegt endlos weit wie ein stille 256 glühender Ozean die blühende, duftende Heide vor den Knaben – umsäumt vom wolkenlosen Abendhimmel, zu dessen Horizont der schwere dunkelrote Ball der tagesmüden Sonne hinabsinkt. Minuten des ehrfürchtigen Schweigens folgen, dann stößt ein Übermütiger keck einen fröhlichen Juchzer aus. Da regt sich was – im Mittelplan des weiten Feldes.

»Seht nur – seht!« Lange Hälse recken sich dort über dicken, kurzen Leibern empor – ein leiser Schrei – und ein Trupp seltsamer Laufvögel stiebt flüchtend nach rechts davon.

»Was war das – doch nicht eine Herde Strauße – Kasuare – Unsinn – nein Kraniche vielleicht – oder Flamingos?« so stürmt es auf Bruder Lechner ein.

Er lächelt ruhig und sagt: »Denkt doch nach, Jungens! Strauße gibts nur in der heißen Zone, Kasuare gar nur in Australien, Kraniche fliegen lieber und laufen nicht erst, und Flamingos sind rosarot und wohnen am Mittelmeer. Was gibt es denn bei uns für Laufvögel?«

Nun geht ein Raten an, aber keiner trifft das Richtige, bis endlich Bruder Lechner den Knoten löst, indem er sagt: »Es waren Trappen.«

Darauf lagert man sich malerisch ins Heidekraut zum Vespern, und Bruder Lechner muß von Trappen erzählen und von den Straußen und Flamingos, bis es endlich heimwärts geht durch den schweigenden, dämmernden Wald.

Am nächsten Sonnabend holten sich drei von der vierten Stube, darunter auch Gottfried, aus der Bücherei allerlei Naturgeschichtbücher, in denen etwas über die Trappen zu finden war. Nebenbei studierten sie darin das Leben allerlei anderer Tiere. Ein neues Interesse ist geweckt und bleibt wach.

Prinz Löwenstein aber schrieb seiner Mama einen begeisterten Brief über den letzten Spaziergang, der gemütvolle 257 kleine Reichsgraf endlich schickte den Seinigen gar einen Zweig gepreßtes Heidekraut als sinnigen Beweis seiner Wanderleistung.

 

Schon mehrere Wochen war nun Gottfried wieder in Girdein, und noch immer war er nicht von Tante Laura eingeladen worden. Gleich nach der Rückkehr hatte er ihr Grüße bestellen wollen, hatte aber verschlossene Türen gefunden.

Nun setzte er sich eines öden Sonntag nachmittags hin – da ihn die Sehnsucht nach Tante Lauras würziger Schokolade und den appetitlichen Törtchen gar zu heftig überkam – und schrieb einen diplomatischen Brief, in dem er seine schon etwas altbackenen Grüße ausrichtete und sich sehr eingehend nach dem Ergehen der Tante erkundigte.

Darauf erhielt er eines Tages einen duftigen, schmalen Brief von fremder Hand. Eine ihm völlig unbekannte Dame ersuchte ihn, recht bald zu ihr zu kommen, wenn er die Tante noch einmal sehen wolle, es ginge ihr sehr schlecht.

Am nächsten Sonntag wollte er hingehen, aber wie erschrak er, als Bruder Schmiedecke ihm auf seine Bitte um Ausgangserlaubnis erklärte: »Deine Tante ist gestern nachmittag gestorben und schon abends ausgeblasen worden.«Jeder Todesfall wird in der Gemeine durch Blasen dreier Choräle, die je nach der betreffenden Chorangehörigkeit des Gestorbenen wechseln, öffentlich bekannt gemacht.

Trotzdem schickte er Gottfried zur Wohnung der Tante, und dort wurde dieser von zwei Baseler Damen empfangen und zu der schon aufgebahrten Toten geführt.

Es war die erste Leiche, die Gottfried zu sehen bekam. Mit einer gewissen Neugier und einer leisen Furcht trat er hinzu und wunderte sich unaussprechlich darüber, daß nun die quittegelbe Tante mit den großen Pfropfenzieherlocken 258 ihre sonst so ruhelosen, stechenden Augen, ebenso wie ihre ehedem so beweglichen Hände, ganz still und geschlossen hielt. Aber trotz der Ruhe, trotz des schönen, blendend weißen Totenkleides, trotz des feierlichen Blumenschmucks sah die Tante nicht eben friedlich aus, und so ganz geheuer schien Gottfried die Sache nicht zu sein.

Ob die Tante nicht am Ende bloß scheintot war? So etwas sollte doch mitunter vorkommen. Oder ob die Tante vielleicht nicht in den Himmel gekommen war? Sie sah gar so unzufrieden aus. Ihm fielen ihre Musikwerke ein und die Engelstimmen, auf die sie gerechnet hatte. Wahrscheinlich hatten die Engel aus Angst vor ihrer bösen Zunge nicht singen wollen. Dann erinnerte er sich an ihre Elektrizitätprüfungen. Er hätte fürs Leben gern die kleine schwarze Kapsel geholt und ausprobiert, ob die tote Tante immer noch elektrisch wäre. Pfui, jetzt so etwas zu denken – er schämte sich.

Doch bald gingen Gottfried wieder allerlei Gedanken und Fragen durch den Kopf, – z. B. auch die, ob das kleine Schlossermädchen endlich den ersehnten Erbstuhl erhalten werde – nur ein Gedanke schien ihm an dieser Bahre gar nicht kommen zu wollen – nämlich der des Schmerzes.

Erst als ihn die jüngere Baseler Dame fragte, ob er nicht sehr traurig wäre, fiel ihm schwer aufs Herz, daß er jetzt Sonntags nie wieder Schokolade und Törtchen haben würde, und die langweiligen Nachmittage immer in der Anstalt werde verbringen müssen. Da antwortete er mit voller Überzeugung: »Ja – es tut mir schrecklich leid, daß ich nun nicht mehr zu Tante Laura kommen kann.«

»Armer Junge« sagte darauf die ältere der beiden Damen, als sie Gottfried in das Wohnzimmer zurückführte, »hast du denn sonst keinen Bekannten hier?«

»Nein«, antwortete Gottfried rasch.

»Nun, da will ich dir etwas vorschlagen. Wir bleiben 259 ein paar Wochen hier, und da kommst du so oft wie möglich zu uns. Hast du Lust?«

»Ei, das ist sein, o ja, danke! da kann ich wohl auch Donnerstags kommen von 1–2, da ists auch erlaubt, ja darf ich?«

»Jawohl, sehr gern« sagte die neue Tante lächelnd und forderte den Pflegegenossen zu seiner größten Freude auch sofort auf dazubleiben, während ihre Tochter sich der Bedienung des kleinen Gastes annahm. Damit war es um die Trauerstimmung Gottfrieds vollends geschehn.

