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Achtes Kapitel.

Zahlreiche Verhaftungen von Propagandisten in Petersburg. – Mein Vortrag in der Geographischen Gesellschaft. – Meine eigene Verhaftung. – Fruchtloses Verhör. – Verbringung in die Peter-Pauls-Festung.

 

In den zwei nächsten Jahren, von denen ich nun zu reden habe, wurden in Petersburg wie in den Provinzen viele Verhaftungen vorgenommen. Es verging kein Monat, ohne daß wir nicht einen oder den andern unserer Freunde verloren oder von dem Verschwinden verschiedener Mitglieder aus den Provinzialgruppen gehört hätten. Gegen Ende des Jahres 1873 häuften sich die Verhaftungen immer mehr. Im November drang die Polizei plötzlich auch in eines unserer Hauptversammlungslokale in einer Petersburger Vorstadt, wir verloren damals die Perowskaja und drei andere Freunde und mußten fürs erste alle unsere Beziehungen zu den Arbeitern dieser Stadtgegend abbrechen, wir gründeten darauf etwas weiter von der Stadt entfernt einen neuen Agitationsherd, mußten ihn aber bald wieder aufgeben. Die Wachsamkeit der Polizei steigerte sich, es konnte sich kein Student mehr unbemerkt in einem Arbeiterviertel zeigen, und überall waren die Arbeiter von Spähern umgeben, die ihr Tun und Treiben scharf kontrollierten, wir drei, Dmitri Kelnitz, Sergei und ich, kamen in unsern Schafspelzen und mit unsern unverdächtigen Mienen immer glücklich durch und dachten nicht daran, den gefährlichen Boden zu meiden. Doch wurden Dmitri und Sergei, deren Namen in den Arbeitervierteln weithin bekannt geworden waren, von der Polizei eifrig gesucht, und hätte man sie zufällig bei einer nächtlichen Haussuchung in der Wohnung eines Freundes gefunden, so wäre ihre Verhaftung sofort erfolgt. Zu manchen Zeiten mußte Dmitri jeden Tag nach einem Platze herumlaufen, wo er die Nacht verhältnismäßig sicher zubringen könnte. Abends um zehn Uhr trat er dann wohl zu einem Kameraden ins Zimmer mit den Worten: »Kann ich die Nacht bei dir bleiben?« »Unmöglich, man hat meine Wohnung in letzter Zeit scharf beobachtet. Geh lieber zu N.« »Von dem komme ich eben; er sagt, Späher trieben sich in großer Zahl in seiner Nachbarschaft herum.« »Dann geh zu M.; er ist ein guter Freund von mir, und man hegt nicht den geringsten Verdacht gegen ihn. Aber es ist weit von hier, und du mußt eine Droschke nehmen. Hier ist Geld.« Dmitri aber, der grundsätzlich keine Droschke benutzte, ging bis ans andere Ende der Stadt, dort eine Zuflucht zu finden, oder begab sich schließlich zu einem Freunde, in dessen Zimmer jeden Augenblick die Polizei erscheinen konnte.

In den ersten Tagen des Januars ging uns ein weiterer Versammlungsort verloren, der den Mittelpunkt unserer Agitation unter den Webern gebildet hatte. Einige von unseren tätigsten Mitgliedern verschwanden hinter den Toren der geheimnisvollen Dritten Abteilung. Unser Kreis wurde enger und allgemeine Versammlungen immer schwieriger, wir machten daher die äußersten Anstrengungen, neue Vereinigungen von jungen Männern zu bilden, die unser Werk fortsetzen könnten, wenn wir alle verhaftet wären. Tschaykowsky befand sich bereits im Süden, und Dmitri und Sergei wurden von uns geradezu mit Gewalt gezwungen, Petersburg gleichfalls zu verlassen. Es blieben nur fünf oder sechs von uns zurück, die nun alle Arbeit unseres Kreises auf sich nehmen mußten. Auch ich hatte die Absicht, sobald ich meinen Bericht an die Geographische Gesellschaft zum Vortrag gebracht hätte, nach dem Südwesten Rußlands zu gehen und dort eine Art Landliga, ähnlich der, die in Irland am Ende der siebziger Jahre so mächtig geworden ist, zu gründen.

