Herm. Anders Krüger
Gottfried Kämpfer
Herm. Anders Krüger

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel

Buße

Gottfried war an den Röteln erkrankt und mußte in einem isolierten Zimmer der behaglichen Mansarden-Krankenwohnung mehrere Tage das Bett hüten. Das ersehnte Scharlach hatte er nicht bekommen, dafür aber hatte er in Schwester Straubinger, der Krankenpflegerin, eine großmütterliche Freundin gefunden, die sich nicht nur körperlich, sondern vor allem seelisch ihrer kleinen Patienten annahm. Sie tröstete Gottfried über seine Sündhaftigkeit, sie schrieb in seinem Auftrage an die Eltern, die sie flüchtig von früher her kannte; sie wusch dem bekehrungslustigen Bruder Mawaldt gehörig den Kopf, als er einmal heraufkam, um nach seinem »Stubenkranken« zu sehen; sie schloß endlich mit Bruder Loskiel, der sich ebenfalls um ihren Patienten zu sorgen schien, eine Art Präliminarfrieden.

Als Gottfried dann wieder aufstehen durfte, hatte er nur das Werk der Versöhnung, das die gutmütige und dabei doch tatkräftige Schwester Straubinger überall für ihn begonnen hatte, zu vollenden. Und er tat es, nicht gerade aus innerstem Herzensdrang, sondern viel mehr aus dankbarer Liebe zu seiner Pflegerin. Er schrieb an seine Eltern, 283 freilich ein wenig geschraubt; er bat Bruder Mawaldt um Verzeihung wegen seines schlechten Benehmens, allerdings klang diese Bitte ein wenig oberflächlich. Schließlich gestand er Bruder Loskiel, er wolle sich bessern, und dieses Geständnis war noch das ehrlichste.

Nur wußte der Ärmste nicht, wie er es mit dieser Besserung halten sollte. Bruder Loskiel hatte ihm gesagt, er müsse seine Eltern nun doppelt lieb haben, das war jedoch leichter gesagt als getan. Ihm wollte es scheinen, als sei eine solche absichtliche Liebe gar keine Liebe. Kam sie nicht von selber, dann war es ja eine Schauspielerei, und dagegen empörte sich sein gerades Jungengemüt.

Immer wieder packte ihn der heillose Gedanke, wenn er ein ehrlicher Kerl bleiben wolle – und das wollte er unter allen Umständen – dann könne er die Eltern nicht mehr wirklich lieb haben. Aber das Gewissen! Das sagte ihm wiederum ganz deutlich, daß er dann eine schwere Sünde begehe, und daß ihm diese Sünde weder der Heiland noch die heimgegangene Großmutter würden verzeihen können.

Gottfried kämpfte mit sich, er sann und grübelte ohne Ende, sehr zum Nachteil seiner sonstigen Pflichten. Längst war er auf die Stube zurückgekehrt, aber die Kameraden wußten jetzt ebensowenig mit ihm anzufangen, wie er mit ihnen. Er arbeitete, er spielte, er turnte, er exerzierte – scheinbar alles wie früher und doch ganz anders. Bei nichts mehr war er mit ganzer Seele, mit unmittelbarer Begeisterung dabei, es schien stets, als sei eine andere Sache ihm viel wichtiger, ja, es lag etwas Verschleiertes in seiner ganzen Art, sich zu geben. Die Stubengenossen gewöhnten sich schnell daran und nannten ihn Traumfried.

Nur dem ehrlichen Rodbeck tat der arme Kerl leid, und bei einem großen Nachmittagspaziergang begann er Gottfried ordentlich die Leviten zu lesen mit der energischen Schlußforderung: er solle doch wieder der alte werden.

284 Gottfried erwiderte achselzuckend: »Möchte schon, weiß nur nicht, wie ichs machen soll. Schniefke, du bist ja ein anständiger Kerl und hältst den Mund, also ich sag dir ganz im Vertrauen: ich werde nächstens verrückt, oder ich werde Atheist.«

»Rede doch keinen Mumpitz, Atheist ist doch einer, der nicht an Gott glaubt.«

»Du, es ist Ernst, heiliger Ernst, ich gebe mir die größte Mühe, denn ich weiß ja, daß der Atheismus eine kolossale Sünde ist, aber ich kann mir nicht helfen, wenn sich Gott oder der Heiland so gar nicht um mich kümmern, wie soll ich da an sie glauben?«

»Gar nicht um dich kümmern? Wie meinst du denn das? Der Heiland behütet uns doch alle Tage, er hilft dir und mir.«

»Ach, das meine ich nicht. Ich habe vor einigen Wochen sehr schwer gesündigt, d. h. in Gedanken. Das hat mir aber dann furchtbar leid getan, und ich habe ihn schon lange jeden Abend gebeten, mir meine Sünden zu vergeben und mir davon Gewißheit zu geben. Aber er tut es nicht, ich habe immerfort gewartet und gewartet, es wurde mir nichts geoffenbart, weder innerlich noch äußerlich. So habe ich wenigstens um ein Zeichen gebeten, nichts, gar nichts war die Antwort.«

»Was für ein Zeichen hast du denn verlangt?«

»Zuerst habe ich gedacht: es würde mir so im Gewissen anders werden, ich würde plötzlich ruhig und ganz zufrieden werden; aber das kam gar nicht, vielmehr kamen immer neue Ängste und Zweifel. Dann dachte ich an den Traum, aber ich träumte nur von ganz beliebigen Dingen, gar nichts Frommes war dabei. Schließlich bat ich eines Abends um ein Bibelwort. Da schlug ich die Bibel auf, aber da stand: Und du Menschenkind, nimm einen Ziegel und entwirf darauf die Stadt Jerusalem und mache eine Belagerung 285 darum – und lauter solcher Unsinn aus dem Hesekiel. – Kurz, es paßte gar nicht für mich. Und nun weiß ich überhaupt nicht mehr, was eigentlich los ist. Will Gott mich nicht, oder gibt es keinen Gott. Das sagen doch sehr viele Leute, und zum Teil auch riesig gescheute.«

»Schäme dich, Gottfried, du bist doch ein Gemeinkind, wie kannst du nur?«

»Ja, es ist wohl auch sehr schlecht von mir, so etwas zu denken, das fühle ich ganz genau; doch ich kann mich noch so sehr gegen die sündigen Gedanken wehren« –

»Das ist der Teufel, Gottfried, das weiß ich bestimmt!«

»Der Teufel? meinst du? ich weiß eigentlich gar nicht, wie der ist.«

»O, das ist ein greulicher Verführer, der redet einem all solches gottloses Zeug vor, bis man eben daran glaubt und nicht mehr an den Heiland.«

»Also das ist der Teufel, danach steckt er freilich in mir.« –

»O, der steckt in uns allen, man kann ihn noch so oft hinausbeten, er kommt immer wieder herein, um uns zu versuchen –«

»Wie betest du ihn denn hinaus?«

»Ich bete dann immer: Breit aus die Flügel beide.«

»Hilft das?«

»Meistens ja, sonst hilft auch das Vaterunser, oder Aus tiefer Not schrei ich zu dir und Mit unsrer Macht ist nichts getan.«

»Betest du denn Verse? Das ist allerdings was anderes. Ich bete einfach, indem ich dem Heiland alles sage, was ich Böses getan habe, was mich drückt, und was ich gern haben möchte. Und siehst du, da brauche ich so oft eine Antwort, und die gibt er mir nicht. Was soll ich da tun? Es heißt doch in der Bibel: Bittet, so werdet ihr empfangen, klopfet an, so wird euch aufgetan. Bittest du nie?«

286 »O ja, ich bitte auch – aber selten, ich bete mehr Sprüche und Verse, um den Teufel zu verscheuchen und um ruhig zu werden.«

»Das werde ich nun auch mal probieren,« sagte Gottfried entschlossen.