Vom Wesen des Todes hatte er keine Vorstellung, obwohl er beim Begräbnis der bösen Tante Laura wirklich zu Tränen gerührt wurde durch die würdige Rede des Gemeinhelfers, Bruder Helmerding. Mit gutem Anstand und offenbarem Ernste trug er sodann einen schweren Kranz dem Sarge Tante Lauras nach. War er doch der einzige männliche Anverwandte – auf dem heute vieler Augen neugierig ruhten.

Tante Lauras Testament war, wie zu erwarten stand, sehr sonderbar ausgefallen, und die Baseler Tanten kamen in große Verlegenheit. Für das Schlossertöchterchen war nur eine Rute bestimmt, doch Gottfried setzte es bei den neuen Tanten durch, daß auch der Erbstuhl ihr überwiesen ward. Gottfried selbst war mit einem Band »Daheim« und einem Kuchenteller bedacht worden. Es war derselbe Teller, auf dem ihm bisher die geliebten Törtchen vorgesetzt worden waren. Zur Lieferung der Törtchen hatte die Tante übrigens hundert Taler hinzugefügt, doch davon erfuhr Gottfried auf Wunsch des Vorstehers einstweilen nichts.

 

Auf der vierten Stube ward für gewöhnlich gut gearbeitet, aber in der heutigen Arbeitzeit wollte es gar nicht 260 flecken, die Aufregung war zu groß. Sonst war es mäuschenstill im Raum, so still, daß man mitunter die brennenden Hängelampen brummen hören konnte, keiner wagte aufzusehen, keiner mit dem Stuhl zu keppen, höchstens der dicke Prinz Löwenstein, der einen Polypen in der Nase haben wollte, schniefte oder stöhnte gelegentlich auf, wenn er mit seiner Fehlerverbesserung gar nicht ins klare kommen konnte.

Heute war jedoch allgemeine Unruhe, denn für ½6 Uhr war Hausversammlung angesetzt worden, und das hieß fast immer: eine wichtige Veränderung steht bevor. Kam vielleicht ein neuer Mitdirektor? Der jetzige hatte während der Ferien einen Ruf nach einer anderen Gemeine erhalten und würde also wohl zu Michaelis fortgehen. Oder sollte ein Lehrer abberufen sein?

Da – endlich läutet es, man stürzt eilends hinaus auf den Gang; eine Stubengesellschaft nach der anderen kommt an – dann die aufsichtfreien Lehrer, der Mitdirektor und Bruder Loskiel. Nach freundlichem Gruß, der im vollen Chore erwidert wird, beginnt er:

»Meine lieben Hausgenossen! Ihr wißt ja bereits, daß mein lieber Gehilfe, Bruder Wilkens, euer Mitdirektor, uns in den nächsten Tagen verlassen wird, um sein neues Amt anzutreten. An seine Stelle wird Bruder Wurter aus Herrnhut treten, dem wir mit Vertrauen und Liebe entgegen kommen wollen. Gerade das Amt eines Mitdirektors, zu dem ja in erster Linie die Seelenpflege in unserem Hause gehört, ist ein Vertrauensamt. Gebe der Herr seinen Segen auch weiterhin dazu. Und nun habe ich euch, liebe Hausgenossen, noch eine Veränderung mitzuteilen, die zunächst einen schweren Verlust für unser Haus bedeutet. Bruder Lechner, unser geliebter, von uns allen wegen seiner frischen und dabei stets aufopferungsvollen Art so hoch verehrter Bruder, hat einen Ruf zur Mission im Himalaja erhalten und ihn, als Gottesfügung, ohne Zaudern angenommen. 261 Wir verlieren viel an ihm – aber andere werden an ihm gewinnen – andere, die ihn vielleicht nötiger haben als wir – arme Heiden, denen er das Licht des göttlichen Evangeliums, die Lehre von der göttlichen Liebe, bringen soll. Das sei unser Trost bei unserm Abschiedschmerz. Und nun geben wir unsern beiden Scheidenden nach der Sitte unseres Hauses das Geleite, indem wir singen:

Der Herr gesegne und behüt
Euch als die lieben Seinen;
Der Herr laß euch voll Gnad und Güt
Sein freundlich Antlitz scheinen;
Der Herr, euer Trost und Licht,
Erheb sein Angesicht
Auf euch mit Frieden aus der Höh
Und schenk Euch seine liebe Näh.«

Während des Gesanges gaben die Scheidenden jedem einzelnen die Hand.

Weihevoll klang der Segensvers über den weiten Hausgang, aus vollem Herzen wünschten die Sänger alles Gute und sangen mit frischen Kehlen. Nur da, wo die vierte und dritte Stube stand, da brachte manch einer trotz der redlichsten Gesinnung keinen Ton aus der Kehle vor würgendem Weh.

Matthes hörte man zwischen den Choralpausen vernehmlich schluchzen, und Rodbeck, dem ehemaligen Senior, liefen die hellen Tränen über die Wangen, als ihm Bruder Lechner die Hand gab und ihn liebevoll dabei ansah. Der dicke Prinz Löwenstein seufzte ungewöhnlich tief auf und machte in seiner völligen Verwirrung eine Art Hofknix; Greiningen sagte ganz laut und trotzig: »Ich kann Ihnen nicht adieu sagen,« während Zehwen möglichst laut sang, um seiner Bewegung, deren er sich scheinbar schämte, einigermaßen Herr zu werden. Gottfried war totenblaß geworden, ihn hatte die Nachricht wie ein Blitz aus heiterm Himmel getroffen, 262 er konnte sie gar nicht fassen. Singen konnte er nicht, aber weinen auch nicht. Nur das eine fühlte er instinktiv, als er Bruder Lechner wie geistesabwesend die Hand zum Abschied gab, daß er nie wieder einen Lehrer so lieb haben würde wie den Scheidenden.

Da nach der Hausversammlung auf der vierten Stube erst recht nicht mehr ordentlich gearbeitet wurde, so hatte der sonst unerbittlich strenge Bruder Schmiedecke heute ein Einsehen, befahl bei Zeiten »Schluß« und führte seine Pflegebefohlenen rasch auf den Schlafsaal.

Vielen, ja den meisten war es recht. In der ungestörten Einsamkeit des Bettes konnte man darüber nachdenken, was man an Bruder Lechner verlor, und manch einer fand erst hier die stillen Abschiedtränen, deren er sich vor den andern geschämt hatte.

