Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

In Westeuropa.

Elftes Kapitel.

Ziele meiner Wirksamkeit in Westeuropa. – Aufenthalt in Edinburg und London. – Journalistische Tätigkeit für ›Nature‹ und ›Times‹. – Uebersiedlung nach der Schweiz. – Die internationale Arbeiterassociation und die deutsche Sozialdemokratie. – Wirksamkeit der Internationale in Frankreich, Spanien und Italien.

 

Als wir uns Englands Küsten näherten, raste in der Nordsee ein Sturm. Aber dieser Aufruhr der Elemente erfüllte mich mit Entzücken. Es war mir ein Genuß, dem Kampfe des Dampfers gegen die wütend heranrollenden Wogen zuzuschauen, und stundenlang saß ich auf dem äußersten Vorderdeck und ließ mir den Schaum der Wellen ins Gesicht spritzen. Nach zweijährigem Weilen in düsterer Kasematte war es, als pulsierte jede Fiber meines Ich von frischem Leben und lechzte nach voller Betätigung.

Ich wollte nur ein paar Wochen oder Monate im Auslande bleiben, um das Geschrei, das meine Verfolger wegen meiner Flucht erhoben hatten, etwas verhallen zu lassen, sowie um meine Gesundheit ein wenig zu kräftigen. Ich landete unter dem Namen Lewaschow, unter dem ich auch die Grenze überschritten hatte, und ging, da mir in London die Späher der russischen Botschaft bald auf den Fersen gewesen wären, zuerst nach Edinburg.

Aber ich sollte nie wieder nach Rußland zurückkehren. Es ergriff mich bald die Welle der anarchistischen Bewegung, die gerade damals in Westeuropa im Aufsteigen war, und ich hatte das Gefühl, ich würde größeren Nutzen stiften, wenn ich dieser Bewegung zum rechten Ausdruck zu verhelfen suchte, als ich es in Rußland voraussichtlich zu tun imstande war. In meinem Vaterlands war ich, besonders unter den Arbeitern und Bauern, zu gut bekannt, als daß ich eine offene Propaganda hätte betreiben können. Auch ließ man später, als die Bewegung dort in eine Verschwörung und einen Kampf mit Waffen gegen den Vertreter des autokratischen Regimentes überging, notwendigerweise jeden Gedanken an eine Volksbewegung fallen, während ich mich mit allen meinen Neigungen immer mehr dazu hingezogen fühlte, mit den arbeitenden, mühsalbeladenen Massen gemeinsame Sache zu machen. Unter ihnen zur Verbreitung von Ideen beizutragen, die sich auf das Gesamtwohl aller Arbeiter richteten; die Ideale und Grundsätze, auf denen sich die künftige, soziale Revolution aufbaut, tiefer und weiter auszugestalten; diese Ideale und Grundsätze vor den Arbeitern zu entwickeln nicht als ein von den Führern ausgehendes Gebot, sondern als Ergebnis ihrer eigenen Einsicht, und dadurch jetzt, wo sie berufen waren, in der geschichtlichen Arena als die Bildner einer neuen, in Wahrheit die Gleichheit begründenden Organisation der Gesellschaft aufzutreten, ihre Initiative zu erwecken – dies erschien mir für die Entwicklung der Menschheit so notwendig wie irgend etwas, das ich damals hätte in Rußland vollbringen können. Demnach schloß ich mich den wenigen an, die in dieser Richtung in Westeuropa tätig waren, und trat an die Stelle derer, die der jahrelange schwere Kampf erschöpft hatte.

 

Als ich in Hull ans Land gestiegen war und nach Edinburg ging, gab ich nur wenigen russischen Bekannten und Freunden vom Jurabunde von meiner glücklichen Ankunft in England Nachricht. Ein Sozialist muß sich immer durch eigene Arbeit sein Brot verdienen, und sobald ich daher ein kleines Zimmer in einer Vorstadt der schottischen Hauptstadt gemietet hatte, versuchte ich, Arbeit zu finden.