Nachdem es zwei Monate verhältnismäßig ruhig gewesen war, erfuhren wir Mitte März, daß so ziemlich der ganze Verein der Maschinisten verhaftet worden sei und mit ihnen auch ein junger Mann, Namens Nisowkin, ein früherer Student, der unglücklicherweise ihr Vertrauen besaß, von dem wir aber überzeugt waren, er würde sich bald durch Verrat alles dessen, was er über uns wußte, freizumachen suchen. Außer Dmitri und Sergei kannte er Serdukow, den Gründer des Kreises, und mich, und wir machten uns daher darauf gefaßt, er würde, sobald man ihn mit Fragen drängte, unsere Namen nennen. Ein paar Tage darauf verhaftete man ferner zwei Weber, höchst unzuverlässige Burschen, die sogar ihren Kameraden gehöriges Geld unterschlagen hatten, und die mich unter dem Namen Borodin kannten. Es war nicht zu zweifeln, daß diese sofort die Polizei auf die Spur Borodins, des Mannes in Bauerntracht, der bei den Weberversammlungen das Wort führte, bringen würden. Es dauerte nun keine Woche mehr, so waren alle Mitglieder unseres Kreises außer Serdukow und mir verhaftet.

Auch uns blieb hiernach nichts anderes übrig, als aus Petersburg zu flüchten, aber gerade das wollten wir nicht. Wir dachten an unsere umfassende Organisation zum Druck unserer Flugschriften im Auslande und zur Einschmuggelung derselben in Rußland, an das Netzwerk von geheimen Vereinen, eigenen Landgütern und sonstigen Agitationsherden auf dem Lande in fast vierzig (von den insgesamt fünfzig) Provinzen des europäischen Rußland, mit denen wir in Korrespondenz standen, nachdem wir sie erst mühsam in den letzten zwei Jahren gegründet hatten, wir dachten endlich auch an unsere Arbeitergruppen in der Hauptstadt und unsere hier, in Petersburg, noch bestehenden vier Agitationsherde, wie konnten wir dies alles im Stiche lassen, ehe wir Männer gefunden hatten, die unsere Beziehungen und die Korrespondenz aufrecht erhielten? Wir, Serdukow und ich, beschlossen daher, in unseren Kreis zwei neue Mitglieder aufzunehmen und ihnen die Arbeit zu übertragen. Jeden Abend trafen wir uns in verschiedenen Stadtteilen, und da wir niemals schriftliche Verzeichnisse von Adressen oder Namen führten, – nur die Schmuggeladressen waren chiffriert an einem sicheren Platze hinterlegt – so mußten wir unsere neuen Mitglieder Hunderte von Namen und Adressen und ein Dutzend Chiffren lehren, die wir solange wiederholten, bis sie unsere beiden Freunde auswendig kannten. So gingen wir allabendlich die ganze Karte von Rußland durch. Hierbei verweilten wir besonders lange auf der Westgrenze, wo eine große Zahl von Männern und Frauen zu merken war, welche Bücher von den Schmugglern in Empfang nahmen, sowie in den Ostprovinzen, wo wir unsere Hauptniederlassungen besaßen. Darauf hatten wir, natürlich immer in Verkleidung, die neuen Mitglieder bei unsern Gönnern in der Stadt und bei den noch nicht verhafteten Mitgliedern einzuführen.

