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Fünfzehntes Kapitel.

Schärfere Formen des revolutionären Kampfes in Rußland. – Attentate auf den Kaiser unter Leitung des Exekutiv-Komitees. – Tod Alexanders II. – Gründung von Gesellschaften zur Bekämpfung der Revolutionäre und zum Schutze des Kaisers. – Meine Verurteilung zum Tode. – Meine Ausweisung aus der Schweiz.

 

In Rußland nahm der Freiheitskampf immer schärfere Formen an. Es hatten verschiedene politische Prozesse stattgefunden, der Prozeß ›der hundertdreiundneunzig‹, ›der fünfzig‹, ›des Dolguschin-Kreises‹ und andere, und alle entrollten dasselbe Bild. ›Die Jungen‹ waren zu den Bauern und Arbeitern gegangen und hatten ihnen sozialistische Lehren verkündet; im Auslande gedruckte sozialistische Flugschriften waren verteilt, und in allgemeiner, unbestimmter Weise war zur Abschüttelung des wirtschaftlichen Druckes aufgefordert worden. Kurz, es war nichts geschehen, was die sozialistischen Agitatoren jedes anderen Landes nicht beständig getan hätten. Nicht die Spur einer Verschwörung gegen den Zaren oder auch nur von vorbereitenden Schritten zu einer revolutionären Erhebung hatte man entdecken können, einfach weil es keine gab. In ihrer großen Mehrzahl waren unsere ›Jungen‹ damals gegen ein revolutionäres Vorgehen. Wahrhaftig, beim Rückblick auf die Bewegung der Jahre 1870-78 glaube ich mit voller Zuversicht sagen zu können, daß die meisten zufrieden gewesen wären, hätte man sie nur unter den Bauern und Arbeitern leben, sie belehren und mit ihnen gemeinsam, sei es individuell, sei es als Mitglieder der örtlichen Selbstverwaltung, in irgendeiner Stellung arbeiten lassen, in der sich ein gebildeter und ernster Mensch für die Massen des Volkes nützlich erweisen kann. Ich kenne jene Männer und Frauen und sage das auf Grund meiner genauen Bekanntschaft mit ihnen.

Dennoch wurden erbarmungslose Urteile gefällt, was nicht nur grausam, sondern auch dumm war, da sich eine Bewegung, die aus den früheren Zuständen Rußlands herausgewachsen und die so tief gewurzelt war, nicht durch die bloße Anwendung roher Gewalt vernichten ließ. Sechs, zehn, zwölf Jahre Zwangsarbeit in den Bergwerken mit nachfolgender lebenslänglicher Verbannung nach Sibirien war damals keine außergewöhnliche Strafe. Es ist vorgekommen, daß man ein Mädchen, dessen einziges ›Verbrechen‹ darin bestand, daß sie einem Arbeiter ein Flugblatt überreicht hatte, zu neun Jahren Zwangsarbeit und lebenslänglicher Verbannung nach Sibirien verurteilte. Ein anderes vierzehnjähriges Mädchen, Namens Gukowskaja, wurde auf Lebenszeit in ein abgelegenes sibirisches Dorf verschickt, weil sie, wie Goethes Klärchen, versucht hatte, eine gleichgültige Menge zur Befreiung Kowalskys und seiner Freunde auf ihrem Wege zum Galgen zu entflammen – eine Tat, die in Rußland, selbst vom Standpunkte der Behörden aus, umso natürlicher war, als das Strafgesetz in unserem Lande die Todesstrafe bei gemeinen Verbrechen nicht kennt und ihre Anwendung bei politischen Verbrechen damals unerhört war und einen Rückfall in fast vergessene Traditionen bedeutete. In die Wildnis hinausgestoßen, suchte das junge Mädchen bald seinen Tod in den Fluten des Jenissei. Selbst die vom Gerichte Freigesprochenen wurden von der Polizei in kleine Ortschaften Sibiriens und des nordöstlichen Rußlands verbannt, wo sie mit den ihnen von der Regierung gewährten sechs Mark monatlich nicht das bare Leben fristen konnten. Industrie gibt es in diesen Ortschaften nicht, und das Erteilen von Unterricht war den Verbannten streng verboten.