Gottfried weinte wie ehedem bei der Großmutter. Je mehr er nachdachte, um so klarer ward es ihm, daß er nächst der geliebten Großmutter an keinem Menschen so hing wie an Bruder Lechner. Und warum mußte er gerade ihn verlieren, warum mußten ihn die dummen, stumpfsinnigen Tibetaner bekommen, die doch keine Spaziergänge mit ihm machen würden, die ihn überhaupt nicht schätzen würden. Die Mission sollte ja etwas Großes und Herrliches sein, aber war sie einen solchen Mann wert? Sollte er die Mission hassen? Schade, daß er noch nicht erwachsen war, sonst wäre er sofort mit Bruder Lechner zum Himalaja gereist und hätte mit ihm Heiden bekehrt. Über diesem heroischen Entschluß schlief er endlich ein.

Am nächsten Morgen schickte die vierte Stube auf Greiningens Vorschlag eine feierliche Deputation zu Bruder Lechner, um ihn zu bitten, doch lieber in Girdein zu bleiben und nicht zum Himalaja zu reisen. Freundlich, aber merkwürdig ernst erwiderte Bruder Lechner:

»Ihr wißt doch, daß man halten muß, was man gelobt 263 hat; und ich habe mich einst dem Heiland gelobt, und nun ruft er mich, also gehe ich. Damit ihr aber wißt, wohin und warum ich gehe, werde ich euch morgen abend statt der Arbeitzeit eine Missionsstunde halten.«

Und dann erzählte Bruder Lechner so rührend von dem Elend der halb vertierten Untertanen des Dalai Lama, so begeistert von den Schönheiten der Himalajatäler, daß am Ende jeder der kleinen Zuhörer, vor allem Gottfried, völlig überzeugt war, daß Bruder Lechner dem Rufe unbedingt Folge leisten müsse. Und als Bruder Lechner sie gar noch aufforderte, ihm zu schreiben, ja ihnen versprach, wieder zu schreiben und ihnen seltene Marken von Nepal und Kaschmir zu senden, da waren alle zufrieden gestellt.

Dann veranstaltete man eine Sammlung für die armen Heiden, zu der auch einige Väter brieflich herangezogen wurden, so daß dem zukünftigen Missionar schließlich 123 Mark mitgegeben werden konnten.

Nach einem herrlichen weiten Nachmittagspaziergang nahm dann Bruder Lechner noch einmal einen besonderen, stürmischen Abschied von seinen getreuen Vierten, von denen ihn wohl kaum einer vergessen hat, wenn ihm auch kein andrer später geschrieben hat als Gottfried Kämpfer.

 

Nach den Michaelisferien ward Gottfried zu seiner großen Überraschung auf die zweite Stube versetzt, anstatt, wie er erwartet hatte, auf die dritte. Zu seiner noch größeren Überraschung und Freude ward er hier wieder mit dem ehrlichen Schniefke, seinem ehemaligen Senior Rodbeck, vereinigt; ja Bruder Loskiel hatte sogar veranlaßt, daß die alten Freunde ihre Tischfächer und Wandschränke nebeneinander erhielten und somit Nachbarn wurden.

Von Matthes, der auf die dritte Stube kam, mußte sich 264 Gottfried nun trennen; das tat ihm herzlich leid, er hatte den braven, treuen Kameraden lieb gewonnen wie ein Stück Heimat, ohne es sich recht bewußt zu werden. Auch Zehwen und Greiningen wurden Dritte, während der dicke Löwenstein noch immer keine Aussichten hatte, bald in die ersehnte Quarta zu kommen und daher auf 4 besser aufgehoben war als auf 3, wo meist sogenannte Unterquartaner waren.

Gottfried fühlte sich anfangs etwas unbehaglich auf der zweiten Stube. Er merkte sehr schnell, daß er im Gegensatz zu den bisherigen Verhältnissen jetzt als einer der jüngsten eine mehr untergeordnete Rolle spielen mußte, und das fiel ihm schwer. Er mühte sich jedoch ehrlich, und Rodbeck half ihm treulich die törichten Vorurteile zu bekämpfen. Immer wieder wollte es Gottfried scheinen, als sähe man ihn ob seines schnellen Avancements von 4 auf 2 nicht ganz für voll an, und so sehnte er sich oft nach der unvergeßlichen 4. Stube zurück, auf der es viel schneidiger gewesen war, wie er Rodbeck gegenüber oft betonte. Nur die Stubenvorrechte der Zweiten imponierten Gottfried. Er durfte sich seine eigene Tinte halten, durfte an den freien Nachmittagen ohne Lehrer im Orte einkaufen gehen – allerdings nur von 1 bis ½2 Uhr – durfte endlich auf besonderen Wunsch, wenn es einmal viel zu tun gab, abends bis ½10 Uhr aufbleiben. Kurz, er war fast schon ein Erwachsener, wie es die Ersten wirklich zu sein schienen. Wer weiß, wenn er zu Ostern nach Tertia versetzt würde, konnte er wohl auch Erster werden.

Und er ward beides in der Tat, wieder mit Rodbeck zusammen. Jetzt regte sich der Stolz gewaltig in seiner Brust – Tertianer und Erster – damit konnte er sich auch in Herrenfeld sehen lassen, wenn die Ferien kamen.

Aber diese Hoffnung ward nicht erfüllt, zu Gottfrieds größtem Leidwesen. In Herrenfeld war das Scharlachfieber ausgebrochen, Bruder Loskiel fürchtete Ansteckung und bat 265 um Änderung der Ferienanordnung bei den Eltern. So reiste denn Gottfried mit Matthes, der in gleich unglücklicher Lage war, nach Herrnhut zu Verwandten.

Gottfried wohnte dieses Mal nicht wieder bei Vaters Bruder, der indessen nach Bertelsburg in die Oberbehörde berufen worden war, sondern bei einem Vetter seiner Mutter, einem höchst sonderbaren alten Junggesellen, der in der Verwandtschaft Vetter Igel hieß, nicht nur seines stets borstig gesträubten Kopfhaars sondern auch seines etwas widerhaarigen Charakters wegen.

Onkel Philipp, genannt Igel, war kein großer Freund von verwandtschaftlichen Rücksichten, aber in diesem Falle hatte er sich freiwillig zur Aufnahme des Neffen angeboten. Er hatte nämlich von Gottfried nicht viel Gutes gehört und interessierte sich deshalb für den Jungen. Umgekehrt hatte man Gottfried über den Onkel allerlei Kurioses erzählt. Kurz, Oheim wie Neffe erwarteten etwas voneinander.

Beide stellten sich zunächst so borstig wie nur irgend möglich und fühlten doch beide nach 24 Stunden instinktiv, daß sie ganz prächtig zueinander paßten. Man stand gemeinsam früh um 5 Uhr auf, man badete zusammen, man machte weite Märsche im Girdeiner Schritt, man arbeitete zusammen im Garten, man verhätschelte zusammen den äußerst charaktervollen, wenn auch abschreckend garstigen Köter des Onkels, Schnauzl, der in seiner vollendeten Erziehung ein wahrer Prinzipienprotz von Hund war, im übrigen ein getreues Abbild seines struppigen Herrn. Man ärgerte schließlich mit vereinten Kräften die alte Mine, eine stets grimmige, von Ordnungsliebe strotzende Wirtschafterin, die das stilvolle Ensemble des stachlichen Igelhauses komplettierte.