Unter diesen Umständen galt es, aus der eigenen Wohnung zu verschwinden und irgendwo sonst in Petersburg unter einem angenommenen Namen aufzutauchen. Serdukow hatte denn auch sein Zimmer geräumt; da er aber keinen Paß besaß, hielt er sich bei Freunden verborgen. Ich hätte dasselbe tun sollen, wurde aber durch einen besonderen Umstand daran gehindert. Ich hatte nämlich soeben meinen Bericht über die Eisformationen in Finnland und Rußland beendet, und dieser Bericht sollte in einer Sitzung der Geographischen Gesellschaft zum Vortrag kommen. Die Einladungen waren schon erfolgt, doch zufällig hatten die beiden Petersburger geologischen Gesellschaften auf den bestimmten Tag eine gemeinsame Sitzung anberaumt und ersuchten deshalb die Geographische Gesellschaft, die Vorlesung meines Berichtes um eine Woche zu verschieben. Man wußte, ich wollte bestimmte Ideen über die Ausdehnung der Vereisung bis über das mittlere Rußland entwickeln, eine Annahme, die unsere Geologen mit Ausnahme meines Freundes und Lehrers, Friedrich Schmidt, für viel zu weitgehend hielten und darum einer gründlichen Diskussion zu unterwerfen gedachten. Ich mußte daher noch eine Woche länger in meiner Wohnung aushalten.

Fremde trieben sich um mein Haus herum und drangen unter allerhand unglaublichen Vorwänden in mein Zimmer; so wollte einer angeblich einen Wald auf meiner Tambower Besitzung kaufen, die doch in einer völlig baumlosen Gegend gelegen war. Auch bemerkte ich in meiner Straße – der vornehmen Morskaja – einen von den erwähnten verhafteten Webern und erkannte daraus ganz klar, daß es auf mein Haus abgesehen war. Trotzdem mußte ich tun, als wäre alles in Ordnung, da ich am folgenden Freitag abends in der Sitzung der Geographischen Gesellschaft erscheinen sollte.

Die Sitzung kam, die Diskussionen waren sehr belebt, und zum mindesten war eines hierbei gewonnen: man erkannte an, daß alle früheren Theorien über die Diluvialzeit in Rußland jeder Grundlage entbehrten, und daß die ganze Frage aufs neue in Angriff genommen werden müßte. Ich hatte die Genugtuung, unsern maßgebenden Geologen, Barbot de Marny, sagen zu hören: »Vereisung oder nicht; so viel müssen wir zugeben, meine Herren, daß alles, was bisher über die Wirkung schwimmender Eisberge behauptet worden ist, erst noch eines auf wissenschaftlicher Forschung beruhenden Beweises harrt.« Im Verlaufe der Sitzung schlug man mich zum Vorsitzenden der Sektion für physische Geographie vor, während ich mich fragte, ob ich nicht noch dieselbe Nacht in einem Gefängnisse der Dritten Abteilung zubringen würde.

 

Es wäre das beste gewesen, gar nicht in meine Wohnung zurückzukehren, aber ich fühlte mich nach den Anstrengungen der letzten Tage zu angegriffen, und meine Müdigkeit trieb mich heim. Die Polizei erschien am Abend nicht. Ich sah noch alle meine Papiere durch, vernichtete, was irgend jemanden hätte kompromittieren können, packte meine Sachen und bereitete alles zum Verlassen der Wohnung vor. Ich wußte, daß man meine Zimmer beobachtete, hoffte aber, die Polizei würde sich, wenn überhaupt, erst sehr spät einstellen, und ich könnte mich im Dunkeln unbemerkt entfernen. Als ich mich im Finstern aufmachte, sagte eins von den Dienstmädchen zu mir: »Sie tun besser, wenn Sie die Dienertreppe hinuntergehn.« Ich verstand, was sie sagen wollte, ging schnell diese Treppe hinunter und trat aus dem Hause. Es stand nur eine Droschke vor dem Tore. Ich sprang hinein und befahl dem Kutscher, mich zum Newsky-Prospekt zu fahren. Zunächst war von einer Verfolgung nichts zu spüren, und ich hielt mich für gerettet, da bemerkte ich eine zweite Droschke, die in größter Schnelligkeit uns nachfuhr; unser Pferd kam nicht so schnell vorwärts, und das andere Fuhrwerk holte uns ein.