Anscheinend um die Erbitterung des jungen Rußlands noch mehr zu steigern, wurden die Verurteilten nicht unmittelbar nach Sibirien geschickt. Man kerkerte sie zuerst jahrelang in Zentralgefängnissen ein, wo sie die Verbrecher in den sibirischen Minen um ihr Leben beneiden lernten. Diese Gefängnisse waren in der Tat fürchterlich. In einem, einer ›Typhushöhle‹, wie es der Gefängnisprediger in einer Predigt bezeichnete, stieg die Sterblichkeit in zwölf Monaten auf zwölf Prozent. In den Zentralgefängnissen und in den sibirischen Kerkern, in denen die zu Zwangsarbeit Verurteilten schmachteten, mußten die Gefangenen durch Verweigerung der Nahrungsaufnahme den Tod suchen, um sich vor der Roheit der Wärter zu retten oder um eine Änderung ihrer Lage – durch die Erlaubnis, in ihrer Zelle etwas tun oder lesen zu dürfen – herbeizuführen, da sie sonst in wenigen Monaten dem Wahnsinn verfallen wären. Aber selbst das grausige Bild, das Männer und Frauen boten, wenn sie sieben oder acht Tage hintereinander jede Nahrung zurückwiesen und dann regungslos mit irrem Geiste da lagen, schien auf die Gendarmen keinen Eindruck zu machen. In Charkow wurden die am Boden liegenden Gefangenen mit Stricken gebunden und ihnen gewaltsam Speise eingeflößt.

Die Nachricht von diesen Greueln sickerte durch die dicksten Kerkermauern, durchflog die endlosen Öden Sibiriens und wurde weit und breit unter den Jungen bekannt. Eine Zeitlang verging keine Woche, ohne daß eine neue Ruchlosigkeit wie die mitgeteilte, oder noch Schlimmeres aufgedeckt wurde.

Helle Erbitterung bemächtigte sich der jungen Leute. »In andern Ländern,« sagten sie, »hat man den Mut zum Widerstande. Ein Engländer, ein Franzose ertrüge solchen Schimpf nicht. Wie können wir ihn ertragen? Laßt uns mit den Waffen in der Hand den nächtlichen Haussuchungen der Gendarmen Widerstand leisten! Da die Verhaftung doch nur einen langsamen und unrühmlichen Tod unter ihren Händen bedeutet, so sollen sie wenigstens erfahren, daß sie uns nicht ohne tödlichen Kampf greifen können.« So empfingen in Odessa Kowalsky und seine Freunde die Gendarmen, die sie nächtlicherweile verhaften wollten, mit Revolverschüssen.

Alexanders II. Antwort auf diese neue Bewegung war die Verkündigung des Belagerungszustandes. Rußland wurde in eine Anzahl von Bezirken eingeteilt und jeder einem Generalgouverneur unterstellt mit dem gemessenen Befehle, die Unbotmäßigen ohne Erbarmen aufzuknüpfen. Kowalsky und seine Freunde, die, nebenbei bemerkt, niemanden durch ihre Schüsse getötet hatten, mußten den Tod durch den Strang erleiden. Hängen lautete der Tagesbefehl. Dreiundzwanzig verloren so in zwei Jahren ihr Leben, darunter ein neunzehnjähriger Jüngling, den man gefaßt hatte, als er einen revolutionären Aufruf auf einer Eisenbahnstation anschlug, die einzige Anklage, die man gegen ihn vorbringen konnte. Er war ein Jüngling, aber er starb wie ein Mann.

›Selbstverteidigung‹ lautete nun das Losungswort der Revolutionäre; Selbstverteidigung gegen die Spione, die sich unter der Maske der Freundschaft in die Kreise einschlichen und deren Mitglieder schonungslos denunzierten, lediglich, weil sie nur bei einer genügenden Zahl von Denunziationen Bezahlung erhielten; Selbstverteidigung gegen die Peiniger der Gefangenen; Selbstverteidigung gegen die allmächtigen Häupter der Staatspolizei.