Der Hausherr war noch immer ein begeisterter Girdeiner, war einst ein berühmter Turner gewesen und hatte auch jetzt nur das eine an der Girdeiner Erziehung auszusetzen: man bete dort zu viel und arbeite zu wenig.

266 Gottfried erklärte das mit großem Freimut für falsch und glaubte es schlagend durch die Tatsachen zu beweisen, daß er, der Herrenfelder Primus, in den fast zwei Jahren seines Aufenthaltes trotz aller Mühe schon 7 Tadel erhalten habe und nur zweimal zum »Sprechen«Das Sprechen ist eine Art Beichte, besonders vor den religiösen Kinderfesten der Brüdergemeine. gerufen worden sei.

Onkel Igel lachte dazu und meinte schmunzelnd: »Von dir wollen sie wahrscheinlich nicht viel wissen, alter Ausreißer. Übrigens die Idee mit dem Krieg damals hat mir ausnehmend gefallen. Wärt ihr Schlauberger zu den Türken gestoßen, so hätten sie längst nicht so viel Keile bezogen von den Russen, schon weil ihr so viel auf euch genommen hättet, was Gottfried?«

»Na, Onkel, ich kann dir nur versichern, ich wäre nicht umgekehrt, wenn uns nicht die verflixte Polizei erwischt hätte.«

»Glaub ich dir aufs erste Wort, mein Jungchen. Bin auch ganz einverstanden. Das nächste Mal, wenn dus dicke hast, kommst du zu mir, verstanden? Ich schütz dich vor der Polizei und vor den Betbrüdern! Hand drauf!« Schallend schlugen die Hände ineinander, und Schnauzl bellte im tiefsten Baß zustimmend dazu.

 

Viel zu schnell vergingen die lustigen Ferienwochen bei Onkel Igel, und eh sichs Gottfried recht versah, rollte er auch schon wieder auf den ungefügen Rädern der ehrwürdigen Bombe dem unfernen Girdein entgegen.

Wieder schmückte sich die Lausitzer Heide mit herbstlichem Purpur, und auf manchem stillen Spaziergang dachte Gottfried träumerisch an den vergangenen Herbst, in dem er 267 noch als Vierter im Sturmschritt an Bruder Lechners Seite dahingetrabt war. Jetzt saß er in Tertia und war Erster, und Bruder Lechner ritt vielleicht auf einem Saumtier über die schwierigen Pässe des Himalaja. Sobald er dort angekommen sein würde, wollte Gottfried ihm schreiben.

Und dann – richtig, auch an Großmuttel mußte er endlich einmal schreiben, sie war so untröstlich gewesen, daß er in den Ferien nicht hatte nach Hause kommen können. Und er, ja, er schlechter und undankbarer Mensch, er hatte über Onkel Igel und seinen vielen schönen Wanderungen die arme, kränkliche Großmutter ganz vergessen. Nein wirklich – er wollte nun schreiben – nächsten Sonntag ganz bestimmt; in der Woche gab es für Briefe keine Zeit, vollends für morgen war gar viel zu arbeiten. Da, mitten in der Arbeitzeit, tritt Bruder Loskiel plötzlich in die Stube, spricht leise mit dem aufsichtführenden Lehrer und winkt dann Gottfried, ihm zu folgen.

Leichten Herzens tut es der Vorstehersohn, er ist sich keiner Schuld bewußt, hat überhaupt jetzt ein viel besseres Gewissen als früher. Aber Bruder Loskiel ist heute so anders zu ihm als sonst, was mag er nur wollen? Er scherzt gar nicht wie gewöhnlich, er heißt ihn feierlich sich aufs Sofa setzen. Es ist Gottfried zumute, als sei er zum »Sprechen« beim Pfleger.

»Mein lieber Junge«, beginnt nun Bruder Loskiel mit gedämpfter Stimme, »ich muß dir einen großen Schmerz bereiten; es wird vielleicht der erste große Schmerz in deinem Leben sein.«

»O nein«, sagt Gottfried einigermaßen gefaßt, wenn auch erschrocken, »als voriges Jahr Bruder Lechner fortging, war ich so unglücklich.«

»Nun siehst du, und du hoffst doch Bruder Lechner wiederzusehn?«

»O ja, ich hoffe, nur – es kann schrecklich lange dauern.«

268 »Allerdings, aber du weißt als Kind der Gemeine, daß wir hier unten auf der Erde unsere eigentliche und dauernde Heimat überhaupt nicht haben können. Die Erde ist für uns nur die vergängliche Heimat, in der wir uns auf die ewige vorbereiten sollen. Und wer die himmlische Heimat erreicht hat, der allein ist glücklich, unendlich glücklich, er sehnt sich nie wieder nach der Erde zurück. Nur wir, die wir ihn verloren haben, wir sind unglücklich und sehnen uns nun doppelt nach dem Lieben, der uns fehlt, nach dem Frieden, den er gefunden, und den wir noch missen. Wenn wir aber den Heimgegangenen recht lieb gehabt haben, Gottfried, dann gönnen wir ihm die Seligkeit, immer beim Heiland sein zu dürfen. Würdest du das auch können, Gottfried, wenn der Heiland jemand zu sich gerufen hätte, den du sehr, sehr lieb hast?«

»Es ist doch nicht Bruder Lechner? Etwa auf seiner großen Reise – bitte – sagen Sies schnell!«

»Nein, Gottfried, aber deine Großmutter« –

»Großmuttel?«

Gellend fährt es dem Knaben heraus, dann folgt ein so starres Erschrecken, daß Bruder Loskiel besorgt aufspringt, um Gottfried zu halten. Wie ein Toter fällt er dem Direktor in die Arme. Sorgsam und selbst tief ergriffen von diesem jähen Schmerz legt Bruder Loskiel den Knaben auf sein kleines Sofa, doch nach wenigen Sekunden fährt Gottfried abermals empor und ruft verzweifelnd: »Großmuttel, Großmuttel – lieber Bruder Loskiel – es kann doch nicht sein – ich hab sie ja so lieb gehabt – und hab ihr gerade so lang nicht geschrieben, o Gott, o Gott, was bin ich schlechte

Und dann wirft er sich in die Ecke des Sofas und schluchzt herzbrechend. –

Bruder Loskiel ging still hinaus. Er hielt es für richtig, den Knaben erst ungestört sich ausweinen zu lassen.

269 Nach einer Viertelstunde trat er leise wieder herein und fragte Gottfried, ob er jetzt nicht lieber gleich ins Bett gehen wolle, an Arbeiten wäre doch nicht zu denken, er wolle ihn gern bei seinen Lehrern entschuldigen.