Unter den Fahrgästen unseres Dampfers befand sich ein norwegischer Professor, mit dem ich mehrere Gespräche führte, wobei ich mir das bißchen Schwedisch, das ich früher gelernt hatte, ins Gedächtnis zurückzurufen suchte. Er sprach deutsch. »Da Sie aber ein wenig norwegisch reden,« sagte er zu mir, »und es lernen möchten, so wollen wir lieber beide diese Sprache benutzen.«

»Sie meinen schwedisch?« wagte ich zu fragen. »Ich rede schwedisch, nicht?«

»Nun, ich möchte eher sagen norwegisch, sicher nicht schwedisch,« war seine Antwort.

So ging es mir wie einem von Jules Vernes Helden, der aus Versehen portugiesisch statt spanisch gelernt hatte. Jedenfalls unterhielt ich mich viel mit dem Professor – sagen wir in norwegischer Sprache – und er gab mir eine Zeitung aus Christiania, welche die Berichte der eben heimgekehrten norwegischen ›Nordatlantischen Tiefseeexpedition‹ enthielt. Kaum war ich in Edinburg, so verfaßte ich einen Bericht über diese Forschungen und schickte ihn an die naturwissenschaftliche Zeitschrift ›Nature‹, die mein Bruder und ich seit ihrem ersten Erscheinen zu lesen pflegten. Der Redakteur nahm den Aufsatz mit Dank an und bemerkte in seinem Antwortschreiben mit äußerst nachsichtigem Urteil, wie es mir seitdem oft in England zuteil geworden ist, mein Englisch sei ›ganz korrekt‹ und bedürfe nur ein wenig der Feilung. Ich hatte die Sprache, wie früher erwähnt, in Rußland gelernt, auch mit meinem Bruder zusammen Pages ›Philosophy of Geology‹ und Herbert Spencers ›Principles of Biology‹ übersetzt. Aber meine Kenntnis stammte nur aus Büchern; meine Aussprache war daher sehr schlecht, so daß ich mich mit meiner schottischen Zimmervermieterin nur mit größter Mühe verständigen konnte. Ihre Tochter und ich pflegten deshalb, was wir uns zu sagen hatten, auf Stückchen Papier zu schreiben; und da ich von mundgerechtem Englisch keine Ahnung hatte, so muß ich die ergötzlichsten Fehler gemacht haben.

Aus Rußland ging mir die Zeitschrift der Russischen Geographischen Gesellschaft zu, was mich veranlaßte, gelegentlich einen Artikel an die ›Times‹ über russische geographische Forschungen zu senden. Prschewalski war damals in Zentralasien, und man folgte in England seinem Vordringen mit Interesse.

Da aber mein Geldvorrat reißend schnell zur Neige ging und ich, weil alle meine Briefe nach Rußland abgefangen wurden, meinen Verwandten von meinem Aufenthalt keine Mitteilung machen konnte, so begab ich mich nach fünf oder sechs Wochen nach London, wo ich mehr ständige Arbeit zu finden hoffte. Der alte Flüchtling P. L. Lawrow gab dort noch immer sein Blatt ›Forward‹ heraus; da ich aber bald nach Rußland zurückzukehren gedachte und die Redaktion jedenfalls von Spähern scharf bewacht wurde, so unterließ ich einen Besuch.

