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Zweites Kapitel.

Petersburger Zustände. – Alexanders II. Doppelnatur. – Die Korruption der Verwaltung. – Vernachlässigung des technischen Unterrichts. – Niedergang der Petersburger Gesellschaft in literarischer, künstlerischer und politischer Beziehung.

 

Petersburg hatte sich, seitdem ich es im Jahre 1862 verlassen hatte, bedeutend verändert. »Ach ja, Sie haben das Tschernischewskysche Petersburg gekannt,« äußerte einmal der Dichter Maikow zu mir. In der Tat kannte ich das Petersburg, dessen Liebling Tschernischewsky war. Wie soll ich aber die Stadt bezeichnen, die ich bei meiner Rückkehr vorfand? Vielleicht als das Petersburg der Tingeltangel, der Musikhallen, wenn nämlich ›ganz Petersburg‹ wirklich nur aus der oberen Gesellschaft bestände, für die der Hof den Ton angibt.

Bei Hofe und in Hofkreisen standen liberale Ideen in sehr üblem Rufe. Alle hervorragenden Männer aus den sechziger Jahren, selbst so gemäßigte wie Graf Nikolaus Murawjew und Nikolaus Miljutin, galten als verdächtig. Nur der Kriegsminister Dimitri Miljutin wurde von Alexander II. in seiner Stellung belassen, weil die von ihm begonnene Heeresreform zu ihrer Verwirklichung vieler Jahre bedurfte. Alle anderen während der Reformperiode im Staatsdienst wirkenden Männer waren beseitigt worden.

Als ich mich einmal mit einem hohen Beamten des Ministeriums des Auswärtigen unterhielt und dieser ein scharfes Urteil über einen andern hohen Würdenträger fällte, bemerkte ich zu dessen Verteidigung: »Doch muß man zu seinen Gunsten anführen, daß er niemals unter Nikolaus I. ein Amt annahm.« Hierauf erhielt ich die Antwort: »Und jetzt bekleidet er ein Amt unter dem Regime eines Schuwalow und Trepow!« womit die Sachlage so treffend geschildert war, daß ich nichts weiter zu sagen vermochte.

General Schuwalow, der Leiter der Staatspolizei, und General Trepow, der an der Spitze der Petersburger Polizei stand, waren allerdings die eigentlichen Beherrscher Rußlands, und Alexander II. war nur ihre Exekutive, ihr Werkzeug. Und sie herrschten durch Furcht. Trepow hatte den Zaren durch das Gespenst einer Revolution, die in Petersburg auszubrechen drohe, so erschreckt, daß Alexander, wenn der allmächtige Polizeichef zur Abstattung seines täglichen Berichtes einmal ein paar Minuten später im Palaste erschien, sofort fragte: »Ist alles ruhig in Petersburg?«

Kurz nachdem Alexander II. der Fürstin X. einen ›Abschied auf immer‹ gegeben hatte, faßte er eine warme Freundschaft zu dem General Fleury, dem Adjutanten Napoleons III., jenem unheilvollen Manne, der die Seele des Staatsstreichs vom 2. Dezember 1852 war. Man sah sie beständig zusammen, und Fleury konnte einmal den Parisern von einer besonderen Ehre erzählen, die ihm der russische Zar erwiesen hatte. Als nämlich der letztere auf dem Newsky-Prospekt entlang fuhr, bemerkte er Fleury und lud ihn in seinen einsitzigen nur für eine einzige Person einen zwölf Zoll langen Platz enthaltenden Wagen; und der französische General berichtete des langen und breiten, wie der Zar aller Russen und er, sich fest aneinander drückend, wegen der Enge des Sitzes ihre Körper zur Hälfte in der Luft hängen lassen mußten. Es genügt die bloße Namensnennung dieses frisch von Compiègne kommenden Freundes, um die Bedeutung dieser Freundschaft zu kennzeichnen.