Drei hochstehende Beamte und zwei oder drei untergeordnete Spione fielen dieser neuen Phase des Kampfes zum Opfer. General Mesentsow, der den Zaren nach dem Prozeß gegen die hundertdreiundneunzig zur Verdopplung der Strafen veranlaßt hatte, wurde am hellen Tage in Petersburg getötet. Einen Gendarmerieoberst, der sich Schlimmeres hatte zu schulden kommen lassen, traf in Kiew dasselbe Los, und mein Vetter, der Generalgouverneur von Charkow, Dmitri Krapotkin, wurde auf der Rückfahrt vom Theater erschossen. Das Zentralgefängnis, in dem es zuerst zur Verweigerung der Nahrungsaufnahme und zur zwangsweisen Einflößung von Speisen kam, war ihm unterstellt. In Wirklichkeit war er kein schlechter Mann; ich weiß, daß er in seinen persönlichen Empfindungen den politischen Gefangenen eher wohl wollte, aber er war ein Schwächling und Höfling und scheute sich, sofort einzuschreiten. Ein Wort von ihm hätte der Mißhandlung der Gefangenen Einhalt getan. Alexander II. war ihm so gewogen und seine Stellung bei Hofe eine so starke, daß man sein Eingreifen wahrscheinlich gutgeheißen hätte. »Danke Ihnen; Sie haben meinen eigenen Wünschen gemäß gehandelt,« sagte der Zar ein paar Jahre vorher zu ihm, als mein Vetter nach Petersburg kam und berichtete, er habe bei einem Aufruhr der ärmeren Bevölkerung in Charkow eine friedliche Haltung eingenommen und die Aufrührer mit Nachsicht behandelt. Aber diesmal gab er den Kerkermeistern nach, und die jungen Leute in Charkow waren über die Behandlung ihrer Freunde so erbittert, daß ihn einer erschoß.

Doch blieb die Person des Kaisers aus dem Spiele, und bis zum Jahre 1879 fand kein Attentat auf ihn statt. Das Haupt des ›Zar-Befreiers‹ umschwebte eine Strahlenkrone, die ihm einen weit besseren Schutz gewährte als die Scharen von Polizisten. Hätte Alexander II. in dieser Periode seiner Herrschaft nur die geringste Neigung zur Verbesserung der russischen politischen Zustände gezeigt, hätte er nur einen oder zwei von den ihm während der Reformperiode zur Seite stehenden Mitarbeitern berufen und ihnen Auftrag gegeben, die Lage des Landes oder auch nur der Bauernschaft zu untersuchen, hätte er nur irgendwie die Absicht durchblicken lassen, die Befugnisse der geheimen Polizei zu beschränken: man würde seinen Schritten zugejubelt haben. Ein Wort hätte ihn wieder zum ›Befreier‹ gemacht, und noch einmal hätten die Jungen Herzens Ausspruch wiederholt: »Du hast gesiegt, Galiläer!« Aber gerade wie in ihm während des polnischen Aufstandes der Despot erwachte und er, von Katkow angetrieben, zum Hängen seine Zuflucht nahm, so wußte er auch jetzt, von demselben üblen Genius, Katkow, beraten, nichts anderes zu tun, als besondere Militärgouverneure zu ernennen – zum Zwecke des Hängens.

Da und erst da erklärte eine Handvoll Revolutionäre, das Exekutiv-Komitee, dem allerdings die wachsende Mißstimmung in den gebildeten Klassen und selbst in der unmittelbaren Umgebung des Zaren den Boden bereitete, gegen den Absolutismus den Krieg, der nach verschiedenen Attentaten 1881 mit dem Tode Alexanders II. seinen Abschluß fand.

Wie ich schon einmal sagte, lebten in Alexander II. zwei Naturen, und der Konflikt zwischen diesen beiden, der im Laufe seines Lebens immer größer geworden war, nahm einen wahrhaft tragischen Charakter an. Als ihm Solowjow entgegentrat, der auf ihn schoß, aber beim ersten Schusse nicht traf, hatte der Kaiser die Geistesgegenwart, während Solowjow weitere Schüsse abfeuerte, nicht in einer geraden Linie, sondern im Zickzack zur nächsten Tür zu laufen, und so kam er mit einem nur seinen Rock streifenden Schusse davon. Ebenso gab er an seinem Todestage unzweifelhafte Beweise seines Mutes. Angesichts einer wirklichen Gefahr zeigte er sich unerschrocken, während er unaufhörlich vor den Geschöpfen seiner Einbildungskraft zitterte. Einmal schoß er auf einen Adjutanten, als dieser eine jähe Bewegung machte und der Kaiser dachte, er wolle ein Attentat auf sein Leben ausführen. Nur aus Furcht vor einem gewaltsamen Tode ließ er seine ganze Kaisermacht in die Hände von Leuten übergehen, denen nichts an ihm, sondern nur an ihren einträglichen Stellungen gelegen war.