Gottfried nickte nur stumm, gab Bruder Loskiel dankbar die Hand und schlich sich zum Schlafsaal hinauf.

Noch war alles leer hier oben, nicht einmal die Fünften, die doch schon um ½9 Uhr schlafen gingen, waren angelangt. Da warf sich Gottfried vor sein Bett und betete ganz laut und so inbrünstig, wie er noch nie in seinem Leben gebetet hatte: »Lieber Heiland! Bitte nimm mich doch auch heute nacht zu dir, ich will auch in die ewige Heimat – wo jetzt Großmuttel ist – bitte, bitte, erbarm dich über mich!«

Und dann warf er sich ins Bett und dachte fortwährend an Großmutter.

Erst stiegen schreckliche Bilder vor ihm auf, obwohl er schauernd die Augen zusammenpreßte und sich rief in die Kissen vergrub. Er sah Großmutter aufgebahrt liegen wie Tante Laura, gelb und gräßlich starr. Er mußte die Fäuste ballen und die Zähne aufeinanderbeißen, um nicht aufzuschreien vor Entsetzen. Er fürchtete sich plötzlich. Da kamen die Fünften und gingen zu Bett. Der Schauer ging vorüber.

Nun überlegte er, was wohl geschehen müßte, wenn ihn der Heiland nicht zu sich riefe. Dann fiel ihm ein, daß der Heiland die Gebete doch nur erhöre, wenn man einen felsenfesten Glauben damit verbinde. Und so gab er sich ehrlich und einfältig Mühe, ganz felsenfest an seinen Heimgang zu glauben. Alle anderen Gedanken kämpfte er mit unerbittlicher Energie nieder; er wollte, er mußte jetzt nur daran glauben, glauben mit der Zuversicht, die Berge versetzen sollte; dann mußte er ja morgen früh auch drüben in der ewigen Heimat sein.

270 Mit gefalteten Händen, lang hingestreckt, das Gesicht gerade zur Decke gerichtet, – ganz wie Tante Laura dagelegen hatte – so lag er nun starr und fest entschlossen – bis er einschlief und so süß von Großmutter träumte, daß er am nächsten Morgen gar nicht mehr glauben konnte, daß sie tot sei.

Erst ganz allmählich tauchte die Erinnerung an den Abend vorher auf, und nun ging es wie eine bittre Enttäuschung durch seine Seele. Er lebte – er mußte leben. Warum hatte der Heiland ihn nicht erhört? War sein Glaube doch nicht stark genug gewesen?

Oder hatte der Heiland andere Absichten mit ihm? Oder hatte er am Ende nicht gekonnt? Gottfried schüttelte sich. War das nicht eine Gotteslästerung, so etwas auch nur zu denken? Er schämte sich, und doch kam der böse Gedanke diesen Morgen noch ein paar mal, um ihn zu quälen, mutig kämpfte er dagegen an. Er wollte von seinem Heiland nur das Beste glauben, auch wenn der Heiland ihm wehe tat.

Nach dem Frühstück wollte er zu Bruder Loskiel gehen, um mit ihm wegen der Reise nach Herrenfeld zu sprechen. Er mußte doch Großmutter noch einmal sehen, ehe man sie in die Erde hinabsenkte. O Gott, wenn sie nur nicht so garstig aussehen würde wie Tante Laura, nein das war doch ganz unmöglich – Großmutters liebes, gutes Gesicht, mit den freundlichen Augenfältchen und den gemütlichen Runzeln an den Wangen – und die schwarze Spitzenhaube über dem gescheitelten grauen Haar, o – Großmuttel!

Und wieder kamen die Tränen geschossen.

Gewaltsam faßte er sich endlich, und da trat auch schon Bruder Loskiel auf ihn zu: »Nun Gottfried«, fragte er leise, »wirst du an der Schule teilnehmen können, oder willst du lieber ein wenig im Garten spazieren gehen, ich stelle dir das ganz anheim?«

»Aber kann ich denn nicht gleich nach Hause fahren?«

271 »Nein mein lieber Junge, das wollen deine Eltern nicht.«

»Wie, die Eltern wollen nicht, daß ich Großmuttel noch einmal sehe?«

»Das würden sie sicherlich sehr gern wollen, lieber Junge, aber du weißt doch, Gottfried, daß in Herrenfeld das Scharlach noch immer nicht erloschen ist.«

»Aber ich muß Großmuttel sehen – und das Scharlach – ich wäre sehr froh, wenn ich es kriegte und auch stürbe. Dann wäre ich doch wenigstens bei Großmuttel.«

»Weißt du das so genau, Gottfried?«

»Warum nicht?«

»Glaubst du wirklich so bestimmt, schon jetzt in den Himmel eingehen zu können? Gottfried, Gottfried, du denkst ein bischen gar zu hoch von dir!«

Gottfried war plötzlich verdutzt, ihm ward mit einem Male klar, warum ihn der Heiland heute nacht doch nicht zu sich geholt, trotz seines Glaubens. Ja, dann war es freilich besser so.

Nur, warum er nicht reisen durfte, das konnte er nicht einsehen. Vielleicht wollten es die Eltern nur nicht, weil er Großmutter lieber gehabt hatte als sie, wer weiß, – sie hatten ihm ja die Großmutter so oft nicht gegönnt.

Der alte, längst vergessene Trotz flammte mit einem Male lichterloh in ihm empor, und energisch brach es heraus: »Bitte, Bruder Loskiel, ich muß meine Großmutter noch einmal sehen, meine Eltern müssen es mir erlauben.«

Bruder Loskiel machte ein sehr ernstes Gesicht; es schien, als wolle er den ungestümen Knaben gehörig zurechtweisen. Dann aber sagte er ganz ruhig und freundlich:

»Gottfried, es geht wirklich nicht, und du weißt doch selbst sehr gut, daß deine Eltern und ich dir deinen Wunsch nicht versagen würden, wenn wir es nicht müßten. Oder willst du in Herrenfeld bleiben, bis das Scharlach erloschen 272 ist, vielleicht bis zum Winter hinein die Schule versäumen und dann ein Jahr zurückbleiben? Gottfried, sei mal vernünftig, du bist jetzt auf der ersten Stube und nicht mehr auf der vierten. Ich will dir auch noch etwas sagen, und zwar aus eigener Erfahrung. Bleibst du jetzt hier, so wirst du dein ganzes Leben hindurch deine liebe Großmama so im Gedächtnis behalten, wie du sie im Leben gekannt hast. Reist du aber hin, so wird sich der unschöne Eindruck ihrer entseelten Hülle dir unauslöschlich einprägen, – und du wirst ihn sehr, sehr lange, vielleicht auch nie wieder loswerden. So ist es mir gegangen mit meiner seligen Mutter, und das, Gottfried, möchte ich dir ersparen. Und nun komm, mein Junge, gib mir die Hand darauf, daß du stark und gehorsam sein willst!«

Zögernd gab Gottfried die Hand, aber ein Stachel blieb in seiner verwundeten Seele zurück.