Natürlich ging ich zur Redaktion der ›Nature‹, wo mich einer der Herausgeber, Herr J. Scott Keltie, mit großer Herzlichkeit empfing. Es bestand die Absicht, den Referaten über neu erschienene Bücher und interessante Abhandlungen in dem Blatte mehr Raum zu gewähren, und man war mit der Form, in der ich die Berichte verfaßte, zufrieden. So wies man mir einen Tisch in der Redaktion an, auf dem wissenschaftliche Zeitschriften in allen möglichen Sprachen aufgehäuft lagen. »Kommen Sie jeden Montag, Herr Lewaschow,« sagte man mir, »sehen Sie diese Blätter durch, und finden Sie einen beachtenswerten Aufsatz, so schreiben Sie ein Referat darüber oder streichen ihn an, wir senden ihn dann an einen Fachgelehrten.« Herr Keltie wußte natürlich nicht, daß ich jeden Bericht drei- oder viermal umschreiben mußte, ehe ich ihm mein Englisch vorzulegen wagte. Man gab mir später die Zeitschriften in meine Wohnung, und ich konnte mir mit den Referaten für die ›Nature‹ und den Artikeln für die ›Times‹ ganz leidlich mein Brot verdienen. Die wöchentliche Bezahlung für die aufgenommenen Notizen, die seitens der ›Times‹ am Donnerstag zu erfolgen pflegte, war mir hochwillkommen. Freilich gab es Wochen, wo keine interessante Nachricht von Prschewalski vorlag und auch sonst nichts Interessantes aus Rußland zu berichten war; dann hieß es eben mit Brot und Tee fürlieb nehmen.

Doch eines Tages nahm Herr Keltie einige russische Bücher von den Regalen und ersuchte mich, über sie für die ›Nature‹ einen Bericht zu schreiben. Ich sah mir die Bücher an und bemerkte nicht ohne Verlegenheit, daß es meine eigenen Werke über die Eiszeit und die Orographie von Asien waren, die mein Bruder nicht versäumt hatte, an unsere liebe ›Nature‹ zu senden. Nicht ohne Verlegenheit nahm ich die Bücher mit mir in meine Wohnung, um mir dort die Sache zu überlegen. »Was soll ich machen?« fragte ich mich. »Ich kann sie doch nicht loben, weil sie mein eigenes Erzeugnis sind, und andrerseits kann ich auch gegen den Verfasser keine strenge Kritik üben, da ich ja die von ihm ausgesprochenen Ansichten teile.« Ich entschloß mich daher, die Bände am nächsten Tage zurückzubringen und Herrn Keltie zu erklären, daß ich der Verfasser der Bücher sei, wenn ich mich auch unter dem Namen Lewaschow eingeführt hätte, und daß ich sie daher nicht kritisieren könnte.

Herr Keltie hatte in den Zeitungen von Krapotkins Flucht gelesen und schien sehr erfreut, den Flüchtling glücklich in England zu sehen, was meine Bedenken betraf, so bemerkte er sehr richtig, ich brauchte den Autor weder zu tadeln noch zu loben, sondern nur den Lesern den Inhalt der Bücher mitzuteilen, von dem Augenblick an wurden wir Freunde bis auf den heutigen Tag.

 

Als ich im November oder Dezember 1876 in dem Briefkasten des Lawrow'schen Blattes eine Aufforderung an ›K.‹ las, sich in der Redaktion einen Brief aus Rußland abzuholen, ging ich, in der Annahme, die Einladung gelte mir, dorthin und schloß auch hier bald mit dem Herausgeber und den jüngeren Leuten, die den Druck des Blattes besorgten, Freundschaft.

Wie ich das erstemal – ohne Bart und meinen Zylinder auf dem Kopfe – zur Redaktion kam und die Dame, welche die Tür öffnete, in meinem allerbesten Englisch fragte: »Ist Herr Lawrow da?« dachte ich, es würde niemand wissen, wer ich sei, solange ich meinen Namen nicht genannt hätte. Sonderbarerweise erkannte mich jedoch die Dame, die mich selbst noch niemals, wohl aber meinen Bruder während seines Züricher Aufenthaltes gesehen hatte, sofort und lief die Treppe hinauf, um mich anzumelden. »Ich erkannte Sie auf der Stelle,« sagte sie nachher, »an Ihren Augen, die mich an die Ihres Bruders erinnerten.«

 