Auch Schuwalow verstand die geistige Verfassung seines Herrn in jeder Weise auszunutzen. Er schlug eine reaktionäre Maßregel nach der andern vor, und wenn Alexander einmal Bedenken trug, sie zu unterzeichnen, so sprach ihm Schuwalow von der kommenden Revolution und dem Schicksale Ludwigs XVI. und beschwor ihn, ›zur Rettung der Dynastie‹ zu genehmigen, was er ihm von weiteren die Freiheit unterdrückenden Gesetzentwürfen vorlegte. Trotzdem bemächtigte sich Alexanders von Zeit zu Zeit eine traurige, reuevolle Gemütsstimmung. Er verfiel in düstere Melancholie und sprach schmerzlich bewegt von dem glanzvollen Beginn seiner Regierung und von dem rückschrittlichen Charakter, den sie jetzt trüge. Dann arrangierte Schuwalow eine besonders interessante Bärenjagd. Jäger, eine lustige Hofgesellschaft und Wagen voll Ballettdamen machten sich auf nach den Wäldern von Nowgorod. Ein paar Bären wurden von Alexander erlegt, der ein guter Schütze war und die Tiere bis auf wenige Meter vor seinen Flintenlauf kommen ließ; und dort, in der Aufregung der Jagdfestlichkeiten, konnte Schuwalow die Einwilligung seines Herrn zu jedem von ihm ausgeheckten Plane erlangen, sei es, daß es sich um eine neue Unterdrückungsmaßregel oder um die Begünstigung der Spitzbübereien seiner Kreaturen handelte.

 

Gewiß war Alexander kein gewöhnlicher Mensch, aber es lebten zwei verschiedene, völlig entwickelte, einander widerstreitende Naturen in ihm; und dieser innere Zwiespalt wurde um so klaffender, je älter er wurde. Jetzt von entzückender Liebenswürdigkeit, entwickelte er im nächsten Augenblick eine empörende Roheit. Angesichts einer wirklichen Gefahr voll ruhigen, besonnenen Mutes, zitterte er beständig vor eingebildeten Gefahren. Sicher war er kein Feigling, er trat dem Bären Auge in Auge entgegen, und als das Tier einmal seiner ersten Kugel nicht erlag, und der mit einer Lanze hinter ihm stehende Mann beim Vorwärtsstürzen von dem Bären niedergeschlagen wurde, kam ihm der Zar zu Hilfe und streckte die Bestie, ihr die Flinte fast auf die Schnauze setzend, nieder (wie ich von dem betreffenden Manne selbst gehört habe). Dennoch verfolgten ihn sein Leben lang die Schreckbilder seiner eigenen Phantasie und seines unruhigen Gewissens. Gegen seine Freunde bewies er eine außerordentliche Güte, aber Hand in Hand damit ging die furchtbare, kaltblütige Grausamkeit, wie sie den Despoten des siebzehnten Jahrhunderts eigen war, und wie sie Alexander bei der Unterdrückung der polnischen Revolution und später im Jahre 1880 betätigte, als die aufrührerische russische Jugend durch ähnliche Maßregeln niedergeschmettert wurde – eine Grausamkeit, deren ihn niemand hätte für fähig halten sollen. So führte er ein Doppelleben, und in der Periode, von der ich eben rede, unterzeichnete er mit lächelnder Miene die reaktionärsten Erlasse, die ihn nachmals zur Verzweiflung brachten. Gegen das Ende seines Lebens verschärfte sich noch, wie man bald sehen wird, der innere Kampf und nahm fast einen tragischen Charakter an.

 

