Herm. Anders Krüger
Gottfried Kämpfer
Herm. Anders Krüger

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Drittes Kapitel

Heul-Frieda

Schon am Tage nach der Ankunft hatte Vorsteher Kämpfer seinen Sohn Gottfried zur Schule gebracht.

Die sogenannte Lateinschule Herrenfelds war ein sonderbares mixtum compositum, ein Mittelding zwischen Progymnasium und Realschule, mit einer Art Vorschule, die – lucus a non lucendo – merkwürdiger Weise Selekta genannt ward. In dieser Elementarabteilung bewegten sich die ungeklärten Schülermassen, d. h. alle, die noch kein Latein treiben konnten oder sollten. Es war ohne Frage die überfüllteste und am wenigsten angesehene Klasse, die sich aus den verschiedensten Elementen zusammensetzte, von den zartesten Abcschützen an bis zu den ungeschlachten Burschen, bei denen »Hopfen und Malz verloren« zu sein schien.

Gottfried Kämpfer kam zunächst auch in den Hexenkessel der Selekta, allerdings mit der bestimmten Weisung, sich im Laufe des Sommers soviel Kenntnisse anzueignen, damit er nach den Sommerferien in die vierte Klasse vorrücken und das ersehnte Latein, das aus einem verächtlichen 34 Abcschützen schnell einen stolzen Gelehrten macht, beginnen könne.

Gottfried, dem das Lernen, wenn er nur wollte, leicht fiel, arbeitete sofort mit Eifer auf diesem Ziel los, denn einmal gefiel es ihm in der Selekta gar nicht, schon weil darin so viele große Kerle waren, vor denen er sich fürchtete. Und zweitens merkte er nur allzu bald, daß ein Selektaner auf der Schule so gut wie gar nichts galt.

Der eigentliche Schülerehrgeiz war freilich noch nicht in Gottfried erwacht, doch ein Selektaner zu sein, dünkte ihm unter seiner Würde.

Schon darum ließ er sich im Kreise seiner neuen Schulkameraden zunächst möglichst wenig blicken. Kaum war die Schule aus, so hatte er sein Ränzel gepackt, und fort war er. Zunächst ging er ins Elternhaus, bald jedoch wußte er sich unter irgend einem Vorwand zur Großmama zu schleichen, bei der er sich am Tage eigentlich nicht aufhalten sollte.

Die Eltern achteten anfangs nicht darauf oder wähnten ihn wieder in der Schule.

Mit stillem Vergnügen bemerkte Gottfried recht wohl diese Täuschung. Gewissensbisse regten sich bei ihm nicht, er war vielmehr noch stolz auf seine Verschlagenheit und tat alles, um die Eltern nicht hinter sein unlauteres Doppelspiel gelangen zu lassen.

Bei den Mitschülern, soweit sie schon von ihm Notiz nahmen, kam Gottfried schnell in den wenig beneidenswerten Ruf eines Einspänners und Geheimniskrämers und hatte somit die beste Anwartschaft darauf, recht viel geneckt und gehänselt zu werden. Einstweilen zwar entging er diesem schlimmen Schicksal meist durch ein geschicktes Entweichen nach dem großmütterlichen Dorado.

Hier hatte er mit Nachtwächters Knurps endlich persönliche Freundschaft geschlossen, die von Tag zu Tag 35 inniger wurde. Knurps war eine Seele von Hund, der für ein paar Wurstschalen und trockene Brotrinden seinem neuen Freunde am Tage mit der gleichen schattenartigen Unzertrennlichkeit folgte wie seinem Herrn in der Nacht. Friedel nahm sich dagegen seiner etwas kulturlosen Existenz mit liebevoller Sorglichkeit an. Kein Schulmädchen konnte mit seiner Lieblingspuppe zärtlicher umgehen wie er mit Knurps.