Damit endete diese eigentümliche Unterhaltung.

Leider hatte auch die Art Rodbecks zu beten für Gottfried keinen Erfolg. Rodbeck schüttelte darob ganz erstaunt den Kopf, denn er vermochte sich das gar nicht vorzustellen, überhaupt waren ihm die Zweifel Gottfrieds unverständlich. Jedenfalls konnte er Gottfried keinen anderen Rat mehr geben, als zu Bruder Mawaldt oder zu Bruder Loskiel zu gehen.

Dazu verspürte jedoch Gottfried gar keine Neigung. Bruder Mawaldt hatte eine unangenehme Art, einem so lange auf der Seele zu knien, bis man vor lauter Sünde gar nicht mehr aus noch ein wußte, und von Bruder Loskiels Art, an das Gewissen zu apellieren, hatte Gottfried gerade genug. Eben dieses rebellische Gewissen, das bekam er ja nicht zur Ruhe!

Nach langem Sinnen und Grübeln kam Gottfried endlich ein rettender Gedanke: er wollte an Bruder Lechner schreiben.

Von Bruder Schmiedecke verschaffte er sich die Adresse – Srinagar, Kaschmir – und nun schrieb er einen langen, ehrlichen Brief, in dem es unter anderem hieß: »Warum sind Sie nur erst fort zu den Heiden gegangen? einen schlimmeren Heiden als mich kann es auf dem ganzen Himalaja nicht geben, darum bitte, bekehren Sie mich erst, wenn Sie es können. Ich habe Rodbeck darum gebeten, aber er konnte es nicht.«

Schon von dieser Generalbeichte fühlte sich Gottfried ein wenig erleichtert, und nach langer Zeit geschah es zum ersten Male wieder, daß er sich von der »Obstkiepe« vorm 287 Anstaltstor für zehn Pfennige Obst kaufte. Bis dahin glaubte er, auch das nicht zu verdienen.

Dann aber fiel ihm ein, daß der Heiland ihm vielleicht eher helfen könnte, wenn er etwas Gutes tun würde, und so gab er eine Zeitlang sein Taschengeld in die Kirchenkollekte oder für die Mission, für die sich unter den Knaben ein Verein gebildet hatte.

Aber auch das half nichts. Gottfried war trostlos.

 

Weihnachten stand vor der Tür.

Am 1. Advent hatte man mit dem Schwesternchor in der Kirche Hosianna gesungen, und jeden Mittwoch Abend ging man jetzt in die schönen Adventsingstunden, in denen man fröhliche, hoffnungsreiche Weihnachtschoräle sang. Dazwischen erklangen vom Chor unter Begleitung des Sinfonievereins allerlei prächtige Weihnachtskantaten und Arien wie die alte herrliche: »Es ist ein Ros entsprungen.«

Auch in der Anstalt selbst ward wie alljährlich in der Turnhalle eine große Weihnachtaufführung ins Werk gesetzt und dazu viele Freunde aus dem Ort als Gäste eingeladen.

Kurz, es war für alle Welt eine erhabene und feierreiche Zeit, diese Adventzeit; nur für Gottfried war sie inhaltlos, – ja quälend. Es war eine Zeit der tätigen Liebe. Wie der große Gott seinen Sohn der sündigen Menschheit in ewigem Erbarmen als Kindlein geschenkt hatte, so rüsteten sich die Menschen zum jährlichen Gedächtnis daran, einander zu beschenken und Freude zu bereiten, wie die Liebe es ihnen eingab.

Gottfried war ohne Liebe, er empfand keine Liebe mehr seit Großmutters Heimgang, und er glaubte auch keine 288 Liebe mehr von anderen zu verdienen oder erwarten zu dürfen. Es fiel ihm freilich sofort ein, daß er Bruder Lechner liebe, daß er Bruder Loskiel und Schwester Straubinger zum mindesten sehr gern habe; aber der wilde Heinrich war fern, die anderen beiden blieben ihm fern im Getriebe des Anstaltlebens. Und die Eltern und Geschwister? Denen schuldete er sicherlich Liebe, schon aus Pflicht der Dankbarkeit. Gerade jetzt las er besonders oft in ihren Briefen, daß sie alle ihn sehr lieb hätten, doch er fühlte nichts bei dieser geschriebenen Liebe. Er grübelte darüber, er zweifelte wohl auch daran und fühlte sich verlassen und einsam unter den vielen, liebefrohen Menschen, die sich alle auf das Fest freuten.

Manchmal des Abends im Bett kam es ihm vor, als habe er ein unsägliches Heimweh; aber dann, wenn er an Herrenfeld dachte, an die Wohnung der Eltern, an den Garten, den Hof und den Kunkelberg – dann wollte es ihm gar nicht einleuchten, daß all das seine Heimat sein könnte. Dann fielen ihm Bruder Loskiels ernste Worte von der ewigen Heimat ein. Er sehnte sich nach ihr und nach der Großmutter, die dort beim Heiland sicher geborgen war, und die sich wohl so glücklich bei ihm fühlen mußte, daß sie an ihn gar nicht mehr dachte und auch den Heiland nicht mehr bat, daß er sich seiner annehmen und ihn endlich einmal erhören möchte. Ach, es war so traurig in dieser bösen Welt – mit diesem Schlußgedanken, der immer mehr seine Stimmung beherrschte, schlief Gottfried Abend für Abend ein, oft unter heißen, stillen Tränen.

Es war kurz vor Schulschluß, als Gottfried wieder einmal zu Bruder Loskiel gerufen wurde. Zaghaft ging er dieses Mal hin, obwohl ihm jetzt eigentlich alles gleichgültig war.

Freundlich kam ihm der Direktor entgegen, gab ihm liebevoll die Hand und setzte sich mit ihm zusammen aufs Sofa, als habe er ihn nur zum Plaudern hergerufen.

289 »Was machst du eigentlich jetzt, Gottfried?« begann er in jovialem Tone, »du gefällst mir gar nicht mehr, drückt dich etwas Neues oder noch das Alte? Schütte mir mal ganz frank und frei dein Herz aus, mein Junge. Also wie stehts? Wo drückt der Schuh?«

Gottfried gab keine Antwort, nicht aus Trotz, sondern aus Verlegenheit, vielleicht aus keuscher Scheu, sein Innerstes zu enthüllen.

Bruder Loskiel merkte das schnell und fuhr ermunternd fort: »Sieh mal, Gottfried, ich frage doch nicht aus Neugier, sondern nur, weil ich dir vielleicht helfen könnte. Ich habe dir scharf ins Gewissen geredet, als es notwendig war, ich habe mich dann herzlich gefreut, als du mir nach deiner Krankheit Sinnesänderung gelobtest; und nun möchte ich dich auch wieder ganz froh und glücklich sehen, zumal jetzt, zum schönen Weihnachtsfest.«

»Das wird doch nie wieder so.«

»Und warum sollst du nicht wieder ein fröhliches Kind Gottes werden?«

»Weil der Heiland nichts mehr von mir wissen will und die heimgegangene Großmutter auch nicht.«

»So, woher weißt du denn das?«

»Weil sie mich nicht erhören, wenn ich sie um Verzeihung bitte.«

»Und wie sollen sie dir denn das zeigen?«

»Nun, wie sie wollen, durch irgend ein Zeichen.«

»Aha, da steckts! Du verlangst ein Wunder und erhältst keines. Ja, Gottfried, da bist du freilich auf dem unrechten Wege. So wohlfeil sind die Wunder nicht. Die irdische und die himmlische Welt können nicht anders miteinander in Verbindung gebracht werden als durch die Kraft unseres Glaubens, aber für die Gewährung unserer kleinen Sonderwünsche ist die Kluft denn doch zu groß. Willst du in solchen Fällen Gewißheit haben, so frage 290 hübsch dein eigenes Gewissen. Ist das rein und ruhig, dann sind auch der Heiland und die Heimgegangene mit dir zufrieden und haben dir deine Sünden ebenso vergeben wie ich, deine Lehrer und Eltern.«

Gottfried horchte auf; das klang alles ganz einfach und klar.