1872 wurde Schuwalow zum Botschafter in England ernannt, aber sein Freund, General Potapow, setzte dieselbe Politik bis zum Ausbruche des türkischen Krieges im Jahre 1877 fort. Während dieser ganzen Zeit wurden der Staatsschatz, die Kronländereien, die nach dem Aufstand in Litauen eingezogenen Güter, das Baschkirengebiet in Orenburg und anderes mehr in großartigstem Maßstabe und auf die schamloseste Weise ausgeplündert. Als Potapow, der in Wahnsinn verfiel, und Trepow entlassen waren und ihre Nebenbuhler am Hofe sie Alexander II. in ihrem wahren Lichte zeigen wollten, kamen einige jener Skandale an den Tag und wurden vom Senat, als höchstem Gerichtshof, abgeurteilt. Bei einer solchen gerichtlichen Untersuchung stellte man fest, daß ein Freund von Potapow die Bauern eines litauischen Gutes aufs schändlichste ihres Landes beraubt und sie dann, als sie Abhilfe suchten, mit Hilfe seiner Freunde im Ministerium hatte einkerkern, zu Dutzenden auspeitschen und von den Truppen niederschießen lassen. Es war dies eines der empörendsten Vorkommnisse selbst in der russischen Geschichte, die doch bis zur Gegenwart an ähnlichen Schurkereien nicht eben Mangel leidet. Erst nachdem Wera Sassulitsch, aus Rache für die von Trepow befohlene Auspeitschung eines politischen Gefangenen, auf diesen geschossen hatte, wurde das diabolische Verfahren seiner Partei in weiteren Kreisen bekannt und Trepow endlich entlassen. Als er dem Tode nahe zu sein glaubte, schrieb er sein Testament, wobei sich herausstellte, daß dieser Mensch, der den Zaren klüglich in dem Glauben erhalten hatte, er sei trotz der jahrelangen Bekleidung des einträglichen Postens eines Chefs der Petersburger Polizei arm geblieben, in Wahrheit seinen Erben ein beträchtliches Vermögen hinterließ. Einige Herren vom Hofe hinterbrachten dies dem Kaiser, Trepow verlor all seinen Kredit, und nun kamen auch ein paar Diebstähle der Schuwalow-Potapow-Trepowschen Partei vor den Senat.

Die Betrügereien, die in allen Ministerien ausgeübt wurden, insbesondere bei Eisenbahnen und industriellen Unternehmungen aller Art, waren wirklich ungeheuerlich. Fabelhafte Vermögen ›erwarb‹ man sich auf diese Weise. Die Flotte steckte, wie Alexander II. selbst einmal zu einem seiner Söhne sagte, in den Taschen bestimmter Herren. Was die vom Staate garantierten Eisenbahnen kosteten, war einfach unglaublich. Daß ein industrielles Unternehmen gar nicht ins Leben treten könnte, wenn man nicht den Beamten in diesem und jenem Ministerium eine bestimmte Tantieme zusicherte, war allgemein bekannt. Einem Freunde von mir, der eine derartige Gründung in Petersburg beabsichtigte, erklärte man ungeschminkt im Ministerium des Innern, er würde fünfundzwanzig Prozent vom Reingewinn an eine bestimmte Persönlichkeit zu zahlen haben, fünfzehn Prozent an einen Beamten im Finanzministerium, zehn Prozent an einen andern im selben Ministerium und fünf Prozent an einen vierten ›Teilhaber‹. Unverhüllt wurde dieser Handel betrieben, und Alexander II. wußte davon, wie sich aus seinen eigenen auf den Bericht des Staatskontrolleurs geschriebenen Anmerkungen ergibt. Aber er sah in den Dieben seine Beschützer gegenüber der Revolution und hielt sie, bis ihre Spitzbübereien zu einem offenen Skandal wurden.

Mit Ausnahme des Thronfolgers, des späteren Alexanders III., der immer ein guter und sparsamer Hausvater war, folgten die jungen Großfürsten dem vom Haupte gegebenen Beispiele. Die Orgien, die einer von ihnen in einem kleinen Restaurant am Newsky-Prospekt zu veranstalten pflegte, waren so schändlich und offenkundig, daß der Polizeichef eines Abends eingreifen mußte und dem Restaurantbesitzer erklärte, er würde nach Sibirien verschickt werden, wenn er noch einmal sein ›Großfürstenzimmer‹ dem Großfürsten überließe. »Denken Sie sich meine Verlegenheit,« sagte mir einmal dieser Restaurateur, während er mir jenes Zimmer zeigte, dessen Wände und Decke mit dicken Satinpolstern versehen waren, »auf der einen Seite mußte ich ein Mitglied der kaiserlichen Familie beleidigen, das mit mir nach Willkür verfahren konnte, und auf der andern Seite drohte mir General Trepow mit Sibirien! Natürlich gehorchte ich dem General; er ist, wie Sie wissen, jetzt allmächtig.« Ein anderer Großfürst machte sich durch sein ins Gebiet der Psychopathie gehörendes Treiben bekannt, und einen dritten verbannte man, nachdem er die Diamanten seiner Mutter gestohlen hatte, nach Turkestan.