Zu meinem Erstaunen erblickte ich darin einen von den beiden verhafteten Webern neben einer mir unbekannten Person. Er machte eine Handbewegung, als wollte er mir etwas sagen. Ich dachte: vielleicht ist er frei gekommen und hat mir etwas Wichtiges mitzuteilen. Sobald wir aber anhielten, schrie der Begleiter des Webers – es war ein Geheimpolizist: »Herr Borodin, Fürst Krapotkin, ich verhafte Sie!« Er gab den Polizisten, an denen auf der Hauptstraße von Petersburg kein Mangel ist, ein Signal, sprang zugleich in meine Droschke und zeigte mir ein Papier, das den Stempel der Petersburger Polizei trug. »Ich habe Befehl,« sagte er, »Sie zum Zwecke einer Erklärung vor den Generalgouverneur zu führen.« Ein Widerstand wäre zwecklos gewesen, da sich bereits ein paar Polizisten eingefunden hatten, und ich sagte daher meinem Kutscher, er solle umkehren und zum Hause des Generalgouverneurs fahren.

Jetzt war es klar, daß die Polizei zehn Tage lang Bedenken getragen hatte, mich zu verhaften, weil sie der Identität meiner Person mit ›Borodin‹ nicht ganz sicher gewesen war; erst der Umstand, daß ich der Aufforderung des Webers entsprach, hatte ihre Zweifel gelöst.

Zufällig war auch gerade, bevor ich mein Haus verließ, ein junger Mann aus Moskau gekommen, der mir einen Brief von meinem Freunde Woinaralsky, und einen zweiten von Dmitri für unsern gemeinschaftlichen Freund Poljakow brachte. In dem ersten wurde mir die Gründung einer geheimen Druckerei in Moskau und sonst viel Erfreuliches über die dortige Wirksamkeit mitgeteilt. Diesen Brief hatte ich gelesen und dann vernichtet. Den zweiten, der nur harmlose, freundschaftliche Mitteilungen enthielt, behielt ich bei mir. Jetzt aber, nach meiner Verhaftung, schien es mir doch besser, ihn ebenfalls zu beseitigen. Ich forderte daher den Detektiv auf, mir sein Beglaubigungsschreiben noch einmal zu zeigen, und benutzte die Zeit, während er in seiner Tasche suchte, den Brief auf das Pflaster fallen zu lassen, ohne daß er es bemerkte. Als wir aber am Hause des Generalgouverneurs ankamen, händigte der Weber den Brief dem Polizisten ein und sagte: »Ich habe gesehen, wie der Herr das Papier fallen ließ, und habe es aufgehoben.«

Jetzt mußte ich lange Stunden warten, bis der Vertreter der Staatsanwaltschaft erschien. Dieser Beamte spielt eigentlich die Rolle eines Strohmanns, der bei den willkürlichen Maßnahmen der Staatspolizei vorgeschoben wird, um ihrem Vorgehen einen Anschein von Gesetzlichkeit zu geben. Es vergingen viele Stunden, ehe man den Herrn fand und er seine Aufgabe als Scheinvertreter der Gerechtigkeit übernehmen konnte. Man brachte mich wieder in meine Wohnung und durchstöberte alle meine Papiere. Diese peinliche Durchsuchung dauerte bis drei Uhr morgens, ohne daß auch nur ein Fetzen Papier gefunden worden wäre, der mich oder einen andern bloßstellte.

Dann führte man mich vor die Dritte Abteilung, jene allmächtige Institution, die in Rußland vom Anfang der Regierung Nikolaus' I. bis zu unserer Zeit als wahrer ›Staat im Staate‹ geherrscht hat. Ihr Ursprung ist auf Peters I. ›Geheime Kammer‹ zurückzuführen, wo die Feinde des Begründers der russischen Militärmonarchie unter den furchtbarsten Qualen ihren Geist aushauchten; sie fand unter der Regierung der Kaiserinnen ihre Fortsetzung in der ›Geheimen Kanzlei‹, als die Folterkammer des allmächtigen Münnich ganz Rußland mit Schrecken erfüllte; und sie erhielt ihre gegenwärtige Organisation von dem eisernen Despoten, Nikolaus I., der ihr das Gendarmeriekorps angliederte, so daß dessen Chef im russischen Reiche eine viel gefürchtetere Person wurde als der Kaiser selbst.