Aber wenn er sich nachher die Sache reiflich bei sich selbst überlegen würde, dann würde doch wieder alles beim Alten bleiben. Und so sagte er resigniert: »So wie früher wird es doch nie wieder.«

»Ja, mein Junge, wenn du eben die Hände faul in den Schoß legst und die Ohren trübselig hängen läßt, dann glaub ich auch, daß nichts wird. Rühren muß man sich freilich, im innern wie im äußern Leben. Wollen wir es hier auf der Erde zu etwas bringen, so müssen wir uns regen, und zwar tüchtig. Und wollen wir dereinst selig werden, so müssen wir erst recht an uns arbeiten, um für den Himmel reif zu werden. Aber damit brauchst du dir gerade in diesen Tagen, die uns Gott, der Herr, zur Freude gab, den Kopf nicht schwer zu machen. Ich denke, du wirst nächstes Jahr konfirmiert. Da wirst du das Nötige bei Bruder Helmerding ganz genau erfahren.«

»Ich soll konfirmiert werden – ich glaube, das wird nicht möglich sein.«

»Na, Gottfried, das zu beurteilen, mußt du mir und deinen Eltern, die dich kennen und auch für dich die Verantwortung tragen, überlassen. Jedenfalls sei beruhigt, es sind schon ganz andere Sünder als du los und freigesprochen zu Gottes Tisch gegangen und fröhliche, zufriedene Kinder Gottes geworden.«

Gottfried schwieg. Dieser Bruder Loskiel hatte immer eine so sieghafte Art, da ließ sich gar nicht widersprechen.

Endlich fiel ihm ein, daß ihm ja alles gleichgültig sein könne, da ihn doch niemand lieb habe. Vorsichtig äußerte 291 er diese Ansicht. Aber da lachte Bruder Loskiel gerade heraus, so herzlich und lustig, daß Gottfried plötzlich erschrack, als habe er eine große Dummheit gesagt.

»Na, Gottfried« meinte Bruder Loskiel begütigend, in dem er ihm herzhaft auf die Schulter schlug, »du scheinst dir ja einen tüchtigen Haufen Schrullen angesammelt zu haben. Ich will dir was dagegen eingeben. Gestern hat so schöne Kälte eingesetzt, da geh mal jeden Tag fünf Stunden aufs Eis! Ihr habt ja den herrlichen, großen Karpnitzteich in Herrenfeld, da pfeift ein frischer Wind – der wird schon zwischen deine Schrullen fahren und sie in alle vier Himmelsgegenden zerstreuen.«

»Ich soll nach Herrenfeld?«

»Gewiß – und damit du siehst, wie lieb dich deine Eltern haben, und wie sehr sie und deine Geschwister sich nach dir sehnen, so will ich dir verraten, daß sie mich eben gebeten haben, ob du nicht dieses Mal ausnahmsweise ein paar Tage früher abreisen dürftest. Na, was meinst du denn dazu?«

Gottfried schwieg völlig verdutzt.

»Ja«, fuhr Bruder Loskiel munter lachend fort, »das paßt dir wohl gar nicht in die grimmigen Vorstellungen, die du dir alleweile so schön zusammengebraut hattest, und bei denen du dir so tief unglücklich und märtyrerhaft vorkommen konntest. Na, mein Junge, nun mal raus mit den Schrullen – tauch mal unter in die helle, warme Weihnachtfreude, und du wirst als ein ganz anderer Kerl – vielleicht als mein alter glücklicher Friedel wiederkommen. Und nun geh schleunigst zu Schwester Loskiel und packe mit ihr deine Sachen fertig. Wäsche und Anzüge und so weiter wird schon alles bereit liegen. Morgen früh 6,13 geht dein Zug. Und nun fort mit Schaden, du weißt ja, ich kann dich auch gar nicht leiden, und darum möchte ich dich so bald wie möglich los sein. – Hier liegt schon dein Reisegeld.«

292 Gottfried stand unbeweglich vor dem schelmisch lächelnden Direktor und wußte nicht, wie ihm geschah.

Langsam mußte er sich sammeln, endlich brachte er mühsam heraus: »Bitte, Bruder Loskiel – ich will mir Mühe geben, anders zu werden.«

»Recht so, mein Junge, und fröhliche Weihnachten und morgen in drei Wochen auf Wiedersehn; übrigens, der Matthäus Friesen reist auch mit, Bruder Hussack weckt euch morgen früh. So, glückliche Reise!«

Mit festem Händedruck nahm Gottfried Abschied.

Als er an diesem Abend sein Dankgebet sprach, hatte er zum ersten Male seit langen Wochen das Gefühl, als müsse ihn der Heiland doch wohl erhört haben, und glücklich schlief er ein.

 

Erhobenen Herzens und mit gutem Gewissen reisten diesmal Gottfried und Matthes in ihre verlängerten Ferien.

Je näher man der Heimat kam, um so ausgelassener wurde Matthes. Er war zu Michaelis in die sogenannte Oberquarta gekommen, wenn auch nur mit genauer Not. Was tats? Für den Pastorsohn war es ein Erfolg. Seine Eltern waren längst bescheiden geworden mit ihren Anforderungen und würden das einzige Sorgenkind jetzt zum Weihnachtfest sicherlich mit allem Guten überhäufen, zumal sie es infolge der Scharlachepidemie so lange nicht gesehen hatten. Also Matthes war guter Dinge und summte unaufhörlich nach dem Gleichtakt des Räderschlages vergnügt vor sich hin: Nach Herr–ren–feld, nach Herr–ren–feld, nach Herren–, Herren–Herr–ren–feld!

Bis hinter Lauban ging es durch schneelose, wenn auch dicht bereifte Heidegegenden. Die Knaben staunten. Potz tausend, wie blinkten heute die armseligen Kiefernwälder! 293 Der märchenhafte Zauber des Rauchfrostes glitzerte tausendfach in den Strahlen der Morgensonne, die heute nur mit äußerster Mühe den weiß daherwallenden Nebel durchbrochen hatte.

Die Bahn stieg – es ging dem Riesengebirge zu, und siehe da, der Rauchfrost verwandelte sich in Schnee, immer dichter und höher – schon Hirschberg lag tief verschneit, und bei Gottesberg kam der Zug nur langsam stampfend durch die mächtigen Schneewehen der Eisenbahnhohle hindurch.