Damals war mein Aufenthalt in England nicht von langer Dauer. Ich stand in lebhafter Korrespondenz mit meinem Freunde Guillaume vom Jurabunde und ging, sobald mir eine regelmäßige geographische Arbeit übertragen wurde, deren Ausführung mich nicht an London fesselte, nach der Schweiz. In den letzten Briefen von Hause hieß es, ich könnte ebensogut im Auslande bleiben, da es in Rußland jetzt nichts Besonderes zu tun gäbe. Eine Woge der Begeisterung für die Südslawen, die sich gegen die Jahrhunderte alte türkische Bedrückung empört hatten, rollte damals über das Land, und meine besten Freunde, Sergei (Stepniak), Kelnitz und verschiedene andere, waren nach der Balkanhalbinsel gegangen, um sich den Aufständischen anzuschließen. Der Bericht der ›Daily News‹ über die türkischen Greuel in Bulgarien hatte meine Freunde, wie sie mir schrieben, veranlaßt, entweder als Freiwillige in die Scharen der Balkaninsurgenten einzutreten oder in ihren Lazaretten ihnen als Pfleger zu dienen.

 

Der Jurabund hat in der neueren Entwicklung des Sozialismus eine bedeutende Rolle gespielt.

Es ist eine regelmäßige Erscheinung, daß politische Parteien, nachdem sie sich ein bestimmtes Ziel gesetzt haben, dessen völlige Erreichung sie ihrem Programm gemäß allein befriedigen kann, in zwei Fraktionen zerfallen. Die eine bleibt dem ersten Programm treu, während die andere zwar auch am ursprünglichen ›Ziele‹ festzuhalten behauptet, aber doch eine Art von Kompromiß eingeht, nach und nach, von Kompromiß zu Kompromiß getrieben, immer weiter von dem eigentlichen Programm abkommt und eine bescheidene opportunistische Reformpartei wird.

Solch eine Scheidung war auch innerhalb der Internationalen Arbeiterassociation eingetreten. Nichts anderes als die Enteignung der gegenwärtigen Land- und Kapitalbesitzer, und die Überweisung aller Mittel zur Gütererzeugung an die Arbeiter selbst hatte die Association von Anfang an auf ihre Fahne geschrieben. An die Arbeiter aller Völker erging der Aufruf, sich zum direkten Kampfe gegen den Kapitalismus zu organisieren, die Mittel zur Sozialisierung der Gütererzeugung und des Güterverbrauches ausfindig zu machen, und wenn die Zeit gekommen wäre, die Produktionsmittel in Besitz zu nehmen und die gesamte Produktion ohne Rücksicht auf die gegenwärtige politische Organisation, die einer völligen Neuordnung bedürfe, zu regeln. So sollte die Association zuerst in den Geistern und sodann im Leben selbst eine große Umwälzung vorbereiten und herbeiführen, eine Umwälzung, die für die Menschheit ein neues, auf der Solidarität aller beruhendes Zeitalter eröffnete. Das war das Ideal, das Millionen europäischer Arbeiter aus dem Schlummer weckte und ihre besten intellektuellen Kräfte der Internationale zuführte.