In jeder russischen Provinz, in jeder größeren Stadt, ja, an jeder Eisenbahnstation gibt es Gendarmen, die an ihre besonderen Generäle oder Obersten Bericht erstatten, und diese stehen ihrerseits mit dem Chef der Gendarmen in beständiger Verbindung. Der letztere hat dem Kaiser täglich über alles, was ihm nötig erscheint, Vortrag zu halten. Alle Beamten des Reiches werden von Gendarmen überwacht; die Generäle und Obersten haben die Pflicht, das öffentliche wie das Privatleben jedes Untertanen des Zaren zu beobachten, selbst der Gouverneure, Minister und Großfürsten. Der Kaiser selbst ist Gegenstand ihrer scharfen Überwachung, und da sie stets in der Klatschchronik des kaiserlichen Hofes Bescheid wissen und von jedem Schritte, den der Kaiser außerhalb seines Palastes tut, Kunde haben, so wird der Chef der Gendarmen sozusagen der Vertraute der geheimsten Angelegenheiten der russischen Herrscher.

In dieser Periode von Alexanders II. Regierung war die Dritte Abteilung völlig allmächtig. Die Gendarmerieobersten unternahmen Tausende von Haussuchungen, ohne irgendwie nach Gesetz und Recht zu fragen. Sie nahmen nach Belieben Verhaftungen vor, hielten die Leute, solange als sie wollten, im Gefängnis fest und verschickten sie nach ihrer oder ihrer Vorgesetzten Willkür zu Hunderten nach dem nordöstlichen Rußland oder nach Sibirien. Die Unterschrift des Ministers des Innern war eine bloße Formsache, denn er hatte über das Gendarmeriekorps keine Kontrolle und nicht einmal Kenntnis von den Vorgängen.

 

Vier Uhr morgens begann endlich mein Verhör. »Sie sind angeklagt,« redete man mich feierlich an, »zu einer geheimen Gesellschaft gehört zu haben, deren Ziel der Umsturz der bestehenden Regierungsform ist, und gegen die geheiligte Person Sr. Kaiserlichen Majestät zu konspirieren. Bekennen Sie sich dieses Verbrechens schuldig?«

»Bis man mich vor Gericht stellt, wo ich öffentlich reden kann, werde ich Ihnen keinerlei Antwort geben.«

»Protokollieren Sie,« diktierte der Staatsanwalt einem Schreiber: »Bekennt sich nicht schuldig. Dennoch,« fuhr er nach einer Pause fort, »muß ich Ihnen gewisse Fragen vorlegen. Kennen Sie eine Person Namens Nikolai Tschaykowsky?«

»Wenn Sie mit Ihren Fragen fortfahren, so schreiben Sie zu jeder Frage, die Sie an mich zu richten belieben, ohne weiteres ›Nein‹.«

»Wenn wir Sie aber fragen, ob Sie – ich will sagen – Herrn Poljakow kennen, von dem Sie vor einem Weilchen gesprochen haben?«

»Sobald Sie mich nach dergleichen fragen, schreiben Sie nur gleich ›Nein‹ hin. Und wenn Sie mich fragen, ob ich meinen Bruder oder meine Schwester oder meine Stiefmutter kenne, schreiben Sie ebenfalls ›Nein‹. Sie werden keine andere Antwort von mir erhalten, denn wenn ich ›Ja‹ sagte, so würden Sie sofort gegen die betreffende Person irgend etwas Übles unternehmen, eine Haussuchung bei ihr veranstalten, oder noch zu etwas Schlimmerem schreiten, und dann sagen, ich hätte sie namhaft gemacht.«

Es wurde mir eine lange Liste von Fragen vorgelesen, auf die ich jedesmal geduldig erwiderte: »Schreiben Sie ›Nein‹!« Das dauerte eine Stunde lang, und ich ersah dabei, daß sich alle Verhafteten mit Ausnahme der beiden Weber sehr tapfer gehalten hatten. Den Webern war aber nur bekannt, daß ich zweimal mit einem Dutzend Arbeitern zusammengekommen war, und von unserem Kreise wußten die Gendarmen nichts.