Matthes schnalzte wohlig mit der Zunge und prophezeite triumphierend: »Friedel, paß auf, wir müssen im Schlitten abgeholt werden, Donnerwachsstock, wird das nobel!«

Gottfried nickte nur lächelnd dazu; über ihn war schon wieder – gleichsam mit dem Auftauchen der Schneelandschaft – eine träumerisch nachdenkliche Stimmung gekommen, die immer ernster wurde, je schneller der Zug zu Tale brauste. Es war, als ob der befreiende Einfluß Bruder Loskiels dahinschwände, je weiter Gottfried sich von Girdein entfernte, als ob der Bann der trüben Gedanken desto stärker würde, je näher die Heimat kam.

Aber Matthes ließ ihm keine Ruhe, er erzählte eine Schnurre nach der andern von seinem Aufseher Bruder Merker, auch einem Missionschüler, dessen ganze Erziehungskunst darin bestand, daß er jedem, der ihm mißfiel, 10 oder 20 Zeilen Nepos auswendig zu lernen aufgab. Mit unsagbarer Genugtuung berichtete nun Matthes, daß sich die Zweiten, wenigstens die Quartaner, verabredet hätten, stets nur die erste Zeile des Aufgegebenen zu lernen und dann dem bildungstolzen Aufseher, der kein Sterbenswort Latein verstand, den wohlbekannten, in der Schule längst auswendig gelernten Lebenslauf des Aristides herunter zu schnurren.

»Ja denk dir, Greiningen, der geriebene Frechdachs, hat ihm neulich sogar einen Teil der Reimregel – Viele Worte 294 sind auf is, masculini generis – vorgepaukt, und Merker hat nischt gemerkt.«

»Lucus a non lucendo« sagte Gottfried mit der ganzen überlegenen Würde eines Tertianers und Ersten, und Matthes, der davon ebenso wenig verstand wie Bruder Merker vom Nepos, lachte pflichtschuldigst und schallend über diesen famosen Witz.

Dann lugten beide gespannt hinaus. Die vorletzte Station war vorüber, bekannte Gegenden tauchten auf – trotz der sinkenden Dämmerung erkannten die beiden Herrenfelder die ersten markanten Berghäupter des Faltengebirges. Hurrah – nun gings auch schon durch die Ripsdorfer Felsen, nun kam die große Kurve am Finkenbusch, und da, da drüben die fernen Lichterchen – das mußte Herrenfeld sein!

Noch fünf Minuten, und sie waren da – jubelnd von den beiderseitigen Eltern bewillkommnet.

Auch Agnes und Guido, beide tüchtig herangewachsen und kaum wieder zu erkennen, waren mitgekommen und küßten ihren großen Bruder so zärtlich, daß dieser etwas gönnerhaft abwehrte. Jettchen hatte leider geschwollene Mandeln und erwartete darum ihren Gottfried am Teetisch, den sie sehr hübsch zu decken verstand. Sie war auch schon halb erwachsen und trug nicht einmal mehr den dicken Backfischbummelzopf, an dem Guido sie mit Vorliebe gezupft hatte. Überhaupt war Guido gar nicht mehr so artig wie früher.

Die Schlitten waren wirklich zur Stelle, und es war herrlich, bei Mondenschein unter Schellengeläut durch das stille Dorf Leipa dahinzugleiten und dann unter Peitschenknall stolz in Herrenfeld einzuziehen.

Guido und Agnes hatten Hunderte von Fragen an Gottfried in Bereitschaft, aber die Eltern verboten ihnen, des scharfen Ostwinds wegen, das Sprechen und gingen selbst mit gutem Beispiel voran, so daß Gottfried ebenfalls schweigen und 295 die sausende Fahrt durch die herrliche Schneelandschaft doppelt genießen konnte.

Bei der Ankunft im Vorsteherhause gebärdete sich Jettchen wie toll vor Freude, was natürlich die Eifersucht von Agnes und Guido sofort erregte. Kurz, bald herzten und küßten alle drei den Bruder so närrisch, daß sich Gottfried in geheimer Scham doch fragte, wie er wohl noch gestern und all die Monate über an der ehrlichen Liebe solcher Geschwister habe zweifeln können.

Auch die Eltern fanden an diesem Abend soviel warme, liebe Worte, daß Gottfried das glücklichste Menschenkind auf Gottes Erdboden gewesen wäre, wenn er an der behaglichen, lustigen Tafelrunde nicht ein liebes Gesicht vermißt hätte, – das der Großmutter. Die lag nun da draußen unter dem Schnee in der gefrorenen Erde.

Gottfried schauderte es plötzlich. Er bat früher ins Bett gehen zu dürfen, da er von der Reise ermüdet sei; schnell sagte er gute Nacht, und dann, in der einsamen Kammer, brach der ganze, unermeßliche Jammer seines Verlassenseins, seiner Sehnsucht nach der Toten wieder mit elementarer Gewalt über ihn herein wie in der schlimmsten Girdeiner Trauerzeit.

 

Der erste Ausgang Gottfrieds am nächsten Morgen war ein Gang zu Großmutters Grab. Die Eltern hatten diesen Wunsch ihres Erstgeborenen schon vorausgesehen und einen schönen, dauerhaften Nadelholzkranz besorgt, den er aufs Grab legen sollte. Auch gingen sie beide mit zum Gottesacker hinaus, der in seiner stillen Winterpracht wie die Verkörperung des ewigen Friedens anmutete.

Auf dem langen Wege wurde kein Wort gesprochen, und das tat Gottfried unendlich wohl. So konnte er 296 ungestört seinen Gedanken nachhängen und sich des feierlichen Sommerabendspaziergangs erinnern, des letzten, den er mit Großmutter gemacht hatte.

Das Grab war noch immer mit Kränzen dicht bedeckt, über deren welke Pracht der Schnee schonend einen zarten Schleier gebreitet hatte. Ergriffen legte Gottfried den dunkelgrünen Waldkranz nieder und brach sich dann von einer verdorrten Palme ein Blatt ab, um es zum Andenken mitzunehmen.

Da legte sich sorgsam die Hand der Mutter auf Gottfrieds Schulter, und leise sagte Frau Angelika: »Friedel, das hast du nicht nötig; wir haben dir den Myrtenstrauß, den Großmuttel auf ihrem letzten Ehrenbette in Händen hielt, aufgehoben.«

Da wandte sich Gottfried jäh herum, sah der Mutter mit unendlicher Dankbarkeit leuchtend ins Auge und stürzte ihr laut aufschluchzend an die Brust.

»Muttel« kam es zum ersten Male mit derselben schlichten Innigkeit über Gottfrieds Lippen, mit der er bisher nur das Wort Großmuttel gesprochen hatte.

Und: »Mein Junge, mein lieber Junge!« kam es mit so besorgter Liebe zurück, wie sie Gottfried noch nie in seinem Leben aus dem Munde seiner Mutter gehört zu haben glaubte.

Und dann weinten beide, nicht mehr aus Schmerz um das, was sie mit diesem Grabe verloren, sondern vor seligem Glück über das, was sie mit einem Male an eben diesem Grabe gefunden hatten.

In stummer Ergriffenheit stand der Vorsteher dabei. Auch er, der scheinbar so unbewegliche Mann, der am offenen Grabe seiner Schwiegermutter keine Träne vergossen hatte, mußte sich hier, an dem längst geschlossenen, eine Träne aus dem Auge wischen. Und als nun Gottfried sich plötzlich von der Mutter losriß, um auch ihn zu umarmen, 297 da ging es wie ein Sturm der Rührung durch diese stolze, stahlharte Mannesnatur; Vorsteher Kämpfer schluchzte hilflos wie ein Kind.

Erschrocken sah Gottfried auf. Der Vater weinte? Wie lieb mußte er ihn wohl haben! Und mit erschütternder Wucht ward ihm mit einem Schlage klar, wie schwer er sich vergangen an dieser heiligen, allgewaltigen Elternliebe.