Er streichelte, fütterte ihn, führte ihn spazieren, er räumte ihm seine Hundehütte auf und kroch dazu persönlich in dieses nicht gerade anmutende Lokal mit demselben gestankverachtenden Wagemute, mit dem weiland Herakles in den Stall des Augias eingedrungen war. Ja, Friedel kämmte, wusch und frisierte Freund Knurps alle Wochen einmal, ohne freilich bei dem kurzhaarigen und daher wenig fürs Wasser eingenommenen Köter irgendwelche Empfänglichkeit für dergleichen Liebesdienste wecken zu können. Im Gegenteil, Knurps winselte gelegentlich herzergreifend bei solchen Waschungen und schien in dieser Beziehung ganz auf dem Standpunkte seiner Nachbarn, der drei rundlich heranreifenden Schweine zu stehen, deren lichtes Rosenrot unter schwärzlichen Schuppen ebenso schnell abnahm wie ihre Korpulenz zunahm. Die Seele eines Brahmanen schien in keinem der vier Tiere zu wandern.

Gottfried ließ sich jedoch nicht einschüchtern. Seit er der rüstig schaffenden Waschfrau gelegentlich zugesehen hatte und von ihrem Reinlichkeitseifer etwas angesteckt worden war, konnte er den eines gebildeten Hundes entschieden unwürdigen Standpunkt von Knurps nicht mehr teilen. Knurps, der Gerechte, mußte infolgedessen viel leiden und litt auch geduldig. Nur eines Tages, als ihn Gottfried mit dem noch schäumenden Seifenwasser, das ihm die Waschfrau kopfschüttelnd überlassen hatte, bearbeiten wollte, kündigte er Friedel plötzlich die Freundschaft und riß heulend 36 aus. Seitdem blieb es beim reinen Brunnenwasser für die wöchentlichen Waschungen.

Knurps war eigentlich in diesen ersten Monaten des Herrenfelder Aufenthalts Gottfrieds einziger Spielkamerad. Mit den Schwestern gab sich Gottfried ungern ab; die ältere, Henriette, war ihm schon zu gemessen und gouvernantenhaft, die jüngere, Agnes, noch zu dumm und zu kindisch. Seinen Bruder sah er vollends über die Achsel an. Guido konnte ja noch nicht einmal das Abc, trug noch Leibchen und Klapphosen, nur am Sonntag zog er richtige Männerhosen an, in die er noch nie ein Loch gerissen hatte. Mit einem solchen Bruder zu verkehren hielt der kleine Vorsteher für unwürdig. Mit den Nachbarskindern auf der neuen Gasse durfte er nicht verkehren, das litt Großmutter nicht. Im Hause selbst gab es aber keine Kinder, und von den Selektanern hielt sich Gottfried geflissentlich fern.

Unter solchen Verhältnissen bildete sich früh bei Gottfried eine Art Verschlossenheit aus, die nicht wie sonst meist dem Gefühl einer gewissen Unsicherheit und Hilflosigkeit, sondern mehr einem versteckten Hochmut entsprang. Ja, die offenbare Verwöhnung, die dem schon von Natur eingebildeten Knaben durch die Nachbarn der Großmutter zu teil ward, die freiherrliche Ungebundenheit in Hof und Garten, endlich auch die stumme Unterwürfigkeit des allezeit getreuen Knurps trugen dazu bei, in Gottfried einen Hang zur Herrschsucht groß zu ziehen, die zunächst in einer ziemlich harmlosen Großmannssucht zum Ausdruck kam, ihn jedoch bei den Mitschülern unbeliebt machte.

Nach den Sommerferien ward Gottfried Kämpfer aus der Selekta in die vierte Lateinklasse versetzt – und damit begann nicht nur in seinem Schulleben sondern auch in seiner Charakterentwickelung ein neuer Abschnitt.