Die Kaiserin Marie Alexandrowna wurde, da ihr Gatte sich von ihr wandte und die neue Phase des Hoflebens sie wahrscheinlich abstieß, mehr und mehr zur Betschwester, und es dauerte nicht lange, so befand sie sich ganz in den Händen des Palastpopen, des Vertreters eines ganz neuen Typus – des jesuitischen – in der russischen Kirche. Diese neue Gattung eines geschniegelten, innerlich verderbten und jesuitischen Klerus kam damals reißend schnell empor; schon war er eifrig und nicht ohne Erfolg an der Arbeit, eine Macht im Staate zu werden und seine Hand auf die Schulen zu legen.

Schon oft genug ist der Nachweis erbracht worden, daß die russische Dorfgeistlichkeit durch ihre Amtspflichten, Taufen, Hochzeiten, Kommunionen und so weiter, so sehr in Anspruch genommen ist, daß sie den Schulen keine rechte Aufmerksamkeit schenken kann; selbst wenn der Geistliche für Erteilung des Religionsunterrichts in der Dorfschule besoldet wird, überträgt er diesen Unterricht gewöhnlich an jemand anders, weil er selbst keine Zeit findet, ihn zu erteilen. Trotzdem suchte der höhere Klerus, indem er Alexanders II. Haß gegen den sogenannten revolutionären Geist benützte, sich der Schulen zu bemächtigen. ›Keine Schulen, wenn sie nicht kirchlich sind‹, wurde das Feldgeschrei. Ganz Rußland schrie nach Schulen. Aber nicht einmal die lächerlich niedrige Summe von sechzehn Millionen Mark, die jährlich im Staatsbudget für Volksschulen ausgeworfen war, wurde vom Unterrichtsministerium verausgabt, während der Synod fast ebensoviel als Beitrag zur Gründung von Kirchenschulen erhielt, Schulen, die damals wie jetzt zumeist nur auf dem Papier bestanden.

Ganz Rußland forderte laut technische Anstalten, aber das Ministerium eröffnete nur klassische Gymnasien, weil ungeheuerliche Kurse in Latein und Griechisch als das beste Mittel galten, die Schüler vom Lesen und Denken abzuhalten. In diesen Gymnasien gelang es nur zwei oder drei aus hundert Schülern, den achtjährigen Kursus zu vollenden, da alle Knaben, die etwas zu werden versprachen und einigermaßen Selbständigkeit im Denken zeigten, sorgfältigst, ehe sie die letzte Klasse erreichten, ausgemerzt wurden und man jedes Mittel anwandte, die Zahl der Schüler zu verringern. Man betrachtete den Unterricht als eine Art Luxus, der nur für die Wenigen bestimmt sei. Zugleich lag das Unterrichtsministerium in beständiger leidenschaftlicher Fehde mit allen Privatpersonen oder Körperschaften, wie Bezirks- und Kreisvertretungen, Stadtgemeinden u. s. w., die Lehrerseminare oder technische Schulen oder auch nur einfache Volksschulen zu gründen suchten. Technischer Unterricht galt kaum für etwas anderes als für eine Schule der Revolution und das in einem Lande, dem Ingenieure, ausgebildete Landwirte und Geologen so sehr not tun. Man verhinderte und erschwerte die Gründung derartiger Schulen auf jede Weise, so daß bis zur Gegenwart alljährlich etwa zwei- oder dreitausend junge Leute in den höheren technischen Anstalten wegen Überfüllung keine Aufnahme finden können. Mußte bei solchen Zuständen nicht ein Gefühl der Verzweiflung alle, die im öffentlichen Leben etwas Nützliches zu vollbringen wünschten, ergreifen? Und dazu trieb man die Bauernschaft infolge der übermäßigen Steuerlast mit erschreckender Schnelligkeit dem wirtschaftlichen Ruin zu, wozu besonders das ›Herausschinden‹ der Steuerrückstände vermittels halbmilitärischer Zwangseintreibung beitrug. Nur diejenigen Provinzialgouverneure waren in der Hauptstadt gut angeschrieben, welche die Steuern auf das rücksichtsloseste einzutreiben verstanden.