Bald kam es jedoch zur Entwicklung der erwähnten zwei Fraktionen. Als der Krieg von 1870 mit der vollständigen Niederlage Frankreichs geendet hatte, der Aufstand der Pariser Kommune niedergeschlagen war und drakonische, gegen die Association gerichtete Gesetze den französischen Arbeitern die Mitgliedschaft bei der Internationale verboten, und als auf der andern Seite im ›geeinten Deutschland‹ eine parlamentarische Regierung eingerichtet und damit erreicht war, was die Radikalen seit 1848 erstrebt hatten, machten die Deutschen den Versuch, der ganzen sozialistischen Bewegung andere Ziele und andere Methoden zu geben. Die ›Eroberung der Macht innerhalb der bestehenden Staatsordnung‹ wurde das Losungswort dieser Fraktion, deren Anhänger sich ›Sozialdemokraten‹ nannten. Die ersten politischen Erfolge, die diese Partei bei den Wahlen zum deutschen Reichstag errang, erweckten große Hoffnungen. Da die Zahl der sozialdemokratischen Abgeordneten von zwei auf sieben und demnächst auf neun gestiegen war, so rechneten sonst vernünftige Männer darauf, vor Ablauf des Jahrhunderts würden die Sozialdemokraten im deutschen Parlament die Mehrheit haben und dann durch geeignete Gesetze den sozialistischen Volksstaat herbeiführen können. So hörte das Ideal dieser Partei immer mehr auf, die Erstrebung einer wirtschaftlichen Ordnung zu sein, die auf der gemeinsamen Tätigkeit der Arbeiterorganisationen beruhte, es richtete sich vielmehr auf den staatlichen Betrieb der Industrien, was den Staatssozialismus, das heißt den Staatskapitalismus, bedeutet. In der Schweiz treten die Sozialdemokraten zur Zeit in politischer Beziehung für die Zentralisation gegenüber dem Föderalismus ein und in wirtschaftlicher Hinsicht für Staatsbahnen, für das Staatsmonopol im Bankwesen, sowie für das Monopol des Alkoholverkaufes. Die Übernahme des Grundeigentums und der leitenden Industrien durch den Staat und auch die staatliche Leitung des Güterverbrauches würden dann die weiteren, einer mehr oder minder entfernt liegenden Zukunft vorbehaltenen Schritte sein.

Allmählich ließ sich die deutsche sozialdemokratische Partei in ihrem ganzen Verhalten immer mehr von Wahlerwägungen leiten. Auf die Gewerkschaften blickte man mit Geringschätzung, und Arbeitsausstände fanden bei den Parteileitern Mißbilligung, weil sie die Aufmerksamkeit der Arbeiter von den Wahlen abzögen. Jede Volksbewegung, jede revolutionäre Regung in irgendeinem Lande Europas stieß bei den sozialdemokratischen Führern auf eine noch erbittertere Gegnerschaft als in der kapitalistischen Presse.

Dagegen fand diese neue Richtung in den romanischen Ländern nur wenige Anhänger. Die Sektionen und Bünde der Arbeiterassociation blieben dort den bei der Gründung der Internationale maßgebenden Grundsätzen treu. Ihrer Geschichte nach föderalistisch, Gegner eines zentralisierten Staates und im Besitze revolutionärer Überlieferungen, konnten die Arbeiter der romanischen Völker der innern Entwicklung der Deutschen nicht folgen.

Die Scheidung zwischen den beiden Richtungen der sozialistischen Bewegung wurde sofort nach dem deutsch-französischen Kriege offenkundig. Wie ich schon oben erwähnte, besaß die Internationale in ihrem Generalrat, dessen Sitz sich in London befand, eine führende Körperschaft, und da die leitenden Geister dieses Rates zwei Deutsche, Marx und Engels, waren, so wurde er bald der Stützpunkt für die neue sozialdemokratische Parteirichtung, während die geistige Leitung der lateinischen Bünde von Bakunin und seinen Freunden ausging.

Der Zwiespalt zwischen Marxisten und Bakunisten war nicht persönlicher Natur, sondern beruhte auf dem unvermeidlichen Gegensatz zwischen dem föderalistischen und dem zentralistischen Prinzip, zwischen der freien Kommune und der staatsväterlichen Leitung, zwischen der ungehemmten Aktion der Volksmassen und der allmählichen Besserung der bestehenden kapitalistischen Verhältnisse durch das Mittel der Gesetzgebung – einem Gegensatz zwischen romanischem und dem germanischen Geiste, der, als Frankreich auf dem Schlachtfeld unterlegen war, die Vorherrschaft auf dem Gebiete der Wissenschaft, der Politik, der Philosophie, sowie auch des Sozialismus in Anspruch nahm und hierbei seine eigene Auffassung des Sozialismus als ›wissenschaftlich‹, alle anderen aber als ›utopisch‹ bezeichnete.