Er fühlte deutlich wie immer, daß es Bruder Loskiel sehr gut mit ihm meine, auch das zuletzt Gesagte leuchtete ihm ein, zumal wenn er an Tante Laura gedachte, aber mit den Beweggründen der Eltern kam er nicht ins reine. Und da setzte der Trotz sich abermals fest und fraß an seiner Seele.

Er ging zurück auf seine Stube, aber er redete mit keinem Kameraden, nicht einmal mit dem liebevoll teilnehmenden Rodbeck. Auch als der kleine Bertelsburger Vetter, Peter, der seit kurzem eingetreten war und auf der vierten Stube wohnte, ihm seine Teilnahme auszusprechen kam, nahm er kaum Notiz davon. In den Unterrichtstunden saß er verstockt und interesselos da; beim Spazierengehen ging er allein und wich jeder Anrede aus, ja sogar beim Spielen versagte er eigensinnig seine Teilnahme.

Seine beiden Lehrer übten zunächst weitgehende Nachsicht, redeten privatim liebevoll und ernst mit ihm, schickten ihn dann zum neuen Mitdirektor Bruder Wurter, der 273 Gottfried sehr unklugerweise ein wenig scharf ins Gebet nahm. Eines half so wenig wie das andere.

 

Unterdessen war das Begräbnis von Frau Bürglin in Herrenfeld vor sich gegangen, und von ihrer Tochter war ein ausführlicher Brief an Gottfried gekommen, der von den letzten Lebensstunden der Heimgegangenen berichtete und ihn vor allem darüber beruhigen sollte, daß Großmutter nicht allzuschwer zu leiden gehabt hatte. Friedlich und zuletzt schmerzlos war sie hinübergeschlummert in ein besseres Jenseits.

Gottfried las den Brief mit tiefer Rührung mehrmals durch, namentlich die Stelle, an der Mutter von dem letzten Gruß der Sterbenden an ihn schrieb – das war so lieb und gut! Und doch fehlte Gottfried etwas in diesem Brief, und je mehr er suchte, um so stärker wuchs wieder der alte Trotz empor.

Von einer Rechtfertigung des Reiseverbots fand Gottfried nichts oder zu wenig.

»Wir konnten es beim besten Willen nicht verantworten, lieber Junge, dich zum Begräbnis herkommen zu lassen, denn, wie du weißt, herrscht immer noch das Scharlach im Ort, gerade wir als Mitglieder der Ältesten-Konferenz müssen den Leuten ein gutes Beispiel geben durch peinlichste Vorsicht. Ich denke, du wirst uns verstehen, mein Kind.« Das war alles – nein, Gottfried verstand das nicht und wollte es auch nicht verstehen. Bruder Loskiel hatte er allenfalls verstanden, die Eltern – nein! Er fühlte sich tief verwundet in seinem Heiligsten, in seiner Liebe zur Großmutter, ja, es war ihm mitunter, als müsse er seine Eltern hassen. Auf den Brief der Mutter antwortete Gottfried nicht.

Nach acht Tagen kam ein zweiter Brief, aus dem besorgte Mutterliebe in beweglichen Tönen klagte. Gottfried fühlte 274 auch bereits, daß er weich werden müßte, wenn er diesen Brief noch einmal läse; er steckte ihn daher tief in die hinterste Ecke seines Pultes und brütete hartnäckig weiter über seinem Groll, der ihm wie eine Genugtuung für die Tote erschien und ihm geradezu wohltat. Da kam nach abermals drei Tagen ein kurzer energischer Brief vom Vater, des Inhalts: er solle sofort schreiben, ob ihm etwas fehle. Mutter und er machten sich ernstlich Sorge über seinen Zustand.

Gottfried lachte, – lachte zum ersten Male wieder seit Großmutters Tode; es war ein häßliches, tückisches Lachen, ein Lachen versteckter Schadenfreude. Ja, sie mochten sich nur ängstigen, die Eltern – das geschah ihnen ganz recht, warum hatten sie ihn nicht reisen lassen. Auch auf diesen Brief antwortete Gottfried nicht, wartete vielmehr mit neugieriger Spannung, was nun wohl werden würde.

In der Schule paßte er nicht mehr auf, in der Arbeitzeit träumte er, gegen die Kameraden war er verschlossen, gegen die Lehrer trotzig. Obwohl alles auf ihn und seinen kritischen Zustand Rücksicht nahm, kam es doch fortgesetzt zu allerlei Ärgernissen, zuletzt auch zu Strafen. Gottfried blieb kühl dabei, er lächelte oft still und hämisch vor sich hin. Er fühlte gleichsam, wie er jeden Tag schlechter wurde, aber auch das erfüllte ihn mit einer grimmigen Befriedigung. Er hatte sich in diesen zwei Jahren in Girdein die größte Mühe gegeben, die Scharten von Herrenfeld auszuwetzen; nun hatten es die Eltern zu verantworten, wenn er wieder in das alte Fahrwasser kam; sie hatten es nicht anders gewollt. Er fühlte sich unschuldig an alledem.

Eines Nachmittags ließ ihn Bruder Loskiel rufen.

Aha, dachte Gottfried, nun gilts! Vater wird an ihn geschrieben, die Lehrer ihm berichtet haben, nun gibts ein Donnerwetter. Na, ich bleibe doch hart. Schade, daß 275 es Bruder Loskiel ist; er ist immer gut zu mir gewesen, aber er steht auf Seite der Eltern, also gilt es fest zu sein.

Trotzig klopfte er an, trotzig trat er ein.