Das unscheinbare Paradigma mensa bildete nicht allein das erste Glied einer überaus langen Bildungskette, es ward 37 auch zu einem Markstein seines gesellschaftlichen Lebens. Der angehende Lateiner trat jetzt in einen neuen, für längere Zeit ziemlich festgeschlossenen Kameradenkreis ein, dem er sich auf die Dauer nicht so leicht zu entziehen vermochte, wie dem großen, schwer kontrollierbaren Haufen der wechselgestaltigen Selekta.

Schon gleich am ersten Tage ward Gottfried von dem Primus genau verhört und erhielt einen bestimmten Platz sowie einige Verhaltungsmaßregeln. Als er in der Frühstückpause mit einem ihm flüchtig bekannten Selektaner zusammenging, wurde ihm bedeutet, er habe das zu unterlassen, das sei für einen Vierten nicht mehr passend. Gottfried gehorchte, freilich nur aus Furcht.

Um 12 Uhr verschwand er wie gewöhnlich spornstreichs aus der Schule, ohne sich irgendwie um seine neuen Mitschüler zu kümmern.

Als er um 2 Uhr zurückkehrte, fand er die Vierten in geschlossener Kolonne am Portal versammelt, und es wurde ihm, diesmal nicht vom Primus sondern vom Pastormatthes, dem einzigen Sohne des Gemeinhelfers Bruder Friesen, dem Stärksten der Klasse, nahegelegt: er habe nun mehr zu den Vierten zu halten, und man ginge hübsch zusammen nachhause.

Friedel erklärte ausweichend, er habe einen andern Weg, da er in der neuen Gasse wohne.

Ein allgemeines Murren verriet ihm jedoch bald, daß die Stimmung augenblicklich für seine Flausen nicht gerade günstig sei, und so schwieg er.

Um 4 Uhr schloß er sich in der Tat erst den übrigen an und ging dann mit dem Sohne des Seilermeisters und Totengräbers Kranich, der den Spitznamen Ibikus führte, ganz friedlich zur neuen Gasse, obwohl er eigentlich zum Vesper in das Vorsteherhaus gehen sollte. Er glaubte aber den neuen Kameraden mehr zu imponieren, wenn er das elterliche Haus scheinbar verleugnete.

38 Nach der Abendarbeitszeit – auch eine Neuerung – mußte er jedoch wohl oder übel zur Abendmahlzeit nach dem Elternhaus und drückte sich daher, um nicht irgendwie beobachtet oder gar begleitet zu werden, in der alten Weise.

Am andern Morgen war das Unglück da. Erst gab es derbe Schelte von den Kameraden, dann, als Gottfried mit ebenso derben Worten antwortete, setzte es noch derbere Püffe. Gottfried, der noch keine große Übung im Prügeln besaß, außerdem durch die Menge seiner Gegner eingeschüchtert, wandte sich schreiend zur Flucht. Da aber packte ihn des Pastormatthes harte Faust mit eisernem Griff, schüttelte ihn sehr unsanft am Kragen und hielt ihm gewaltsam den Mund zu, während die ganze Klasse ihn umringte und im Chorus johlte: »Bravo Matthes, hiergeblieben, Vorsteher!«

Friedel schwieg vor Schrecken, sah sich dann hilfesuchend im Kreise um, aber nichts wie fletschende Schadenfreude und breitmäuliger Hohn starrte ihm aus den Gesichtern der neuen Kameraden entgegen. Nicht einmal Ibikus, der gestern eine ganz liebenswürdige Seele verraten hatte, schien heute ein menschliches Rühren mit ihm zu fühlen. Noch einmal suchte er gewandt dem Kreise zu entschlüpfen, aber vergebens.