 

Zweifellos hatte er der Mutter seiner Kinder ein Gefühl der Zuneigung bewahrt, obwohl er es damals schon mit der Fürstin Dolgoruky hielt, die er unmittelbar nach dem Tode der Kaiserin zu seiner Frau machte. »Sprechen Sie mir nicht von der Kaiserin, es ist mir zu schmerzlich,« sagte er mehr als einmal zu Loris Melikow. Und doch zog er sich gänzlich von der Zarin Marie zurück, die ihm, als er der ›Zar-Befreier‹ war, treu zur Seite gestanden hatte. Er ließ sie, völlig verlassen und nur von zwei ihr ganz ergebenen Damen gepflegt, im Palaste dem Tode entgegengehen, während er selbst in einem anderen Schlosse wohnte und ihr nur kurze, förmliche Besuche abstattete. Ein wohlbekannter, jetzt gestorbener russischer Arzt erzählte seinen Freunden, daß er, ein Fremder, über die Vernachlässigung der Kaiserin während ihrer letzten Krankheit empört gewesen sei, natürlich wären auch die Hofdamen dem Beispiele des Kaisers gefolgt und hätten ihre Aufmerksamkeit einzig der Fürstin Dolgoruky gewidmet.

Als das Exekutiv-Komitee den verwegenen Versuch machte, den Winterpalast selbst in die Luft zu sprengen, tat Alexander einen Schritt, der ohnegleichen war. Er schuf eine Art Diktatur, indem er Loris Melikow mit unbeschränkter Macht bekleidete. Diesem General, einem Armenier, hatte der Kaiser schon einmal eine ähnliche diktatorische Befugnis verliehen, damals als die Bubonenpest an der untern Wolga ausbrach und Deutschland seine Truppen mobil zu machen und Rußland unter Quarantäne zu stellen drohte, wenn der Seuche nicht Halt geboten würde. Als Alexander jetzt sah, daß er sich nicht einmal auf die Wachsamkeit der Palastpolizei verlassen könnte, übertrug er Loris Melikow diktatorische Gewalt, und da Melikow im Rufe liberaler Gesinnung stand, so faßte man diesen neuen Schritt in dem Sinne auf, als bedeute er die baldige Einberufung einer Nationalversammlung. Da aber in der nächsten Zeit nach jener Explosion kein neuer Anschlag auf sein Leben gemacht wurde, wuchs Alexander wieder der Mut, und nach wenigen Monaten, ehe Melikow noch irgend etwas hatte ausführen können, wurde aus dem Diktator ein einfacher Minister des Innern.

Die schon erwähnten plötzlichen Anfälle von Schwermut, während deren Alexander II. sich selbst wegen des rückschrittlichen Charakters seiner Regierung Vorwürfe machte, nahmen jetzt die Form heftiger Weinkrämpfe an. Stundenlang saß er weinend da, so daß Melikow verzweifeln wollte. Dann richtete er wohl an seinen Minister die Frage: »Wann wird Ihr Verfassungsentwurf fertig?« Wenn aber Melikow nach zwei Tagen erklärte, der Plan sei vollendet, schien der Kaiser nichts mehr von der Sache zu wissen und fragte: »Hab' ich davon gesprochen? Wozu? Wir überlassen das besser meinem Nachfolger. Das wird seine Morgengabe für Rußland sein.«

Als ihn Gerüchte von einem neuen Anschlage erreichten, war er willens, zur Befriedigung des Exekutiv-Komitees etwas zu tun; als dann aber die Revolutionäre Ruhe zu halten schienen, lieh er sein Ohr wieder den reaktionären Ratgebern und ließ den Dingen ihren Lauf. Melikow erwartete jeden Augenblick seine Entlassung.