Bruder Loskiel stand ruhig an seinem Schreibpult, das bärtige Haupt in die rechte Hand gestützt, und sah Gottfried mit seinen klugen Augen musternd an, dann fragte er ihn freundlich: »Warum schreibst du deinen Eltern nicht, wie es dir geht? Sie sorgen sich um dich, dein Vater hat eben an mich telegraphiert?«

Gottfried freute sich sichtlich darüber und sagte mit heiserer Stimme und fast tückischer Miene: »Sie mögen sich nur sorgen, mir ists jetzt gleich.«

Bruder Loskiel reckte sich plötzlich empor, maß sein kleines Gegenüber mit einem halb erstaunten, halb drohenden Blick, dann schüttelte er energisch das mächtige Haupt und ging mit langen Schritten auf und ab, gleich als müsse er sich erst selbst beruhigen; endlich blieb er vor Gottfried stehen und sagte:

»Sieh mal, Gottfried, eigentlich gehörten dir jetzt links und rechts ein paar Tüchtige hinter die Ohren und dann zehn Stunden Arrest, damit du über das vierte Gebot nachdenken könntest. Doch ich weiß, daß dein Trotz gerade eine solche Strafe wünscht – jawohl, Gottfried, ich sehe dir das an – und darum werde ich dich härter bestrafen, ohne dir Gelegenheit zu geben, deinen Trotz weiter zu verhärten. Ich werde dich deinem Gewissen überantworten, Gottfried! Das wird dich strafen – härter, als du denkst. Du weißt so gut wie ich, daß deine Großmutter jetzt droben bei unserem Heiland ist, und daß sie dich noch immer liebt trotz all deiner Sünde. Sie bittet tagtäglich für dich bei ihm, unserm Herrn und Heiland, daß er dir deine Sünde, vor allem den schlimmen Trotz, verzeihe und dich auf den rechten Weg zurückführe. Und sie, Gottfried, hat jetzt deine schlechten, lieblosen Worte gehört, und sie kann nun nicht mehr bitten für dich, sie 276 kann nur noch weinen – in namenlosem Schmerz, weil du ihr solche Schande machst, seit sie diese Welt verlassen hat. Und nun geh Gottfried, ich habe dir nichts weiter zu sagen.«

Damit wies Bruder Loskiel dem Vorstehersohn kurzer Hand die Tür.

Mit unsicheren Schritten tappte Gottfried hinaus, scheu schlich er sich hinab zu seiner Stube, mechanisch setzte er sich an sein Arbeitspult und versuchte zu arbeiten. Die Buchstaben tanzten jedoch vor seinen Augen; er hatte das beängstigende Gefühl, als wüchse alles an ihm riesengroß – am unförmigsten sein eigener Kopf, gleich als ob er nächstens springen müsse. Zugleich hämmerte es in den Schläfen wie dröhnend, kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, er konnte nicht mehr ruhig sitzen bleiben, schnell stürzte er zu dem aufsichtführenden Bruder Mawaldt und bat ihn, austreten zu dürfen.

Bruder Mawaldt nickte. Er hatte schnell bemerkt, daß Gottfried, der vorhin so selbstbewußt davongegangen, als ein völlig anderer von der Unterredung mit dem Direktor zurückgekehrt war, und beschloß nun seinerseits, das Eisen zu schmieden, solange es heiß war.

Bruder Mawaldt war ein merkwürdiger Mann. Von Haus aus Sattlergeselle, war er früh bei den Husaren eingetreten und hatte es dort bis zum Unterwachtmeister gebracht. Sein lustiges Leben unterbrach jäh der plötzliche Tod seiner Braut, sie war in eine Maschine geraten und dabei gräßlich ums Leben gekommen. Seit diesem Trauertage hatte Mawaldt die Überzeugung, daß Gott mit ihm etwas Besonderes vorhabe. Er ging in sich, quittierte den Dienst, machte eine Art von Bußkampf durch, ward erst Diakon und Krankenpfleger, lernte dadurch die Brüdergemeine kennen und meldete sich dann hier zur Aufnahme in die Missionschule. Wie viele Missionschüler tat er Aufsichtdienste in der Anstalt und verrichtete seine Aufgabe mit 277 hingebendem Eifer. Die Knaben hatten ihn lieb, auch wenn sie manchmal über ihn lachten, namentlich über seine liturgischen Eigenheiten bei den Morgen- und Abendandachten, die er mit methodistischer Inbrunst abzuhalten pflegte.

Mit Gottfried Kämpfer hatte Bruder Mawaldt seine liebe Not. Vergeblich hatte er bisher an den verschlossenen Knaben heranzukommen versucht, auf religiösem Gebiet war der Herrenfelder Vorstehersohn scheinbar nicht zu fassen.

Da kam der Tod der Großmutter und damit eine Krisis, die vielleicht am heutigen Tage die Entscheidung bringen sollte.

Bruder Mawaldt ließ den zurückgekehrten Gottfried, der noch immer völlig verstört dreinschaute, nicht aus den Augen. Als die Abendarbeitzeit vorüber war, und die Ersten sich wie üblich im Schlafrock um Bruder Mawaldt zum Abendsegen scharten, ward es dem Aufseher plötzlich zur Gewißheit: Gottfried stehe im Bußkampf und er, sein Lehrer, müsse noch heute abend den völligen Durchbruch, den Sieg, herbeiführen. Er gestaltete darum den Abendgottesdienst nach seiner Vorliebe reichhaltiger als gewöhnlich. Nachdem zwei Verse gesungen und ein Bußpsalm verlesen waren, forderte er die ganze Schar feierlich auf hinzuknien und sprach eines seiner innigen, ehrlichen, aber recht seltsamen Gebete in rheinländischem Tonfall:

»Allbarmherzijer Herr und Heiland, lieber Herr Gesus Christus! Sieh, wir liegen vor dir und bitten dich, du wollest uns auch diese Nacht behüten, wollest uns unsere täglichen Sünden in Jnaden verjeben und uns stärken im Kampfe jejen den jrimmijen Jesellen, den Satan, den Verderber unserer Seelen, die er tückisch umschleicht wie ein brüllender Löwe. Du, der du alljejenwärtig und allwissend bist, du weißt auch, daß gerade einer unter uns in diesen Tagen einen schweren Kampf kämpft jejen seine böse und trotzije Natur, die ihm selbst und uns anderen Not bereitet. Du alljütiger Herr und Heiland, der du uns alle bis in den Tod jeliebt 278 und uns behüten willst wie einen Augapfel, obwohl wir es nicht verdienen, du hast auch ihn anjefaßt mit schwerer Trübsal, hast ihm ein Liebes jenommen, um ihn zu läutern und innerlich zu wecken. Aber der Satan ist ebenso unermüdlich im Verderben, wie du im Retten; der Teufel hat ihn verstockt, um dein Werk an ihm zuschanden zu machen, er hat ihn besessen jemacht mit dem finsteren Jeiste der Widerhaarigkeit, hat ihn jeschlagen mit der janzen, gämmerlichen Blindheit des Toren – du aber Herr Gesus – der du Hölle und Teufel bezwungen hast, du wirst ihn retten – ja rette ihn – wir bitten dich alle inständigst, rette ihn aus den Klauen des Teufels« –

Gottfried Kämpfer erhob sich plötzlich und stürzte hinaus; ihm war es schwül und immer schwüler ums Herz geworden, dicke Schweißperlen waren auf seine Stirn getreten, jedes Wort Bruder Mawaldts, den er bisher verlacht hatte, traf ihn jetzt wie ein Keulenschlag, peinigte ihn wie ein Folterstich. Wie konnte dieser Mann, dem er doch nie sein Herz ausgeschüttet hatte, dem er überhaupt nie nahe getreten war, so in seinem Innern lesen? Das konnte er nicht mehr ertragen, es wühlte, es brannte etwas in ihm, darum fort, nur fort aus diesem Bannkreis! Und so durchbrach er die Schranken der frommen Sitte – verletzte die Weihe des Gebets und flüchtete hinauf zum Schlafsaal, um sich so schnell wie möglich in die Kissen seines Bettes zu vergraben.