Da bäumte sich in Gottfried zum ersten Male der ganze, hier freilich ohnmächtige Trotz seines Bubenherzens auf; wild stampfte er mit dem Fuße, ballte die kleinen Fäuste, fing laut an zu kreischen und zu gröhlen und unterbrach von Zeit zu Zeit seine Heullitanei durch die grimmigen Ausrufe:

»Ihr dürft mich gar nicht festhalten, ich will fort, ich will – laßt mich los, oder ich sags meinem Vater!«

Weiter kam er nicht, ein dröhnendes Gelächter, untermischt mit Pfeifen, Johlen und Zischen, prallte dem 39 Unglücklichen entgegen gleich einer unwiderstehlich daherbrausenden Meeresflut. Schimpf- und Spottnamen schwirrten wie ein Pfeilregen heran; Püffe, Stöße, Schläge prasselten auf ihn nieder, sobald er nur versuchte, sich zu wehren. Gottfried erschrak, duckte sich und wimmerte hilflos.

Da mit einem Male – wer der Erfinder des unheilvollen Spitznamens gewesen war, wußte niemand – klang es erst einzeln, dann brauste es im schmetternden Rundgesang einher: »Frieda, etsch, Frieda, etsch – arme, kleine Heul-Frieda!«

 

Seit diesem Tage wagte es Gottfried nicht mehr, gegen die ehernen Gesetze der Klassendisziplin sich aufzulehnen. Freilich seine Stellung unter den Kameraden verbesserte sich dadurch keineswegs, im Gegenteile, die geduldige »Vorstehersfrieda« wurde allmählich zum allgemeinen Prügeljungen.

Zuerst ging es ihm wohl gegen die Ehre, von jedem gehänselt, gezupft und geschlagen zu werden, aber bald ward er auch das gewohnt und muckste kaum. Nur in seinem Innern kochte der Ingrimm still weiter, und besonders auf den Pastormatthes warf er einen geheimen glühenden Haß, obwohl ihm dieser im Grunde sehr gutmütige Knabe seit jener erstmaligen Züchtigung nichts mehr zuleide getan hatte.

Seinem bisherigen Einspännertum konnte Gottfried nun nicht mehr so fröhnen, er mußte mit im großen Klassenschwarme einherziehen. Er tat es still und verschlossen, und niemand beachtete ihn weiter, außer wenn er irgendwo im Wege war, dann knuffte man ihn.

Zur Großmutter kam er tagsüber gar nicht mehr, und am Abend durfte er bald nicht mehr in den Garten, weil 40 es früh dunkelte und auch schon zu kalt wäre, wie Großmutter meinte. Nur am Sonntagvormittag genoß er dann das sonnige Freiheitsglück in dem schon herbstlich bunten Garten mit um so größerem Entzücken. Als er den üblichen Mauerspaziergang machte, gedachte er mit stiller Wehmut an die selige Selektanerzeit und empfand die jetzige Tyrannei der vierten Klasse mit verdoppelter Härte.

Unwillkürlich verglich er seine augenblickliche Ungebundenheit, sein großmütterliches Gartenkönigtum mit seiner Helotenstellung in der Schule, und heiße Wünsche, stolze Pläne stiegen in ihm auf. Er sah die beiden munteren Fohlen auf der Weide umhertollen und wünschte sie zähmen, sich auf ihren Rücken setzen und an der dummen vierten Klasse vorbeigaloppieren zu können. Und schaute er zur anderen Seite hernieder zu dem behaglich in die Sonne blinzelnden Knurps, der die letzten warmen Strahlen des Helios sparsam ausnutzte, so wünschte Gottfried heimlich, der friedliche Knurps möge plötzlich zum rasenden Cerberus werden, und dann wollte er ihn gegen die ganze vierte Klasse hetzen; alle müßte er beißen und den starken Pastormatthes zu Boden reißen.

Die Zähmungsversuche mit den Fohlen verschob er auf eine gelegenere Zeit, aber mit Knurps wollte er sofort einen Versuch machen.