»Vater, Mutter, könnt ihr mir verzeihn?« stieß er in bangen Zweifeln hervor.

Aber die plötzliche, heftige Umarmung des Vaters, die heißen Küsse der Mutter, die noch auf seinen Lippen brannten, widerlegten diesen Zweifel besser, nachhaltiger als jede Aussprache.

Gesprochen wurde auch auf dem Rückwege kein Wort, weil Eltern und Sohn unwillkürlich empfanden, daß Worte nur entweihen konnten, was soeben die Seelen empfunden hatten. Aber allen dreien blieb diese stille Feierstunde an Großmutters Grab unvergeßlich, und Gottfried fühlte von Tag zu Tage mehr, wie unrecht er seinen Eltern getan hatte.

Mit dieser Einsicht kehrte auch seine religiöse Unbefangenheit und sein Seelenfrieden zurück. Der Heiland hatte ihn unmerklich erhört, das ward ihm immer klarer; und als er dann zum ersten Male mit dem Vater in die »große Christnacht« gehen durfte, als er inmitten des strahlenden Lichterglanzes aus dem Munde des ehrwürdigen Bruder Friesen die schlichte Geburtsgeschichte vernahm – da kam ihm alles so wunderbar einfach und einleuchtend vor, daß er seine ehemaligen Grübeleien gar nicht mehr begriff und dem Kindlein in der Krippe in ehrlichster Zerknirschung Abbitte tat. Da klang die Engelbotschaft so jubelnd und frohlockend wie nie zuvor an sein Ohr: »Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede auf Erden und an den Menschen ein Wohlgefallen!«

298 Und Gottfried fiel der Text der vorletzten Predigt ein, der lautete: »Ich sage euch: Also wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, vor 99 Gerechten, die der Buße nicht bedürfen.«

Heute war er der eine Sünder, das fühlte er; aber er fühlte auch etwas von der Freude, die heute Abend droben im Himmel bei der Großmutter herrschen müsse. Und ihm ward leicht und selig zumute.

Seine Augen wurden feucht. Die hundert und aberhundert Lichter um ihn her, sie alle schienen vor Freude zu hüpfen. Die riesigen zwei Christbäume, die zu beiden Seiten des Altartisches – je einer auf der Brüder- und einer auf der Schwesterseite – standen, nickten leicht ihm zu, wie grüßend mit ihren stolzen Wipfeln, und der Chor der Schwestern jauchzte in unendlichen Variationen: »Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus der Herr!«

Ja, heute empfand es Gottfried im tiefsten Innern: Es war die lautere, tröstliche Wahrheit! Nun durfte er sich mit voller Überzeugung konfirmieren lassen, mit froher Zuversicht zum Tische des Herrn schreiten, ja, er sehnte sich danach. O, was war das für ein Weihnachtfest! Hätte er das ahnen können, noch vor zwei Monaten, als die dunkelste Nacht ungläubiger Verzweiflung ihn undurchdringlich umgeben hatte?

Eine unendliche Dankbarkeit strömte glühend durch seine Seele; ach, könnte er ihr doch Ausdruck geben zu dieser Stunde!

Der Chor hatte geendet, die Gemeinde kniete nieder, und Bruder Friesen sprach ein herzinniges Gebet.

Gottfried sprach es nicht mit, er betete für sich – aber viel anderes brachte er nicht heraus als ein beständiges: »Ich danke dir lieber, guter Heiland, ich danke, danke, danke!«

Und es erhob sich die Gemeinde, und es sangen die Kinder, 299 vorn auf beiden Seiten die brennenden Christnachtlichte in den Händen:

Ich will nicht kleine Gaben,
Du, Gotteskind, von dir.
Dich selber will ich haben
Und bitten, daß auch mir
Du magst geboren heißen,
Der Welt und Sünde mich
Auf ewiglich entreißen
Und ziehen ganz an dich.

Gottfried, der Tertianer, der Girdeiner Erste, fühlte sich sonst ungern als Kind. Heute aber sang er mit den Kindern, obwohl er bei den Erwachsenen saß, so laut und so schmetternd, daß ein paar alte Brüder vor ihm sich erstaunt nach dem Besitzer dieser kräftigen Kehle umsahen.

Als sie sich überzeugt hatten, daß es der kleine Vorsteher war, schüttelten sie zunächst verwundert die weißen Häupter mit den schwarzen Kirchensamtkäppchen, und dann lobten sie im stillen die gute Girdeiner Erziehung.

Gottfried war das alles gleichgültig, er sah nichts um sich her – er fühlte nur und sang, so daß sich auch der Vater neben ihm freute. Unter dem Jubelhymnus der ganzen Gemeinde: »Allein Gott in der Höh sei Ehr« schloß der erhabene Christnachtgottesdienst, der schönste, den Gottfried je gefeiert.

Ja, es stimmte: »All Fehd hat nun ein Ende!«

 

Mit so roten Wangen, wie man sie sich nur beim Eislauf holen kann, und ohne Schrullen, wie es Bruder Loskiel gewünscht hatte, kehrte Gottfried mit Matthes nach Girdein zurück.

Die Rollen hatten bei der Rückreise gewechselt. Matthes 300 blies die Trübsalflöte, während Gottfried jubelte vor innerem Glück und schließlich mit dem Stolze eines Triumphators in die Anstalt einzog, wohl zum letzten Male; denn zu Ostern hoffte er ins ersehnte Pädagogium übersiedeln zu können.

Vorher sollte er jedoch konfirmiert werden, und zwar von Bruder Helmerding, einem alten, überaus ehrwürdigen Brüderbischof, dessen Predigten, Gemein- und Kinderstunden Gottfried stets gern gehört hatte; sogar seine Bibelerklärungen, in die nur die erste Anstaltstube zu gehen pflegte, hatten ihm stets zu denken gegeben, auch wenn er vieles darin nicht verstanden hatte.

Schon am ersten Sonnabend nach Schulanfang sollte der Unterricht beginnen, vorher hatten die Konfirmanden, dem Alter nach, Bruder Helmerding auf seinen Wunsch zu besuchen, damit er sie persönlich kennen lernte.

Gottfried graute ein wenig vor diesem Besuch, denn er stellte sich vor: es würde ebenso unbehaglich werden, wie wenn er vorm Kinderfest beim Mitdirektor zum »Sprechen« anzutreten hatte. So ein Herzausschütten auf Kommando dünkte ihm eine äußerst peinliche Sache zu sein. Um so überraschter war Gottfried, als der Besuch völlig anders verlief.

Bruder Helmerding, der so sehr an kalten Füßen litt, daß er sogar in Filzstiefeln predigte, empfing auch ihn in den üblichen Filzschuhen, sah ihn milde, aber durchdringend an und gab ihm freundlich die lange, knochige Hand, die er dazu schnell aus dem Muff seiner in einander gesteckten Ärmel zog, um sie darnach ebenso schnell wieder hineinzustecken.

Dann fragte der alte Bischof nach der heimgegangenen Großmutter, die er als junges Mädchen gekannt hatte, nach Gottfrieds Vater, dessen Lehrer er ehedem gewesen, nach dem Herrenfelder Schlittschuhteich, auf dem er als junger Lehrer so gern Schlittschuh gelaufen war.

Als Gottfried den hageren, frierenden Greis mit dem langen, silberweißen Prophetenbart daraufhin wie ungläubig 301 ansah, lächelte der Bischof mild und scheinbar belustigt und stand auf, um seinem kleinen ungläubigen Thomas ein paar alte Daguerrotyps zu holen.