»Was geben Sie an, Fürst?« sagte ein Gendarmerieoffizier zu mir, während er mich zu meiner Zelle zurückführte. »Aus Ihrer Weigerung, auf Fragen zu antworten, wird man eine furchtbare Waffe gegen Sie schmieden.«

»Habe ich nicht das Recht dazu, wie?«

»Ja, aber – Sie wissen … Ich hoffe, Sie finden dieses Zimmer nach Wunsch; es ist seit Ihrer Verhaftung geheizt worden.«

Ich fand es so weit ganz behaglich und fiel in einen gesunden Schlaf. Am nächsten Morgen weckte mich ein Gendarm, der mir meinen Morgentee brachte. Bald darauf kam eine andere Person, die mir ganz unvermutet ins Ohr flüsterte: »Hier ist Papier und Bleistift; schreiben Sie Ihren Brief!« Es war ein Freund unserer Sache, der mir dem Namen nach bekannt war; durch seine Vermittlung wurde gewöhnlich die Korrespondenz mit den Gefangenen der Dritten Abteilung bewerkstelligt.

Von allen Seiten hörte ich in schneller Folge mehrmals an die Wände klopfen. Es war dies die Art und Weise, wie sich die Gefangenen untereinander verständigten. Ich als Neuling wußte allerdings die leisen Töne, die mir aus allen Richtungen zu kommen schienen, nicht zu deuten.

 

Ein Gedanke quälte mich. Ich hatte zufällig gehört, wie der Staatsanwalt leise zum Gendarmerieoffizier davon sprach, es sollte die Wohnung meines Freundes Poljakow, an den Dmitris Brief gerichtet war, ebenfalls polizeilich durchsucht werden, Poljakow war ein junger Student, ein sehr begabter Zoologe und Botaniker, der mich auf meiner Witimexpedition in Sibirien begleitet hatte. Er stammte aus einer armen Kosakenfamilie an der mongolischen Grenze und war nach Überwindung aller möglichen Schwierigkeiten nach Petersburg gekommen, wo er die Universität besuchte. Hier hatte er sich den Ruf eines vielversprechenden Zoologen erworben, und gerade damals stand er unmittelbar vor der letzten Prüfung. Seit unserer langen gemeinsamen Forschungsreise waren wir nahe Freunde gewesen, hatten sogar in Petersburg eine Zeitlang die Wohnung geteilt; aber für meine politische Tätigkeit interessierte er sich nicht.

Ich sprach seinethalben mit dem Staatsanwalt. »Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort,« sagte ich, »daß Poljakow sich niemals an politischen Unternehmungen beteiligt hat. Morgen muß er ins Examen treten, und Sie werden die wissenschaftliche Laufbahn eines Mannes auf immer zerstören, der sich erst nach schweren Mühsalen und jahrelangem Kampfe gegen Widerwärtigkeiten jeder Art zu seiner jetzigen Stellung durchgerungen hat. Ich weiß, Sie fragen nicht viel danach, aber an der Universität gilt er als eine der künftigen Leuchten russischer Wissenschaft.«

Die Haussuchung fand trotzdem statt, doch wurde der Prüfung wegen ein Aufschub von drei Tagen gewährt. Ein paar Tage später führte man mich vor den Staatsanwalt, der mir triumphierend einen Briefumschlag mit einer von meiner Hand herrührenden Adresse ›J. S. Poljakow‹ zeigte und darin, ebenfalls in meiner Handschrift, die Zeilen: »Geben Sie dieses Paket, bitte, an V. E. mit dem Ersuchen, es zu behalten, bis es in der verabredeten Form abverlangt würde.« Die Person des Adressaten war in dem Schreiben nicht erwähnt. »Dieser Brief,« sagte der Staatsanwalt, »ist bei Herrn Poljakow gefunden worden, und sein Geschick, Fürst, liegt jetzt in Ihrer Hand. Wenn Sie mir sagen, wer V. E. ist, so wird Herr Poljakow entlassen, wenn Sie sich aber dessen weigern, so werden wir ihn so lange festhalten, bis er sich bequemt, uns den Namen jener Person bekannt zu geben.«

Nach einem Blick auf den mit schwarzer Kreide beschriebenen Umschlag und auf den Brief, zu dem ein gewöhnlicher Bleistift benutzt worden war, entsann ich mich sofort der Umstände, unter denen beides geschrieben wurde, und rief: »Ich bin sicher, daß Schreiben und Umschlag nicht zusammen gefunden worden sind. Sie haben den Brief in den Umschlag gesteckt.«

Der Staatsanwalt wurde rot.