Bruder Mawaldt war für einen Moment verdutzt, ja erschrocken; er sah die verblüfften Gesichter der anderen Knaben und fürchtete, zu scharf ins Zeug gegangen zu sein, schnell lenkte er darum ein und beschloß sein Gebet mit den Worten:

»Lieber Herr Gesus, du bist ein juter Hirte, der auch dem verirrten Schafe nachjeht, jehe auch ihm nach, bewahre ihn vor dem Arjen, erlöse ihn von dem Bösen, denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen!«

279 Ergriffen wünschten sich Lehrer und Schüler gute Nacht und schritten dann gemessenen Schrittes, zwei und zwei, zum Schlafsaal hinauf, wo sich Gottfried noch immer unter den Qualen bitterster Selbstvorwürfe wand.

In dieser Nacht tat der Vorstehersohn aus Herrenfeld kein Auge zu – es war die erste völlig schlaflose Nacht seines Lebens, die furchtbarste, die er je in Girdein verbrachte. Und doch war er müde, totmüde bis ins Mark.

Mit der zähen Kraft seines wilden Knabentrotzes war es plötzlich aus, er sehnte sich geradezu nach einem Menschen, den er hätte um Verzeihung bitten können. Bruder Mawaldt, Bruder Loskiel, die Eltern, oder am liebsten die heimgegangene Großmutter. Er wußte, wo Bruder Mawaldt schlief. Nach Mitternacht schlich er sich auch wirklich in Hemd und Schlafrock zu seinem Bette hin, aber Bruder Mawaldt schlief den Schlaf des Gerechten und schnarchte obendrein so drohend, daß an ein Wecken zum Zweck einer Beichte garnicht zu denken war. Bruder Loskiel war fern – vollends die Eltern. Und die Großmutter – das war das gräßlichste! Wenn ihn von ihrem Anblick jemand hätte befreien können! Aber alle Mühe, alle Energie war umsonst. Er mochte die Augen öffnen oder schließen, in die grüne Schlafsaallampe starren oder sich tief in die Kissen vergraben – er sah sie doch – sah sie – die arme, tote Großmutter. Bewegungslos lag sie, zusammengebrochen vor unendlichem Herzeleid, zu den Füßen des Heilandes, der streng und finster über sie fort sah, als wolle er nichts mehr hören von ihren Fürbitten für den gottlosen Enkel.

Aber ihn – Gottfried Kämpfer – den Schuldigen, den Verworfenen, blickten des Heilands Augen so durchbohrend, so glühend an, als wollten sie ihm sagen: »Schämst du dich nicht, Gottfried? Was hat dein treues Großmuttel alles für dich getan, als es noch lebte – hat dich behütet und dich verwöhnt von klein auf, hat dich auf den Händen ihrer 280 sorglichen Liebe getragen, solange du in Herrenfeld warst, hat dich flehentlich gebeten, als du nach Girdein zogst – mach mir keine Schande – und du Gottfried? Du hast Großmutters Liebe mit Undank belohnt, hast ihr den schönen Himmel, auf den sie sich so gefreut hatte, und den sie so sehr verdient hatte, durch deine Schlechtigkeit vergällt, hast ihr den ewigen Himmelsfrieden geraubt! – Pfui dich – du Undankbarer, – Gewissenloser! Darum will auch ich nichts mehr von dir wissen, ich will mich deiner nicht mehr erbarmen, ich will dir den Himmel verschließen auf ewig. Du sollst sein beim Teufel – wo ist Heulen und Zähnklappen ohn Unterlaß!«

Am liebsten hätte Gottfried laut aufgeschrien aus tiefer Seelennot, aber gleich einem Riesenalp lag es auf seiner Brust – er keuchte und bekam doch nicht einen Ton heraus.

Endlos war die Nacht – rings scholl das Schnarchen, Röcheln und Schniefen der vielen Schläfer – die grüne Nachtlampe ward nach und nach düsterer, durch die Ritzen der Fensterläden quoll allmählich das erste mattgraue Morgenlicht – und immer dasselbe vor Augen!

Immer wieder hoffte Gottfried, daß Großmutter sich endlich erheben, der böse Heiland wieder gut werden würde – aber nichts dergleichen geschah. Der Erlöser war unerbittlich streng, strenger noch als der Vater damals, nachdem Gottfried fortgelaufen war. Ja, Großmutter blieb wie leblos liegen, hoffnungslos, unbeweglich – tot im ewigen Leben – entsetzlich – und alles durch ihn!

Bruder Loskiel hatte wirklich recht gehabt: es gab nichts Schauerlicheres als die Qualen des bösen Gewissens.

Es ward Morgen. Bruder Hussack, der treue, würdige Nachtwächter, den man einmal in England ob seiner Klugheit für einen Professor gehalten hatte, schlürfte auf leisen Filzsohlen herein und weckte die diensthabenden Aufseher. Leise standen sie auf, ihnen folgte der Wochendiener der 281 ersten Stube, der das Läuten zu besorgen hatte. Nach einer Pause erklang dann die Glocke.

»Endlich!« stöhnte Gottfried auf, »Gott sei Dank«. Er war erlöst. Wirklich? Konnte er, der Gezeichnete, jetzt hinuntergehen zu den Kameraden? Aber er mußte doch, er mußte seine Pflicht zu tun suchen, gerade jetzt erst recht! Auf!

Doch was war das? Der Rücken schmerzte ihn wie nie zuvor! War er krank? Zunge und Gaumen waren ihm allerdings wie ausgebrannt, auch die Augen schmerzten ihn, nun ja, gewiß vom vielen Weinen. Er griff sich unwillkürlich an den Puls – er ging rasch. O, wenn er doch krank wäre, welches Glück! Nein – wirklich – er war es in der Tat, der ganze Körper war wie zerschlagen.

Aber Bruder Mawaldt mußte er es wenigstens melden. Vorwärts! Er stand mit äußerster Mühe auf – da sah er am eben geöffneten Laden auf seine Hand. Sie glühte und war voll roter Flecken. Was war das? Himmel, das war am Ende das Scharlach!

»Lieber Gott ich danke dir, ja strafe mich, ich habs verdient!« – damit sank Gottfried wie erlöst in sein Bett zurück.

Eine Stunde darauf brachten ihn Fritz Rodbeck und Bruder Hussack hinüber auf die Krankenstube. 282

 


 


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