Richtig, da stand Bruder Helmerding in einer Juppe, keck den Hut mit der Spielhahnfeder auf dem Kopf und in der Faust Schlittschuhe! Forsch und unternehmungslustig schaute er damals drein. Nichts von der weltfremden und doch weltüberlegenen Milde lag in diesen selbstbewußten, jugendlichen Zügen. Dann kam ein anderes Bild, da war der Vater als Schüler darauf. Potztausend, sah der trotzig aus!

»Wie war denn der Vater?« konnte der neugierige Gottfried zu fragen sich nicht enthalten.

Wieder lächelte Bruder Helmerding mild, und zugleich spielte ein schalkhafter Humor in seinen Augenfältchen, als er meinte: »Nun, er war ein ebenso fröhlicher Bub wie du jetzt bist und ich es vor einigen 60 Jahren war, aber ob er so war wie du – denn das möchtest du doch gern wissen – das weiß ich leider nicht – da ich noch nicht weiß, wie du bist. Nach drei Monaten hoffe ich es zu wissen, aber – denk mal an – dann werde ich dirs erst recht nicht sagen.«

Beide lachten, und damit war das Eis vollends gebrochen. Gottfried war es zumute, als wäre er schon, wer weiß wie oft, bei Bruder Helmerding gewesen. Frei von der Leber weg erzählte er, der sonst so verschlossene Knabe, von seinen kleinen Erlebnissen in der Anstalt, vom Regiment, von der Bibliothek, auch von dem Tode der Tante Laura, nur von den jüngsten, inneren Kämpfen sprach er heute noch nicht.

Und Bruder Helmerding war der letzte, der nach unfreiwilligen Geständnissen gebohrt hätte. Als er dagegen hörte, daß Gottfried gar keinen Sonntagsverkehr im Orte habe, lud er ihn ohne weiteres ein, am nächsten Sonntag zu ihm und seiner Frau zum Kaffee zu kommen. Mit 302 leuchtenden Augen dankte Gottfried, und dann nahm er fröhlich Abschied: »Auf Wiedersehn«.

Freudig erhobenen Herzens ging er zum ersten Unterricht, der auch mehr einer Unterhaltungstunde glich, und noch freudiger traf er Sonntags zum Kaffee bei Helmerdings ein, woselbst er noch sieben andere Konfirmanden vorfand. Die alten Bischofseheleute, deren eigene Kinder schon längst erwachsen waren, scherzten und schwatzten den ganzen Nachmittag mit ihren kleinen Gästen, als seien die acht Jungens ihre Pflegekinder. Viel zu früh rief die Pflicht die fast übermütigen Gäste zur »stillen Freizeit« nach der Anstalt zurück.

Von da an war es Gottfried ausgemacht, daß ihm Bruder Helmerding nächst Bruder Loskiel der liebste Mensch in ganz Girdein war, und mit Begeisterung ging er, wie fast alle andern Konfirmanden, in den eigenartigen Unterricht, der ganz allmählich und vorsichtig ins geistliche Fahrwasser einlenkte.

Der alte Brüderbischof suchte vor allem seinen jungen Schülern etwas Dauerndes für ihre Zukunft mitzugeben, und dazu erschien ihm praktische Lebensweisheit nicht minder dienlich als die christlichen Heilswahrheiten. Zugleich erzielte er dadurch wie durch seine wunderbare persönliche Art des Unterrichts, daß all diesen Knaben und Mädchens denen bisher die Religionstunde meist als eine der langweiligsten Lektionen erschienen war, dieser Konfirmandenunterricht die liebste Stunde der Woche ward. Ja, für viele, so für Gottfried, ward er zu einem unvergeßlichen Ereignis in seinem Leben.

Besonders eindrucksvoll gestaltete sich die zweimalige ausführliche Besprechung des Fragebogens. Bruder Helmerding bat über allerlei Dinge, die seine Schüler nicht verstanden, oder über die sie vergeblich nachgedacht hatten, oder endlich Dinge, über die sie nur ungern offene Fragen im Unterricht stellen wollten, schriftliche Anfragen in seinen 303 Briefkasten zu werfen, die er dann im Zusammenhang besprach. Bezeichnend war, daß auch nicht eine törichte oder gar naseweise Frage darunter war; so groß war der Respekt vor dem lieben und väterlichen Lehrer.

Natürlich hatte Gottfried mehrere Fragen aufgeschrieben, die ihn in der vergangenen trüben Zeit beschäftigt hatten, und er staunte darüber, wie leicht Bruder Helmerding alle Zweifel aus dem Wege schaffte, die Konflikte spielend löste und auch dem besorgtesten Gemüte etwas von jener ruhigen Zuversicht und dem stillen Frieden einzuflößen verstand, der seine ehrwürdige, bisweilen erhaben prophetische Persönlichkeit umwehte.

Es war ein merkwürdiger Zufall, daß Gottfried, der nach wie vor ein eifriger Kunde der Anstaltbücherei war, gerade in diesen Tagen zuerst die Erzählung von Parzival in die Hände bekam. Noch nie hatte ihn ein Buch so ergriffen, ja geradezu erschüttert, wie die Leidensgeschichte dieses ehrlichen Wahrheitsuchers. Ihm war zumute, als sei diese Dichtung ganz besonders für ihn geschrieben. Er zog ernsthafte Vergleiche zwischen Großmutter und Herzeloide, Bruder Lechner und Gurnemanz, Artus und Bruder Loskiel. Das Abendmahl ward ihm zum Gral, Bruder Helmerding zum alten Klausner Trevrezent. Nur nach einer Konduiramur schaute er vergeblich aus, denn die resolute Inge von Delmenhorst hatte er längst wieder vergessen, obwohl er seitdem unzählige Male an dem Girdeiner Postamte vorübergekommen war und der schwarzlockige Backfisch dort schon manchmal, gleich einer stolzen Isebell, zum Fenster hinausgesehen hatte, sobald eine Anstaltstube vorbeizog.

Der Konfirmandenunterricht sollte mit einer großen öffentlichen Prüfung abschließen, der dann am Palmsonntag die feierliche Einsegnung, gleichfalls vor versammelter Gemeinde, zu folgen hatte.

304 Diesen beiden Ereignissen sah Gottfried mit ziemlicher Gelassenheit, dem Abendmahlgenuß dagegen mit fast fieberhafter Spannung und geheimnisvoller Erwartung entgegen.

So wenig sonst der Unterricht Bruder Helmerdings die Gewissen der Konfirmanden zu beunruhigen suchte, so sehr ermahnte der alte Bischof immer wieder zur gründlichsten Buße und warnte vor der entsetzlichen Sünde wider den heiligen Geist, vor der furchtbaren Gefahr Fleisch und Blut des Herrn im Leichtsinn zu genießen, sich selbst zum Gericht. Davor fürchtete sich auch Gottfried heimlich, obwohl er es mit der Bereuung seiner Sünden sehr genau nahm.

Die Konfirmationshandlung, zu der die Eltern von Herrenfeld herübergekommen waren, ging würdig von statten, ohne jedoch auf Gottfried einen besonders tiefen Eindruck zu machen. Nur während er mit seinen Gefährten und Gefährtinnen den inhaltschweren Bekenntnisvers sang: »Bei dir, Jesu, will ich bleiben« rieselte ein leichter Schauer der Ergriffenheit über seinen Körper. Sein Geleitspruch: »Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des ewigen Lebens geben,« war auch ehedem der seines Vaters gewesen, und der Vorsteher freute sich herzlich über diese sinnige Aufmerksamkeit seines alten, verehrten Lehrers.