Im Februar 1881 berichtete Melikow an den Kaiser, das Exekutiv-Komitee habe einen neuen Anschlag vorbereitet, aber trotz aller Nachforschungen sei Genaueres über den Plan nicht in Erfahrung zu bringen. Hierauf beschloß Alexander II. die Einberufung von Abgeordneten der Provinzen zu einer Art von beratender Versammlung. Immer unter dem Banne des Gedankens stehend, er würde das Los Ludwigs XVI. teilen, beschrieb er diese Versammlung als eine ›Assemblée des Notables‹, wie die, welche Ludwig XVI. 1787 vor der Nationalversammlung zusammenberufen hatte. Der Plan sollte zunächst dem Staatsrat vorgelegt werden; dann aber zauderte der Zar von neuem. Erst am Morgen des 1. (13.) März 1881, als Loris Melikow seine Warnung wiederholt hatte, gab der Kaiser den Befehl, am nächsten Donnerstag den Entwurf vor den Staatsrat zu bringen. Dies war am Sonntag, und Melikow bat ihn, an diesem Tage nicht zur Parade zu gehen, da sein Leben unmittelbar bedroht sei. Trotzdem ging er. Er wollte die Großfürstin Katharina (die Tochter seiner Tante Helene Pawlowna, die 1861 eine der leitenden Persönlichkeiten der Reformpartei gewesen war) aufsuchen und ihr die willkommene Neuigkeit überbringen – vielleicht als ein Sühneopfer für das Andenken an die Kaiserin Marie. Er soll zu ihr gesagt haben: »Ich habe mich entschlossen, eine Notabelnversammlung zusammenzurufen.« Doch dieses verspätete und nur mit halbem Herzen gewährte Zugeständnis war nicht bekannt geworden, und auf dem Rückwege zum Winterpalaste fand er seinen Tod.

Wie das Ereignis sich zutrug, ist bekannt. Es wurde unter seinen eisenbeschlagenen Wagen, um ihn zum Halten zu bringen, eine Bombe geworfen, wobei mehrere Tscherkessen von der Leibwache Verwundungen erlitten. Der Bombenwerfer, Rysakow, wurde auf der Stelle verhaftet. Hierauf stieg der Zar aus trotz des dringenden Rates des Kutschers, er möge sitzen bleiben, da er ihn in dem unbedeutend beschädigten Wagen weiterfahren könnte. Alexander meinte, seine militärische Ehre verlange, daß er zu den verwundeten Tscherkessen gehe und ihnen sein Beileid ausdrücke, hatte er es doch mit den Verwundeten im türkischen Kriege ebenso gemacht, als man an seinem Namenstage jenen tollen Sturm auf Plewna befahl, der einen so entsetzlich unheilvollen Ausgang nehmen sollte. Er näherte sich Rysakow und fragte ihn etwas, und als er dabei dicht bei einem andern jungen Mann, Grinewetsky, der dort mit einer Bombe stand, vorüberging, warf dieser die Bombe zwischen sich und den Zaren, um sie beide zu töten. Beide wurden auch furchtbar verwundet und lebten nur noch ein paar Stunden.

Dort lag Alexander II. auf dem Schnee, von seiner ganzen Begleitung im Stich gelassen! Alle waren verschwunden. Nur einige Kadetten, die von der Parade heimgingen, hoben den sterbenden Zaren auf, legten ihn auf einen Schlitten und breiteten einen Kadettenmantel über den zuckenden Körper. Und mit ihnen stürzte zum Beistand einer der Terroristen, Emelianow, mit einer in Papier gewickelten Bombe unter dem Arm auf den Verwundeten zu, obwohl er Gefahr lief, auf der Stelle ergriffen und gehängt zu werden. Welche Kontraste birgt doch die menschliche Natur!

So endete die Lebenstragödie Alexanders des Zweiten. Man hat es unbegreiflich gefunden, daß ein Zar, der so viel für Rußland getan hatte, sein Leben unter den Händen der Revolutionäre aushauchte. Mir aber, der zufällig Zeuge der ersten reaktionären Schritte Alexanders II. und seiner immer schlimmeren Mißregierung war, der einen Blick in sein zwiespältiges Wesen getan hat, mir schien es, daß sich die Tragödie mit unvermeidlicher Schicksalsnotwendigkeit wie in einem Shakespeareschen Drama vollzog. Ich hatte in ihm den geborenen Selbstherrscher erkannt, dessen Heftigkeit nur etwas durch seine Bildung gemildert wurde, einen Mann, der militärische Mannhaftigkeit besaß, aber jedes politischen Mutes entbehrte, einen Mann von starken Leidenschaften und schwachem Willen. So stand mir schon der letzte Akt vor Augen an jenem Tage, am 13. Juni 1862 – es war unmittelbar nach Erlaß seiner ersten Blutbefehle gegen die aufrührerischen Polen –, als er an uns neuernannte Offiziere eine Ansprache hielt.