Schnell stieg er von der Mauer herab und begann Knurps aufzuhetzen, doch dieser hob nur schwerfällig den Kopf, schaute abwechselnd seinen toll gewordenen Herrn, der fortwährend »pack an, faß an, drauf« schrie, sehr zweifelhaft und dann wieder die liebe Herbstsonne sehr verschlafen an, aber zum Bellen war er durchaus nicht zu bringen. Als sich Gottfried nun empört auf ihn stürzte und ihn bald am Fell, bald an den Pfoten zu packen kriegte, legte sich Knurps auf den Rücken, zog die Pfoten fest an sich und ließ sich behaglich von dem grollenden Gottfried hin- und 41 herwälzen. Warum er aber aufstehen oder gar als wohlerzogener Nachtwächterhund am hellen, lichten Tage bellen sollte, leuchtete ihm nicht ein. Gottfried ließ ärgerlich von dem verschlafenen Gesellen ab, ging wieder durch den Garten und spann seine Erhebungspläne weiter.

Endlich fiel ihm Ibikus ein, der ja ganz in der Nähe wohnte, und den er vielleicht gewinnen konnte. Ha, der würde Augen machen, wenn er ihn, die in der Schule verachtete Heul-Frieda – o wie er den Namen haßte – hier als König eines solchen Gartenreiches bewundern müßte mit seinen Schweinen und Knurps, seinen benachbarten Fohlen, Hühnern und Kaninchen.

Gedacht, getan. Vorsichtig schlich er die Mauer entlang, sprang am Wasserturm hinab auf einen kleinen Schleichweg, der am Teiche vorbei, um einige Proletarierhäuser herum, nach der neuen Gasse zurückführte. Schon längst hatte Gottfried diesen Weg ausfindig gemacht, falls er doch einmal ungesehen auf die Straße, die ihm ja verboten war, huschen wollte.

Im Totengräberhause traf er Herrn Ibikus glücklicherweise allein, nahm ihn sofort mit und brachte ihn auf demselben Geheimpfade zum Wasserturm. Hier stieg Gottfried ein Zweifel auf, ob er Ibikus die Mauerlücken verraten sollte, ohne deren Kenntnis seiner Meinung nach niemand seinen Turm ersteigen konnte.

Aber wie erstaunte er, als Ibikus ohne viele Umstände auf seine Schulter stieg und sich von dort gewandt auf die Mauer schwang, um dann hilfsbereit den staunenden kleinen Vorsteher nachzuziehen. Das war freilich einfacher als die schwierige Kletterei von Lücke zu Lücke. Das gab zu denken! Bei einem Angriff von zwei Feinden war also sein Turm nicht mehr sicher, das wollte er sich merken.

Wie zwei Indianer auf dem Kriegspfad liefen nun die beiden Buben auf der Mauer entlang nach dem Garten, 42 und auch hier wußte Ibikus, immer weit voran, sofort den richtigen Weg zu finden. Sogar im Garten war er verblüffend gut orientiert und sprach von den Kaninchen und Knurps, als ob er mit ihnen aufgewachsen wäre.

Völlig verdutzt fragte ihn Gottfried, wie er denn das alles wissen könne, und Ibikus erwiderte ganz ruhig: er habe früher oft mit den Nichten der Waschfrau hier im Garten gespielt. O weh, da war es mit dem Imponieren freilich aus, und Gottfried war so bestürzt über die unvermuteten Lokalkenntnisse des Herrn Kranich junior, daß er es gar nicht mehr wagte, seine weiteren Zukunftspläne zu enthüllen.

Im Gegenteil, er war heilsfroh, als er den frechen Ibikus, der ihn auch hier auf dem geweihten Boden seines stillen Paradieses rücksichtslos als Heul-Frieda und durchaus nicht als selbständige Persönlichkeit behandelte, glücklich wieder zum Wasserturm hinabkomplimentiert hatte. Und da hatte der unverschämte Patron auch noch die Stirn, ihm seinen nachbarlichen Besuch für demnächst wieder anzukündigen. Das mußte unbedingt verhütet werden.