Am Dienstag nach Palmarum reisten die Eltern nach Hause zurück, nachdem sie Gottfried als schönstes Konfirmationsgeschenk Großmutters alte Uhr mit einer neuen Kette geschenkt hatten, an der ein kleines Medaillon mit einer Locke grauer Haare und dem Bilde der Heimgegangenen hing.

Gottfrieds Freude und Rührung war grenzenlos, und zugleich war er stolz, den geliebten Eltern noch am Montag – gleichsam zum Dank dafür – seine Versetzung in die Obertertia und damit ins Pädagogium melden zu können.

 

305 Am Mittwoch hielt Bruder Helmerding die Vorbereitung zum großen Gründonnerstag-Abendmahl und sprach herzbeweglich, aber auch herzerschütternd von der Notwendigkeit einer gründlichen Sündenerkenntnis und Reue, auf die allein hin die ersehnte Sündenvergebung durch das Abendmahl erfolgen könne.

Eine eigentliche Beichte und Absolution kennt die Brüderkirche nicht. Ein jeder soll sich selbst im aufrichtigen Bekennen der Lossprechung Christi gewiß werden und sich nicht bequem auf das lösende Wort des Priesters verlassen.

Gottfried verstand das jetzt gar wohl, kraft der vor Monaten gemachten bitteren Erfahrungen, und doch schritt er immer noch mit einem gewissen Bangen zum Tisch des Herrn.

Gründonnerstag brach an, ein trüber schwerer Tag, nur dann und wann einige Sonnenblicke. Am Vormittage waren zwei Passionsversammlungen, am Nachmittag eine. In diesen Gottesdiensten, die nur der Charwoche eigen sind, wird die Leidensgeschichte des Herrn und Heilands aus einer besonders dafür zusammengestellten Evangelienharmonie vorgelesen und vom Chor- und Gemeindegesang begleitet. Noch einmal entrollte sich vor Gottfrieds geistigem Auge die Einsetzung des göttlichen Sakraments in seinen schlichten, aber gerade darum so unendlich ausdrucksvollen Einzelheiten, während der Chor die prachtvolle Arie vom »süßen Weinstock« sang. Tief ergriffen verließ der junge Kommunikant das Gotteshaus.

Es erschien ihm eine große, gewaltig ernste Sache, an dem heiligen Vermächtnis des Menschheiterlösers teilzunehmen. Noch einmal wollte er unerbittlich mit sich zu Rate gehen, ob er wirklich dazu schon würdig genug sei. Er bat Bruder Mawaldt, ein wenig allein spazieren gehen zu dürfen. Gern ward es ihm gewährt, und so schritt er langsam hinaus, dem unfernen Wartturm zu, der, gebietend wie ein trotziges Wahrzeichen Girdeiner Unternehmungslust, weit 306 hinausleuchtend im letzten Abendsonnenglanz, über die schon leise dämmernde Heide emporragte.

Einsam schritt Gottfried zwischen den niedrigen Föhren dahin. Vom Frühling, der doch vor den Toren stand, war hier noch fast nichts zu merken. Nur unter den spärlichen Birken raschelte es bisweilen im gelblichen Laube, als seien ein paar erwachte Winterschläfer bereits wieder geschäftig. Hier und da schlug auch wohl ein vorlauter Fink, und ein paar Amseln jagten sich eifersüchtig kreischend durchs Untergehölz.

Gottfried merkte nichts davon, er war völlig mit seinen Sünden und mit seiner Reue beschäftigt. Noch einmal wollte er beten. An einer kleinen, stillen, menschensicheren Waldblöße kniete er nieder, bekannte alles, was er auf dem Herzen hatte, und bat mit inbrünstig flehender Stimme um Vergebung seiner Sünden. Die Föhren rauschten leise wie immer, sonst regte sich nichts ringsum. Entschlossen sprach Gottfried sein Amen und erhob sich. War er sich auch seiner nunmehrigen Sündlosigkeit nicht völlig sicher, so hatte er doch wenigstens das tröstliche Bewußtsein, ehrlich und unermüdlich alles getan zu haben, was in seinen Kräften stand. Er konnte es wagen! Mit dieser Überzeugung wandelte er heim, während der Abend sank.

In der Anstalt angekommen, ging er zu Bruder Loskiel und zu seinen beiden Stubenlehrern und bat sie nochmals um Verzeihung für alles, was er einst im Trotz gegen sie gefrevelt. Sie gaben ihm freundlich die Hand und wünschten ihm einen gesegneten Genuß des heiligen Abendmahls. Bruder Mawaldt sah ihn bei diesen Worten lang und ernst an, als wollte er in seiner Seele lesen. Auch Rodbeck suchte Gottfried auf, er glaubte ihn neulich gekränkt zu haben. Gegenseitig versicherten sich beide wetteifernd ihrer Vergebung und beschlossen, sich im Abendmahl neben einander zu setzen.

Nun glaubte Gottfried sein Gewissen völlig entlastet zu haben, doch wollte er sich auch ängstlich hüten, es durch 307 Selbstgerechtigkeit – vor der Bruder Helmerding besonders gewarnt hatte – aufs neue zu beflecken.

Es läutete zum Abendessen, das vor einem Abendmahl stets schweigend eingenommen wurde; es war kein Gebot, sondern eine Gewohnheit, die sich von selbst gebildet hatte.

Zusammen gehen die Neukonfirmierten zur Kirche, die an diesem Abend besonders reich erleuchtet ist. Auch die versammelten Geschwister sind festlich gekleidet, die Brüder in dunklen, langschößigen Röcken, die Schwestern in weiße, fransengezierte Crêpe de chine-Tücher gehüllt, die frischgewaschenen Hauben auf den sauber gescheitelten Haaren. Sogar der Altar ist heute ausnahmsweise mit einer kostbar gestickten Decke, darstellend das Lamm mit der Siegesfahne, geschmückt. Eine feierliche, fast totenähnliche Stille lagert über dem weiten, weißen Saal. Die Erstlingskommunikanten nehmen vorn auf besonderen Stühlen Platz.

Die Glocken läuten, und die Bläser blasen vor der Kirchentür den wunderbar ergreifenden Choral des alten Bernhard von Clairveaux »O Haupt voll Blut und Wunden, voll Spott und voller Hohn.« Über viele der bleichen Gesichter läuft es wie ein leiser Schauer, ja manche der eben konfirmierten Mädchen kommt ein Zittern an. Da setzt die Orgel ein mit freundlich einschmeichelnden Akkorden, und der Schauer weicht.

Laut krachen zwei schwere Türriegel, weit öffnen sich die Pforten auf der Brüder- wie auf der Schwesterseite, der ehrwürdige Brüderbischof schreitet zuerst herein, das Haupt mit dem langen Silberbart demütig und ernst zur Erde gesenkt, die Hände wie immer in die Ärmel gesteckt. Hinter ihm folgt eine lange Reihe von Presbytern, Diakonen und Akoluthen. Desgleichen schreiten von der anderen Seite welche herein – alle in langen faltigen, weißen Talaren, die von breiten, weißen Gürteln zusammengefaßt sind – zur Bedienung der Abendmahlsgemeine. Die blitzenden 308 silbernen Geräte, die sie tragen, stellen sie behutsam auf den Altartisch ab, dann setzen sich die würdigen Gestalten langsam auf den sogenannten Arbeiterbänken zu beiden Seiten des Altars nieder, hinter dem auf erhöhtem Podium der Bischof bereits seinen Platz eingenommen hat.