 

Wilde Furcht ergriff die Petersburger Hofkreise. Alexander III., der trotz seiner mächtigen Gestalt und Körperkraft keinen Überfluß an Mut hatte, weigerte sich aus Furcht vor einem Attentat, den Winterpalast zu beziehen, und vergrub sich in den Palast seines Großvaters, Pauls I., in Gatschina.

Ich kenne jenes alte, ursprünglich als Festung nach Vaubans System angelegte Gebäude inmitten von Wassergräben und unter dem Schutze von Wachttürmen, von deren Spitzen geheime Treppen zum Arbeitszimmer des Kaisers führen. Ich habe in diesem Zimmer die Falltüren gesehen, vermittels deren man einen Feind plötzlich auf die scharfen Felsen in dem darunter befindlichen Wasser stürzen konnte, und die geheime Treppe, die zu unterirdischen Verliesen und zu einem an einen See mündenden unterirdischen Gange führte. Alle Schlösser Pauls I. waren nach einem ähnlichen Plane gebaut. Inzwischen grub man um den Anitschkow-Palast, in dem Alexander III. als Thronfolger wohnte, eine unterirdische Galerie, die zum Schutze gegen eine Unterminierung durch die Revolutionäre mit selbsttätigen elektrischen Vorrichtungen versehen war.

Man gründete einen Geheimbund mit dem Zwecke, das Leben des Zaren zu schützen; Offiziere aller Grade wurden durch Verdreifachung ihres Gehaltes zum Beitritt gewonnen und entfalteten ihre spionierende Tätigkeit in allen Gesellschaftskreisen. Daß es da zu heiteren Szenen kam, kann man sich denken. Zwei Offiziere, die nicht wußten, daß sie beide zum Bunde gehörten, suchten einander auf einer Eisenbahnfahrt zu unloyalen Reden zu verlocken und wollten einander dann verhaften, mußten aber zu ihrem Schmerze im letzten Augenblick erfahren, daß alle Liebesmüh umsonst gewesen war. Diese Verbindung besteht noch in mehr offizieller Form unter dem Namen ›Ochrana‹ (Schutz) und versetzt, um ihre Existenzberechtigung zu erweisen, den jetzigen Zaren von Zeit zu Zeit durch alle möglichen erdichteten Gefahren in Schrecken.

Zur selben Zeit bildete sich unter Leitung des Bruders des Zaren, Wladimir, eine noch geheimere Organisation, die Heilige Liga, die den Zweck verfolgte, den Revolutionären in jeder Weise entgegenzuarbeiten. Hierzu gehörte auch der Plan, denjenigen Flüchtlingen, die man für die Leiter der letzten Verschwörungen hielt, nach dem Leben zu stellen. Auch ich gehörte zu diesen vermeintlichen Leitern. Mit heftigen Worten warf der Großfürst den Offizieren der Liga ihre Feigheit vor und bedauerte, daß keiner unter ihnen wäre, der diese Flüchtlinge vom Leben zum Tode befördern wollte. Einem Offizier, der mit mir zusammen im Pagenkorps gewesen war, wurde dieser besondere Auftrag zu teil.

In Wahrheit hatten die im Auslands weilenden Flüchtlinge keinen Teil an dem, was das Exekutiv-Komitee in Petersburg tat. Es wäre barer Unsinn gewesen, von der Schweiz aus Verschwörungen ins Werk setzen zu wollen, während die in Petersburg handelnden Personen bei jedem Schritt ihr Leben aufs Spiel setzten. Wie Stepniak und ich verschiedene Male schriftlich erklärten, würde keiner von uns die zweifelhafte Aufgabe auf sich genommen haben, einen Aktionsplan zu entwerfen, ohne selbst an Ort und Stelle zu sein. Aber der Petersburger Polizei paßte es natürlich in ihre Rechnung, zu behaupten, sie sei nicht imstande, den Zaren zu beschützen, weil alle Anschläge vom Ausland ausgingen, und ihre Kundschafter versahen sie, wie mir wohl bekannt ist, reichlich mit entsprechenden Berichten.