Auf dem Haager Kongresse der Internationale im Jahre 1872 schloß der Londoner Generalrat vermittels einer künstlich gewonnenen Majorität Bakunin, seinen Freund Guillaume und sogar den Jurabund von der Internationale aus. Da aber mit Sicherheit zu erwarten stand, daß der noch verbleibende Rest der Internationale, das heißt der spanische, der italienische und der belgische Bund, zum größten Teile auf Seite des Jurabundes treten würde, so machte der Kongreß den Versuch, die Association aufzulösen. Es wurde ein neuer Generalrat, der nur aus einigen wenigen Sozialdemokraten bestand, mit dem Sitz in New-York ernannt, wo es keine zur Association gehörigen Arbeiterorganisationen gab, deren Kontrolle man hätte fürchten müssen; dort hat man auch nichts wieder von ihm gehört. Inzwischen bestanden der spanische, italienische, belgische und der Jurabund fort und hielten die nächsten fünf oder sechs Jahre hindurch wie gewöhnlich ihre internationalen Jahreskongresse ab.

 

Zu der Zeit, als ich nach der Schweiz kam, war der Jurabund der Mittelpunkt und die tonangebende Körperschaft der internationalen Bünde. Bakunin war eben gestorben (1. Juli 1876), aber der Bund behauptete die unter seinem Antriebe gewonnene Stellung.

In Frankreich, Spanien und Italien lagen die Dinge so, daß nur das Fortbestehen des revolutionären Geistes, der sich vor dem deutsch-französischen Kriege entwickelt hatte, die Regierungen von entscheidenden Schritten zur Vernichtung der ganzen Arbeiterbewegung und Einführung einer Schreckensherrschaft abhielt. Bekanntlich wäre die Wiederherstellung einer bourbonischen Monarchie in Frankreich beinahe zur Tatsache geworden. Nur zur Vorbereitung der Restauration des Königtums ließ man Marschall Mac Mahon den Präsidentenstuhl der Republik einnehmen; schon war der Tag bestimmt, an dem Heinrich V. in Paris einziehen sollte, schon waren die mit der Krone und dem Namenszug des Prätendenten gezierten Schabracken bereit. Auch hat bekanntlich nur der Umstand, daß Gambetta und Clemenceau, der Opportunist und der Radikale, in vielen Teilen Frankreichs bewaffnete Ausschüsse organisiert hatten, die sich bei der ersten Nachricht von einem Staatsstreiche zu erheben willens waren, die beabsichtigte Wiederaufrichtung der Monarchie scheitern lassen. Die wahre Kraft dieser Ausschüsse lag aber in den Arbeitern, von denen viele früher zur Internationale gehört und den alten Geist bewahrt hatten. Nach meiner persönlichen Kenntnis glaube ich sagen zu dürfen, daß die radikalen Führer der Mittelklassen im letzten Moment gezaudert haben würden, während die Arbeiter die erste Gelegenheit zu einem Aufstand ergriffen hätten, der zunächst die Verteidigung der Republik bezweckte, aber leicht in sozialistischer Richtung weitergreifen konnte.

Dasselbe galt für Spanien. Sobald die klerikale und aristokratische Umgebung den König zu schärferer Reaktion antrieb, bedrohte ihn ein Aufstand der Republikaner, bei dem, wie diese wohl wußten, die Arbeiter in Wahrheit den Kampf ausgefochten hätten. In Katalonien allein gehörten hunderttausend Arbeiter zu stramm organisierten Gewerkschaften, während die Internationale in ganz Spanien mehr als achtzigtausend Mitglieder zählte, die regelmäßig Kongresse veranstalteten und mit wahrhaft spanischem Pflichtgefühl ihre Beiträge an die Association entrichteten. Ich kann von diesen Organisationen nach eigener an Ort und Stelle gewonnener Erfahrung reden und weiß, daß die Arbeiter dort bereit waren, die Vereinigten Staaten von Spanien zu proklamieren, die Herrschaft über die Kolonien aufzugeben und zum Teil – in den vorgeschrittensten Gegenden – einen ernstlichen Versuch in der kollektivistischen Richtung zu machen. Diese beständige Drohung war es, was die spanische Monarchie an der Unterdrückung aller Arbeiter- und Bauernorganisationen wie an der Einleitung einer offenen klerikalen Reaktion hinderte.