Mit matter, jeder musikalischen Wirkung abholder Stimme beginnt Bruder Helmerding den wohlbekannten Zinzendorfschen Vers zu singen: »Herz und Herz vereint zusammen, sucht in Gottes Herzen Ruh«. Geschickt transponiert der geübte Organist die unbrauchbare Intonierung, mit vollen Chören setzt nun die Gemeinde ein, und bald rauscht und flutet der schönste Gemeingesang, den die Welt kennt, durch das weite, hohe Gotteshaus.

Gottfried und seine Mitkonfirmierten fühlen plötzlich, wie jedes Bangen schwindet, wie sie sicher und unwiderstehlich davon getragen werden auf den Schwingen einer elementaren, befreienden, religiösen Stimmung.

Nach dem Gesang zweier Strophen erhebt sich die Gemeine, und mit feierlicher, fast überirdisch verklärter Stimme schickt der alte Bischof ein mächtiges Gebet zu Gott dem Herrn empor. Die Nähe Gottes ist allen gewiß. Dann spricht der Greis schlicht und einfach Jesu Einsetzungsworte, wie sie Paulus im 1. Korintherbrief im 11. Kapitel berichtet. Danach teilt Bruder Helmerding schweigend die Brotkörbe an die herzugetretenen Presbyter aus, und diese schreiten mit ihren Diakonen oder Akoluthen in gemessenem Schritt davon zur Verteilung unter die Geschwister, während neuer Gemeingesang die Hallen füllt.

Ein sonderbares Mißtrauen will Gottfried überschleichen, als das Brot von dem heut feierlich ernsten Bruder Loskiel zwischen ihm und Rodbeck gebrochen ist, als er nun das unscheinbare Stückchen Oblate erwartungsvoll zwischen den Fingern hält. Aber, da blitzt es ihm durchs Gehirn. Der Satan! Noch jetzt in dieser hochheiligen Stunde will er 309 deine Seele dem Heiland entreißen und zur Sünde wider den heiligen Geist verführen, die auch Jesu Güte nicht vergibt.

»Nein, ich will fest und treu zu meinem Heiland stehen, wie ichs ihm am Palmsonntag gelobt habe,« das ist mit einem Male Gottfrieds überzeugter Entschluß. Da schweigt auch schon die Orgel.

»Esset,« spricht Bruder Helmerding mit gebietender Hoheit, »es ist der Leib unsers Herrn Jesu Christi, für euch in den Tod gegeben.«

Für eine Sekunde herrscht Totenstille in dem weiten Raum mit seinen vielen Hundert Menschen. Es ist, als zaudere ein jeder wie in ernstem Besinnen, ehe er die folgenschwere, heilige Handlung vollzieht; dann hört man ein leises Geräusch, das Brechen des Brotes – und alles sinkt auf die Knie in ehrfürchtigstillem Gebet.

Sanft und versöhnend wie mit Engelharfen spielt währenddessen die Orgel die Melodie des erhabensten menschlichen Anbetungsliedes: »Heiliger Herre Gott – heiliger starker Gott – heiliger barmherziger Heiland«, und nun setzt erst leise, dann immer lauter und lauter, immer allgewaltiger die andachtdurchschauerte Gemeine mit ihrem Gesang ein, unterstützt von dem imposanten Crescendo der Orgel: »Du ewiger Gott, – laß uns nicht entfallen – unsern Trost aus deinem Tod!« Nur zuletzt schwellt es ab in demütigem Decrescendo: »Kyrie eleison!«

Alles erhebt sich, setzt sich wiederum, und unter neuem Gesang holen die Presbyter und ihre Gefolgleute die geweihten Kelche.

Abermals setzt die Orgel aus, abermals erhebt sich die Gemeine, und der Bischof verkündet vernehmlich: »Desselbengleichen nahm unser Herr Jesus Christus auch den Kelch nach dem Abendmahle, dankete, gab ihn seinen Jüngern und sprach: Trinket alle daraus, das ist mein Blut, das Blut des neuen Testaments – welches für euch und für 310 viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden. Solches tut, so oft ihrs trinket, zu meinem Gedächtnis.«

Darauf setzt Bruder Helmerding den Kelch an und trinkt, gibt ihn weiter an die Presbyter, auch diese trinken, sowie ihre Gehülfen, dann bedienen sie die Geschwister.

Mit tiefer Ehrfurcht kostet auch Gottfried von dem roten Wein, voll frommer Scheu wagt er nicht einmal sich die feuchten Lippen zu trocknen, nachdem er sich gesetzt hat.

Wieder erbrausen dankbare Lieder gen Himmel, bis der Rundgang der dienenden Brüder vollendet, und auch der letzte Kelch wieder auf den Altartisch gestellt worden ist.

Noch einmal setzt die Orgel aus. Bruder Helmerding stimmt leise, fast undeutlich die Strophe des frühvollendeten Christian Renatus von Zinzendorf an. Aber ein jeder kennt es ja, das unvergleichlich innige und erhabene Bundeslied der Brüdergemeine, und so frohlockt es viel hundertstimmig daher, während sich alles wie ein Mann erhebt. sich die Hände reicht oder gar sich tief ergriffen umarmt:

Die wir uns allhier beisammen finden,
Schlagen unsre Hände ein,
Uns auf deine Marter zu verbinden,
Dir auf ewig treu zu sein.
Und zum Zeichen, daß dies Lobgetöne
Deinem Herzen angenehm und schöne,
Sage Amen und zugleich:
Friede, Friede sei mit euch.

Bruder Helmerding spricht den Segen. »In Jesu Namen, Amen« antwortet die Gemeine. Die dienenden Brüder nehmen schweigend die Abendmahlgeräte und verlassen unter des Bischofs Vorantritt den Saal, dann flutet auch die andächtige Menge hinaus ins Freie und kehrt still zu ihren Wohnungen zurück.

Gottfried und Rodbeck gingen still nebeneinander her, sie waren sich näher gekommen durch diesen ersten gemeinsamen Abendmahlgenuß, sie empfanden es beide unmerklich; 311 doch wagte keiner es auszusprechen. Zu Hause angelangt, lasen beide noch ein wenig in der Bibel, dann gingen sie gemeinsam zum Schlafsaal hinauf. Noch immer schwiegen sie beharrlich, nur verstohlen sah einer den anderen erwartungsvoll an. Endlich stieß Rodbeck, der ältere von beiden, heraus:

»Du, Gottfried, wollen wir nicht Freunde sein?«

»Ja, – auch ich habe mirs eben gewünscht!«

Fest schüttelten sie sich die Hand, ja Rodbeck umschlang Gottfried mit einem Male in zärtlicher Aufwallung und küßte ihn. Herzhaft erwiderte Gottfried den Bruderkuß. Er dachte plötzlich daran, wie Bruder Friesen ehedem seinen Vater auf dem Kunkelberge geküßt hatte. Dann schritten sie ihren Betten zu, die nicht weit voneinander standen und wünschten sich gute Nacht wie gewöhnlich.

Der Schlafsaal war heute einsam und leer, eigentlich war auch noch nicht Schlafenszeit. Da übertrat Gottfried das sonst strenge Gebot, auf dem Schlafsaal nicht zu sprechen, und rief dem Freund, der soeben ins Bett gehuscht war, noch überglücklich zu: »Und das feinste ist, daß wir nun auch zusammen in eine Kolonne kommen.« 312

 


 


 << zurück weiter >>