Auch an Skobelew, den Helden des türkischen Krieges, trat man mit der Aufforderung heran, sich der Liga anzuschließen, was er ohne weiteres ablehnte. Aus Loris Melikows hinterlassenen Papieren, die zum Teil von einem seiner Freunde in London veröffentlicht wurden, ergibt sich, daß Skobelew sogar, als Alexander III. nach seiner Thronbesteigung mit der Einberufung der Notablenversammlung zauderte, Loris Melikow und Ignatiew (dem ›Lügen-Pascha‹, wie ihn die Diplomaten in Konstantinopel scherzhafterweise nannten) gegenüber sich anheischig machte, den Kaiser in Haft zu nehmen und ihn zur Unterzeichnung eines konstitutionellen Manifestes zu nötigen. Hierauf soll Ignatiew dem Zaren den Plan verraten und dadurch seine Ernennung zum Ministerpräsidenten erlangt haben. In dieser Stellung hat er dann auf den Rat Andrieux', des Ex-Polizeipräfekten von Paris, die revolutionäre Bewegung durch Anwendung verschiedenartiger Kriegslisten zu lähmen gesucht.

Hätten die russischen Liberalen damals nur über ein gewisses Maß von Mut und eine einigermaßen kräftig wirksame Organisation verfügt, so wäre es zur Einberufung einer Nationalversammlung gekommen. Aus denselben Melikowschen hinterlassenen Papieren ersieht man, daß Alexander III. eine Zeitlang zu dieser konstitutionellen Tat bereit war. Er hatte sich dazu entschlossen und seinem Bruder davon Mitteilung gemacht. Auch bestärkte ihn der alte Kaiser Wilhelm I. in dieser Absicht. Erst als er die völlige Untätigkeit der Liberalen sah, während die Katkowsche Partei emsig in entgegengesetzter Richtung an der Arbeit war – Andrieux riet zur Austilgung der Nihilisten und gab die Mittel zur Erreichung dieses Zieles an (das betreffende Schreiben des Expräfekten kam in den erwähnten Papieren zur Veröffentlichung) – erst da entschloß sich endlich Alexander III. zu der Erklärung, er werde seine Regierung als unbeschränkter Herrscher des Reiches fortsetzen.

 

Wenige Monate nach dem Tode Alexanders II. wurde ich auf Befehl des Bundesrates aus der Schweiz ausgewiesen. Ich ließ mich das nicht weiter kümmern. Von den monarchischen Mächten angegriffen, weil die Schweiz allen Flüchtlingen eine Freistatt gewähre, und von der russischen offiziellen Presse durch die Drohung einer Massenausweisung aller Schweizer Gouvernanten und Kammerjungfern aus Rußland eingeschüchtert, gaben die Schweizer Machthaber der russischen Polizei durch meine Ausweisung gewissermaßen Genugtuung. Aber ich bedaure jenen Schritt sehr um der Schweiz selbst willen. Denn es lag darin eine Anerkennung der Theorie von den ›in der Schweiz angesponnenen Verschwörungen‹ und ein Bekenntnis der Schwäche, das sich andere Mächte sofort zu nutze machten. Als Jules Ferry zwei Jahre später Italien und Deutschland die Teilung der Schweiz vorschlug, hat er jedenfalls auch das Argument vorgebracht, die Schweizer Regierung habe selbst zugegeben, daß ihr Land ›eine Brutstätte internationaler Verschwörungen‹ sei. Diese erste ›Gefälligkeit‹ führte zu immer anmaßenderen Zumutungen und hat sicher die Unabhängigkeit der Schweiz weit mehr gefährdet, als es die Weigerung, der Forderung Rußlands nachzukommen, getan hätte.

Der Ausweisungsbefehl wurde mir unmittelbar nach meiner Rückkehr aus London, wo ich im Juli 1881 einem anarchistischen Kongreß beiwohnte, zugestellt. Nach dem Kongreß war ich noch ein paar Wochen in England geblieben und schrieb dort für das ›Newcastle Chronicle‹ die ersten Aufsätze über russische Verhältnisse von unserm Standpunkt aus. Die englische Presse war damals, was die Darstellung russischer Verhältnisse betraf, ein Echo von Frau Nowikows Ansichten, das heißt von Katkow und der russischen Staatspolizei, und ich war sehr froh, als mir Herr Joseph Cowen gastfreundlich sein Blatt zur Darlegung unserer Anschauungen zur Verfügung stellte.