Ähnlich stand es auch in Italien. Noch hatten die Gewerkschaften in Norditalien nicht ihre jetzige Stärke, aber einige Gegenden des Landes waren mit Sektionen der Internationale und mit republikanischen Gruppen dicht besät. Beständig mußte die Monarchie der Gefahr eines Umsturzes gewärtig sein, falls die Republikaner der Mittelklassen die revolutionären Elemente unter den Arbeitern aufriefen.

Kurz, schaue ich auf diese jetzt ein Vierteljahrhundert hinter uns liegenden Jahre zurück, so bin ich der festen Überzeugung, daß, wenn Europa nach 1871 nicht der finstersten Reaktion verfiel, dies in der Hauptsache dem Geiste zu verdanken ist, der in Westeuropa vor dem deutsch-französischen Kriege erweckt worden war und seitdem von den anarchistischen Anhängern der Internationale, den Blanquisten, den Mazzinisten und den spanischen kantonalen Republikanern aufrechterhalten wurde.

Natürlich kümmerten sich die Marxisten, von ihren lokalen Wahlkämpfen in Anspruch genommen, wenig um die Zustände dieser Länder. Eifrig bemüht, Bismarcks Donnerkeile von ihren Häuptern fernzuhalten, und vor allem voll Furcht, es möchte sich in Deutschland ein revolutionärer Geist bemerkbar machen und zu Unterdrückungsmaßregeln führen, denen sie nicht standzuhalten vermöchten, wiesen sie nicht nur um praktischer Zwecke willen jede Sympathie mit den westeuropäischen Revolutionären zurück, sondern wurden nach und nach mit Haß gegen den revolutionären Geist erfüllt und stellten ihn geradezu an den Pranger, selbst da, als sie seine ersten Zeichen in Rußland bemerkten.

Revolutionäre Blätter konnten damals, unter dem Marschall Mac Mahon, in Frankreich nicht erscheinen. Selbst das Singen der Marseillaise galt als Verbrechen, und ich wunderte mich einmal außerordentlich über den Schrecken, der mehrere meiner Mitreisenden in einem Zuge ergriff, als sie einige Rekruten (im Mai 1878) das Lied der Revolution anstimmen hörten. »Darf die Marseillaise wieder gesungen werden?« fragte einer ängstlich den andern. In der französischen Presse fehlten daher die sozialistischen Zeitungen. Die spanischen Blätter wurden sehr gut redigiert, und die von ihren Kongressen erlassenen Manifeste waren manchmal bewundernswerte Kommentare des anarchistischen Sozialismus; aber wer fragt außerhalb Spaniens nach spanischen Ideen? Die italienischen Zeitungen hatten sämtlich nur ein kurzes Dasein, sie kamen heraus, gingen ein, tauchten irgendwo unter anderem Namen wieder auf, und obschon zum Teil vorzüglich, breiteten sie sich doch nicht jenseits Italiens Grenzen aus. Es wurde daher der Jurabund mit seinen in französischer Sprache erscheinenden Blättern für die romanischen Länder der Mittelpunkt zur Aufrechterhaltung und zum Ausdruck des Geistes, der – ich wiederhole – Europa von einer äußerst düsteren Reaktionsperiode bewahrte. Zugleich bildete er die Grundlage, auf der Bakunin und seine Jünger in einer Sprache, die man im ganzen kontinentalen Europa verstand, die theoretischen Begriffe des Anarchismus ausarbeiteten.

*


 << zurück weiter >>