Derart war das offizielle Petersburg, und das war der Einfluß, den es auf Rußland ausübte.

 

Als ich mit meinem Bruder aus Sibirien zurückkehrte, sprachen wir oft davon, daß wir in Petersburg ein geistig reges Leben finden und in den literarischen Kreisen mit interessanten Menschen zusammentreffen würden. Allerdings machten wir solche Bekanntschaften sowohl unter den radikalen wie unter den gemäßigten Panslawisten, aber wir fühlten uns doch, muß ich gestehen, einigermaßen enttäuscht. An ausgezeichneten Männern fehlte es nicht – Rußland ist voll davon – aber sie entsprachen nicht völlig unserm Ideal eines auf politischem Gebiete tätigen Schriftstellers. Die besten ihrer Art, Tschernischewsky, Michailow, Lawrow, waren in der Verbannung oder schmachteten wie Pisarew in der Peter-Pauls-Festung. Andere, denen die Situation in den düstersten Farben erschien, hatten ihre Ansichten geändert und neigten sich einer Art väterlichen Absolutismus zu, während die meisten innerlich wohl auf ihrem Standpunkte verblieben, aber in der Kundgebung desselben so sehr vorsichtig geworden waren, daß ihr Verhalten fast einer Preisgebung ihrer Grundsätze gleichkam.

In der Blütezeit der Reformperiode hatte fast jeder, der einem fortschrittlichen literarischen Kreise angehörte, in irgendwelchen Beziehungen zu Herzen, zu Turgenjew und ihren Freunden oder zu den geheimen Gesellschaften ›Großrußland‹ oder ›Land und Freiheit‹, die damals ein ephemeres Dasein führten, gestanden. Jetzt waren diese selben Männer um so eifriger bemüht, ihre früheren Sympathien so tief wie möglich zu vergraben, um jeden politischen Verdacht von sich abzulenken.

Eine oder zwei von den liberalen Revuen, die hauptsächlich infolge des hervorragenden Talents ihrer Herausgeber auf diplomatischem Gebiet noch erscheinen durften, deckten das immer steigende Elend und die verzweifelte Lage der großen Masse der Bauern auf und ließen die Hindernisse, die sich jedem im Dienste des Fortschritts in den Weg stellten, klar genug hervortreten. Die Tatsachen, die sie veröffentlichten, waren so überwältigend, daß sie einen zur Verzweiflung bringen konnten. Aber niemand hatte den Mut, ein Heilmittel vorzuschlagen oder auf irgendein Vorgehen, irgendeinen Ausweg hinzuweisen, wie man die als hoffnungslos dargestellte Lage ändern könnte. Ein paar Redakteure hegten noch die Hoffnung, Alexander II. würde noch einmal als Reformator auftreten, aber bei den meisten beherrschte die Besorgnis, ihr Blatt könnte unterdrückt und Herausgeber wie Mitarbeiter ›nach einem mehr oder minder entlegenen Teile des Reiches‹ verschickt werden, alle anderen Gefühle; Furcht und Hoffnung lähmte sie in gleicher Weise.