»Ich soll Ihnen glauben,« fuhr ich fort, »daß Sie, ein praktischer Mann, nicht bemerkt haben sollten, daß beides mit ganz verschiedenen Stiften geschrieben ist? Und jetzt wollen Sie mich glauben machen, beides gehöre zu einander. Nun, so erkläre ich Ihnen, der Brief war nicht für Poljakow.«

Nach kurzer Verlegenheitspause hatte er sich wieder gesammelt und sagte mit dreister Stirn: »Poljakow hat zugegeben, daß dieser Brief an ihn geschrieben wurde.«

Nun wußte ich bestimmt, daß er log. Poljakow würde für seine Person alles eingestanden haben, aber er hätte sich lieber nach Sibirien verschicken lassen, ehe er jemand anders bloßstellte. So sagte ich zum Staatsanwalt und blickte ihm dabei gerade in die Augen: »Nein, mein Herr, das hat er niemals gesagt, und Sie wissen recht gut, daß Ihre Worte der Wahrheit nicht entsprechen.«

Er wurde wütend oder stellte sich wenigstens so. »Gut,« sagte er, »wenn Sie einen Augenblick hier warten, so will ich Ihnen Poljakows schriftliche dahin lautende Aussage bringen. Er wird soeben im nächsten Zimmer verhört.«

»Warte gern, solange Sie wollen.«

Ich saß auf dem Sofa und rauchte eine Zigarette nach der andern; aber die schriftliche Erklärung kam nicht und hat bis heute auf sich warten lassen.

Natürlich existierte eine solche Erklärung nicht. 1878 traf ich Poljakow in Genf, von wo wir einen herrlichen Ausflug auf den Aletschgletscher machten. Ich brauche kaum zu sagen, daß seine Antworten der Art waren, wie ich es erwartet hatte; er hatte geleugnet, irgend etwas von dem Briefe oder von der Person, die mit den Buchstaben V. E. gemeint war, zu wissen. Dutzende von Büchern fanden ihren Weg von mir zu ihm und zu mir zurück, und in einem der Bücher hatte man den Brief entdeckt, während der Umschlag in der Tasche eines alten Rockes bei ihm gefunden worden war. Poljakow blieb ein paar Wochen verhaftet und wurde dann infolge der Fürsprache seiner wissenschaftlichen Freunde freigegeben, V. E. ließ man unbehelligt; meine Papiere wurden zur rechten Zeit abgeliefert.

Wenn ich später den Staatsanwalt zu sehen bekam, ärgerte ich ihn regelmäßig mit der Frage: »Und wie steht's mit Poljakows Erklärung?«

Ich kam nicht wieder in meine Zelle, sondern nach einer Stunde trat der Staatsanwalt in Begleitung eines Gendarmerieoffiziers herein und sagte zu mir: »Unsere Untersuchung ist nun beendet; man wird Sie an einen andern Ort bringen.«

Am Tore stand eine vierrädrige Droschke. Man forderte mich auf einzusteigen, und neben mir nahm ein stämmiger Gendarmerieoffizier, ein Tscherkesse, Platz. Ich redete ihn an, aber er brummte nur. Der Wagen fuhr über die Kettenbrücke, dann über das Paradefeld und an den Kanälen entlang, als wollte er die belebteren Straßen vermeiden. »Geht es zum Litowsky-Gefängnis?« fragte ich den Offizier, da ich wußte, daß sich schon viele von meinen Kameraden dort befanden. Ich erhielt keine Antwort, so daß das System völliger Schweigsamkeit, das man in den nächsten zwei Jahren mir gegenüber beobachtete, in dieser vierrädrigen Droschke anfing. Als wir aber über die Newa-Schloßbrücke rollten, wurde es mir klar, daß man mich nach der Peter-Pauls-Festung brachte.