Ich hatte gerade meine Frau aufgesucht, die im Hochgebirge unweit Elisée Reclus' Wohnung weilte, als an mich die Aufforderung erging, die Schweiz zu verlassen. Wir schickten unser wenig umfangreiches Reisegepäck zur nächsten Eisenbahnstation und gingen zu Fuß nach Aigle, wobei wir zum letztenmal die Aussicht auf die Berge genossen, die wir beide so sehr liebten. Auf den kürzesten Pässen überstiegen wir das Gebirge und lachten, als wir merkten, daß gerade die kurzen Pässe zu den längsten Talwindungen führen. Als wir dann die Sohle des Tales erreicht hatten, wanderten wir die staubige Straße entlang. Die Komik, die in solchen Fällen nicht auszubleiben pflegt, wurde diesmal von einer Engländerin herbeigeführt. Diese, die in reicher Kleidung neben einem Herrn in die Kissen eines Mietwagens zurückgelehnt saß, warf den ärmlich gekleideten Wanderern beim Vorüberfahren einige Traktate zu. Ich hob die Blätter vom Straßenstaub auf. Offenbar gehörte die Spenderin zu jenen Damen, die sich selbst für Christinnen halten und es für ihre Pflicht erachten, religiöse Schriften an ›gottlose Fremde‹ auszuteilen. In der sichern Annahme, wir würden sie an der Eisenbahnstation einholen, schrieb ich auf eines von den Flugblättern den bekannten Bibelvers über die Reichen und das Reich Gottes und ähnliche den Umständen entsprechende Stellen über die Pharisäer als die ärgsten Feinde des Christentums. Als wir nach Aigle kamen, nahm die Dame eben in ihrem Wagen Erfrischungen zu sich. Offenbar wollte sie lieber die Reise durch das liebliche Tal in ihrem Fuhrwerk als in einem dumpfigen Eisenbahnwagen fortsetzen. Mit einer Verbeugung gab ich ihr die Flugblätter zurück und bemerkte, ich hätte noch etwas dazugeschrieben, das vielleicht zu ihrer eigenen Erbauung dienen könnte. Die Dame wußte nicht, ob sie auf mich losfahren oder ob sie die Lektion mit christlicher Langmut hinnehmen sollte. In ihren Augen drückten sich in schneller Abwechslung beide Empfindungen aus.

Da meine Frau eben im Begriffe war, sich an der Genfer Universität das Baccalaureat zu erwerben, so ließen wir uns in einer kleinen französischen Ortschaft, Thonon, die an der savoyischen Küste des Genfer Sees gelegen ist, nieder und blieben dort ein paar Monate.

Was das Todesurteil der Heiligen Liga betrifft, so kam mir von einer der höchsten Stellen Rußlands eine Warnung zu. Sogar der Name der Dame, die man von Petersburg nach Genf geschickt hatte, um dort den Hauptmittelpunkt der Verschwörung zu bilden, wurde mir bekannt. Ich teilte daher diese Tatsache dem Timeskorrespondenten in Genf mit der Bitte mit, wenn etwas vorkommen sollte, für die Veröffentlichung Sorge zu tragen, und schrieb ein paar Zeilen darüber in ›Le Révolté‹. Im übrigen ließ ich mich die Sache nicht weiter anfechten. Meine Frau nahm es nicht so leicht, und die gute Bauernfrau, Frau Sansaux, die uns Kost und Wohnung in Thonon gewährte, und die auf anderem Wege von dem Anschlage erfahren hatte (durch ihre Schwester, die in der Familie eines russischen Agenten Kindermädchen war), machte mich in höchst rührender Weise zum Gegenstand ihrer Sorge. Ihr kleines Haus lag außerhalb des Städtchens, und so oft ich abends nach dem Orte ging – manchmal, um meine Frau vom Bahnhof abzuholen – fand sie immer einen Vorwand, mich von ihrem Manne mit einer Laterne begleiten zu lassen. »Warten Sie nur einen Augenblick, Herr Krapotkin,« sagte sie gewöhnlich, »mein Mann geht auch den Weg, um was zu kaufen, und er trägt, wie Sie wissen, immer eine Laterne!« oder sie beauftragte ihren Bruder, mir, ohne daß ich es merkte, in einiger Entfernung zu folgen.

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