Je radikaler sie vor einem Jahrzehnt gewesen waren, desto mehr Angst empfanden sie jetzt. Mein Bruder und ich fanden in diesem und jenem literarischen Kreise gute Aufnahme, und wir stellten uns hin und wieder bei ihren geselligen Zusammenkünften ein. Sobald aber die Unterhaltung ihren frivolen Charakter verlor, oder mein Bruder, der ein besonderes Talent besaß, ernste Fragen aufzurollen, das Gespräch auf innerrussische Angelegenheiten oder auf die französischen Zustände lenkte, die zusehends zu dem nahen Zusammenbruch Napoleons III. hintrieben, so brauchten wir niemals lange auf eine jähe Unterbrechung zu warten, »was halten Sie, meine Herren, von der letzten Aufführung der ›Schönen Helena‹?« oder »Wie gefällt Ihnen der geräucherte Fisch?« fragte dann plötzlich mit lauter Stimme einer der älteren Gäste, und die ernste Unterhaltung hatte damit ihr Ende erreicht.

Außerhalb der literarischen Kreise stand es noch schlimmer. In den sechziger Jahren war Rußland und besonders Petersburg voll von fortschrittlich gesinnten Männern, die damals zu jedem Opfer für ihre Idee bereit zu sein schienen, »Was ist aus ihnen geworden?« fragte ich mich. Ich sah mich nach einigen von ihnen um; aber »Vorsicht, junger Mann!« war alles, was ich von ihnen zu hören bekam. ›Eisen hält fester als Stroh‹ oder ›Man kann nicht mit dem Kopf durch die Wand‹ und ähnliche Sprichwörter, an denen die russische Sprache nur zu reich ist, bildeten jetzt den Inbegriff ihrer praktischen Lebensweisheit, »Wir haben in unserm Leben etwas getan, verlangt nichts weiteres von uns«, oder »Geduld, so kann die Sache nicht lange mehr fortgehen,« so redeten sie zu uns, während es uns, die Jungen trieb, den Kampf wieder aufzunehmen, zu handeln, wo nötig, alles zum Opfer zu bringen. Von ihnen wollten wir nichts als ihren Rat, ihre Anweisung und intellektuelle Unterstützung.

Turgenjew hat in seinem ›Rauch‹ einige von den Exreformern aus den oberen Gesellschaftsschichten geschildert, und das von ihm entworfene Bild ist entmutigend. Doch vor allem können wir in den herzzerreißenden Novellen und Skizzen von Frau Kochanowskaja, die unter dem Pseudonym ›W. Krestowsky‹ schrieb und die man nicht mit einer andern Novellistin, Wsewolod Krestowsky, verwechseln darf, die mannigfaltigen Formen verfolgen, in denen die Entartung der ›Liberalen aus den Sechzigern‹ in Erscheinung trat. Die ›Freude am Leben‹, vielleicht die Freude, zu den Überlebenden zu gehören, wurde ihre Gottheit, sobald der große Haufen, der zehn Jahre vorher die Reformbewegung ausgemacht hatte, auf ›alle solchen sentimentalen Anwandlungen‹ nicht mehr eingehen wollte. Sie stürzten sich in den Genuß des Reichtums, der den ›praktischen‹ Männern damals reichlich zufloß.

Nach der Aufhebung der Leibeigenschaft hatten sich zahlreiche neue Wege, auf denen man zu Glücksgütern gelangen konnte, aufgetan, und eifrig drängte sich die Menge in diese Kanäle. Der Eisenbahnbau wurde mit fieberischer Hast betrieben, zu den neuerrichteten Privatbanken strömte der Adel, um Hypotheken aufzunehmen, die neugeschaffenen Privatnotare und Rechtsanwälte besaßen gewaltige Einkommen, die Aktiengesellschaften vervielfachten sich mit verblüffender Schnelligkeit, und für ihre Gründer blühte der Weizen. Leute, die früher auf dem Lande von dem geringen Einkommen aus einem kleineren, von etwa hundert Leibeigenen bestellten Grundbesitz oder von dem noch bescheideneren Gehalte eines Gerichtsbeamten leben mußten, erwarben jetzt Vermögen oder erfreuten sich jährlicher Einkommen, wie sie zur Zeit der Leibeigenschaft nur die Landmagnaten gehabt haben.