Mit Entzücken schaute ich den schönen Strom an mit dem Gedanken, daß ich ihn nicht so bald wiedersehen würde. Eben ging die Sonne unter. Im Westen hing über dem Finnischen Meerbusen eine dicke graue Wolkendecke, während über mir helle leichte Wolken schwebten, zwischen denen hin und wieder der blaue Himmel durchschien. Dann wandte sich der Wagen zur Linken und fuhr durch einen dunklen überwölbten Gang – das Tor der Festung.

»Hier werde ich jetzt ein paar Jahre bleiben müssen,« bemerkte ich zu dem Offizier.

»Aber warum so lange?« versetzte der Tscherkesse, der jetzt, da wir uns innerhalb der Festung befanden, die Sprache wiedergewonnen zu haben schien. »Ihre Sache ist so gut wie erledigt und kommt vielleicht in vierzehn Tagen vor Gericht.«

»Meine Sache,« erwiderte ich, »liegt sehr einfach; aber ehe sie mich vor Gericht bringen, werden sie den Versuch machen, alle Sozialisten Rußlands in Haft zu nehmen, und die sind zahlreich, sehr zahlreich; in zwei Jahren sind sie noch nicht fertig damit.« Ich wußte damals selbst nicht, wie prophetisch meine Worte waren.

Der Wagen hielt vor der Tür des Festungskommandanten, und wir begaben uns in sein Empfangszimmer. Mit mürrischem Gesicht trat General Korsakow, ein hagerer alter Mann, herein. Der Offizier sprach mit untertäniger Stimme zu ihm, und der Alte antwortete: »Schon recht!« Dabei blickte er ihn etwas spöttisch an und wandte darauf seine Augen auf mich. Offenbar war es ihm nichts weniger als angenehm, einen neuen Insassen zu erhalten; auch schien er sich seiner Rolle ein wenig zu schämen und deshalb zu mir sagen zu wollen: »Ich bin Soldat und tue nur meine Pflicht.« Hierauf stiegen wir wieder in die Droschke. Bald machten wir aber vor einem zweiten Tore Halt, wo wir eine lange Weile warten mußten, bis eine Abteilung Soldaten von innen öffnete. Wir gingen nun zu Fuß durch enge Gänge weiter und erreichten ein drittes eisernes Tor, das einen dunklen überwölbten Gang öffnete, der in ein kleines, finsteres und feuchtes Zimmer führte.

Mehrere Unteroffiziere von den Festungstruppen gingen in ihren weichen Filzstiefeln geräuschlos und ohne ein Wort zu sprechen umher, während der Gouverneur in dem Buche des Tscherkessen den Empfang des neuen Gefangenen bescheinigte. Ich wurde ersucht, mich vollständig zu entkleiden und die Gefängnistracht anzulegen, das heißt einen langen grünen Schlafrock von Flanell, ungeheure und unglaublich dicke wollene Strümpfe und kahnförmige gelbe Pantoffeln, die so groß waren, daß ich sie beim Gehen kaum an den Füßen behalten konnte. Schlafröcke und Pantoffel sind mir immer zuwider gewesen, und die dicken Strümpfe waren mir greulich. Sogar ein seidenes Unterhemd mußte ich ablegen, das ich, zumal in der feuchten Festung, gern behalten hätte. Da man es nicht zugeben wollte, so protestierte ich natürlich laut und mit allem Nachdruck, was zur Folge hatte, daß man mir nach einer Stunde auf Befehl des Generals Korsakow mein Eigentum wieder zustellte.

Dann führte man mich durch einen dunklen Gang, in dem ich bewaffnete Schildwachen hin und her gehen sah, in eine Zelle. Eine schwere, eichene Tür schloß sich hinter mir, ein Schlüssel drehte sich im Schloß, und ich war in einem halbdunklen Raume allein.

*


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