Aber wie? Sollte er die Großmutter benachrichtigen? Nein, das ging nicht, denn die durfte von alledem nichts erfahren, sonst setzte es gar wohl Schläge, und mit der süßen Heimlichkeit wäre es erst recht vorbei gewesen. Konnte er nicht vielleicht den Wasserturm verbarrikadieren? Er inspizierte ihn genau, dann schleppte er Steine auf die Mauer, auch ein paar Glasscherben streute er tückischer Weise dazwischen. Schließlich fand er noch eine wacklige Platte in einer Mauerlücke, die er mit großer Mühe heraushob und sie aufrecht als Wegsperrung auf die Rampe stellte. Darüber konnte auch Ibikus sicherlich nicht hinweg!

Hurra, nun fühlte er sich wieder sicher in seinem Garten. Freilich die behagliche Mauerpromenade hatte er sich selber 43 nun auch verdorben oder wenigstens beschränkt. Was tats? Dafür war er frei!

Doch wer beschreibt Gottfrieds Erstaunen, als am nächsten Sonntag Vormittag Freund Ibikus ganz quietschvergnügt vorn zum Hause hereinspaziert kam, um die liebe Heul-Frieda zu besuchen.

Zum Glück war die Großmutter da. Sofort beklagte sich Gottfried bei ihr über den frechen Eindringling, und sie wies dem kühnen Totengräberssohne kühl, aber sehr energisch die Tür.

Gottfried triumphierte, aber nicht allzulange; denn Ibikus meldete sein unkameradschaftliches Benehmen am nächsten Tage den Klassengenossen als hundsgemeine Klatscherei, und die Heul-Frieda bekam daraufhin sogenannte Klassenkloppe. Das war die schwerste Strafe, welche die Schülerjurisdiktion überhaupt kannte. Eine solche Züchtigung war nicht nur schmerzhaft, sondern galt vor allem als höchst ehrenrührig.

Gottfried kam nach dieser Maßregelung zum ersten Male laut heulend ins Elternhaus, aber diesmal heulte er vor wilder, maßloser Wut, denn in ihm glühte die erste große Leidenschaft des ungezügelten Menschenherzens, die ungesättigte Rachsucht. Der kleine, sonst so vorsichtige Bursche war gar nicht wieder zu erkennen, er war in diesem Zustande geradezu gefährlich. Als Jettchen, seine ältere Schwester, ihn teilnehmend besänftigen wollte, ging er wie toll auf sie los und schlug sie so derb vor die Brust und ins Gesicht, daß das arme Mädchen weinend und stöhnend auf eine Gartenbank sank. Auch den kleinen Guido, der die Schwester ritterlich beschützen wollte, schlug der gereizte Gottfried so heftig, daß er gleichfalls laut heulend die Mutter herbeiholte, die nur mit Aufbietung aller Energie des wütenden Gottfrieds Herr wurde, ihn sofort für eine Stunde einsperrte und ihm Gesangbuchverse zu lernen aufgab.

44 Sobald der eingesperrte Wüterich allein war, schleuderte er das Gesangbuch an die Wand und ward erst ruhiger, als des Vaters drohende Tritte auf der Treppe laut wurden.

Tag für Tag sann Gottfried nunmehr auf Rache, Rache an dem falschen Ibikus, Rache an dem starken Pastormatthes, Rache an der ganzen vierten Klasse. Selbst in der Schule konnte er an nichts anderes mehr denken und kam beim Monatswechsel sieben Plätze herunter, was ihm eine sehr ernste Rüge vom Vater eintrug.

Gottfried war das jetzt völlig gleichgültig. Er dachte ingrimmig bei sich: Wenn ihm der Vater lieber die vierte Klasse verhauen möchte, dann würde er ihm gern zum Dank dafür auch Primus werden. Plötzlich aber schämte er sich, weil er jetzt unter Ibikus sitzen mußte.

Beim nächsten Monatswechsel kam er wieder fünf Plätze herauf, drei Plätze über Ibikus. 45

 


 


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