Auch der Geschmack der ›Gesellschaft‹ sank immer tiefer. Die italienische Oper, früher ein Schauplatz radikaler Demonstrationen, war nun verödet, und die russische Oper, die in zaghafter Weise die Rechte ihrer großen Tonkünstler geltend machte, wurde nur von wenigen Enthusiasten besucht. Beide fand man ›langweilig‹, und die feine Petersburger Gesellschaft drängte sich zu den Variétés, wo die Sterne zweiten Ranges der kleinen Pariser Theater von ihren der jeunesse dorée angehörenden Bewunderern leichte Lorbeeren gewannen, oder man klatschte der ›Schönen Helena‹ Beifall, die auf der russischen Bühne gespielt wurde, während unsere großen Dramatiker vergessen waren. Offenbachs Musik herrschte im Reiche der Töne.

 

Man muß gestehen, daß die Atmosphäre, die damals über Rußland schwebte, derart war, daß jedermann für sein ruhiges Verhalten gute Gründe oder wenigstens gewichtige Entschuldigungen anführen konnte. Nach Karakosows Attentat auf Alexander II. im April 1866 war die Staatspolizei allmächtig geworden. Wer nur ›radikaler Gesinnung‹ verdächtig war, ganz gleich, was er getan oder nicht getan hatte, mußte jeden Augenblick gewärtig sein, wegen der Sympathie, die er vielleicht einem in politische Umtriebe Verwickelten erwiesen hatte, oder wegen eines harmlosen bei mitternächtiger Haussuchung aufgegriffenen Briefes oder einfach wegen ›gefährlicher Ansichten‹ verhaftet zu werden; und Verhaftung aus politischen Gründen konnte alles mögliche bedeuten: jahrelange Haft in der Peter-Pauls-Festung, Verschickung nach Sibirien, ja sogar Folterung in den Kasematten der Festung.

Dieses Vorgehen der Karakosowschen Kreise ist bis heute auch in Rußland nur sehr unvollkommen bekannt. Ich befand mich damals in Sibirien und weiß nur durch Hörensagen davon. Es hat aber den Anschein, als ob zwei verschiedene Strömungen darin zusammentrafen. Die eine war der Anfang jener gewaltigen Bewegung ›zum Volke‹, die später eine so furchtbare Ausdehnung gewann, während die andere Strömung hauptsächlich politischer Natur war. Eine ganze Zahl junger Männer, von denen manche auf dem besten Wege waren, glänzende Universitätslehrer zu werden oder als Historiker und Ethnographen sich einen Namen zu erwerben, waren um 1864 zusammengetreten, um trotz der Abneigung der Regierung dem Volke Unterricht und Wissen zu verschaffen. Als bloße Handwerker gingen sie in die großen Industriestädte und richteten dort Betriebsgenossenschaften, sowie unentgeltliche Privatschulen ein, in der Hoffnung, durch recht verständnisvolle und geduldige Arbeit das Volk bilden zu können und so die ersten Mittelpunkte zu schaffen, von denen dann allmählich bessere und höhere Vorstellungen unter die Massen ausstrahlen würden. Ihr Ziel war groß, beträchtliche Geldmittel wurden in den Dienst der Sache gestellt, und ich neige zu der Ansicht hin, daß dieses Unternehmen im Vergleich mit anderen später ins Leben tretenden vielleicht auf der praktischsten Grundlage aufgebaut war. Jedenfalls standen seine Veranstalter dem arbeitenden Volke sehr nahe.

Andererseits hatte die Bewegung durch einige Mitglieder dieser Kreise, Karakosow, Ischutin und ihre nächsten Freunde, eine politische Färbung erhalten. In den Jahren 1862 bis 1866 hatte Alexanders II. Politik einen entschieden rückschrittlichen Charakter angenommen; er hatte sich mit erzreaktionär gesinnten Männern umgeben und lieh ihnen fast ausschließlich sein Ohr. Sogar die Reformen, die den Anfang seiner Regierung so rühmlich gestaltet hatten, wurden nun durch Ausführungsgesetze und Ministerialerlässe aufs äußerste verstümmelt und gefährdet. Im Lager der ehemaligen Herren gab man sich bereits offen der Erwartung hin, die Gutsgerichte und die Leibeigenschaft würden unter irgendeinem Deckmantel wieder eingeführt werden, und auf der andern Seite konnte damals niemand die Hoffnung hegen, die Hauptreform – die Aufhebung der Leibeigenschaft – werde dem vom Winterpalast selbst ausgehenden Ansturm Widerstand leisten können. Dies alles muß Karakosow und seine Freunde zu dem Gedanken gebracht haben, durch eine weitere Fortdauer der Regierung Alexanders II. würde selbst das wenige, das erreicht war, wieder in Frage gestellt werden und Rußland von neuem die Schrecken des Nikolaitischen Regiments durchmachen müssen, wenn Alexander Herrscher bliebe. Zugleich hegte man große Hoffnungen, – ›es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie ewig neu‹ – betreffs der liberalen Neigungen des Thronerben und seines Oheim Konstantin. Dieselben Befürchtungen und dieselben Hoffnungen kamen vor 1866, wie ich selbst wahrnehmen konnte, nicht selten in viel höheren Kreisen zum Ausdruck, als die waren, mit denen Karakosow in Verkehr stand. Jedenfalls schoß Karakosow eines Tages auf Alexander II., als dieser aus dem Sommergarten kam und in seinen Wagen steigen wollte. Der Schuß ging fehl, und Karakosow wurde sofort verhaftet.

Katkow, der Führer der Moskauer reaktionären Partei und ein großer Meister in der Kunst, aus allen politischen Unruhen Kapital zu schlagen, beschuldigte sofort alle Radikalen und Liberalen der Mitwissenschaft – was sicher falsch war – und sprach in seinem Blatte, so daß es ganz Moskau glaubte, die Vermutung aus, Karakosow sei ein bloßes Werkzeug in den Händen des Großfürsten Konstantin, des Führers der Reformpartei innerhalb der höchsten Kreise. Man kann sich denken, wie die beiden maßgebenden Persönlichkeiten, Schuwalow und Trepow, diese Anklagen und Alexanders II. Befürchtungen für ihre Zwecke ausbeuteten.

Michael Murawjew, der sich, wie schon erwähnt, im polnischen Aufstande den Beinamen ›der Henker‹ verdient hatte, erhielt den Befehl, eine strenge Untersuchung anzustellen und auf jede Weise die vermutete Verschwörung aufzudecken. Er nahm in allen Bevölkerungsklassen Verhaftungen vor, ordnete Hunderte von Haussuchungen an und prahlte, er würde Mittel finden, die Gefangenen gesprächiger zu machen. Er war sicher nicht der Mann, selbst vor der Anwendung der Folter zurückzuscheuen, und in Petersburg war die öffentliche Meinung fast einstimmig in der Behauptung, Karakosow sei gefoltert worden, um aus ihm Geständnisse zu erpressen, aber ohne den gewünschten Erfolg.

Staatsgeheimnisse sind in Festungen wohlverwahrt, insbesondere in jener riesigen Steinmasse dem Winterpalast gegenüber, der Zeugin so vieler Schrecknisse, die erst jüngst von Geschichtsschreibern enthüllt wurden. Murawjews Geheimnisse ruhen dort noch verborgen; doch mag vielleicht das Folgende etwas Licht auf die Sache werfen.

Im Jahre 1866 war ich noch in Sibirien. Einer von unsern sibirischen Offizieren, der gegen Ende des Jahres von Rußland nach Irkutsk reiste, traf auf einer Poststation zwei Gendarmen. Diese hatten einen wegen Diebstahls verbannten Beamten begleitet und waren nun auf der Rückreise. Unser Irkutsker Offizier, ein sehr liebenswürdiger Mensch, fand die Gendarmen gerade am Teetisch – es war in einer kalten Winternacht – setzte sich zu ihnen und unterhielt sich mit ihnen, während die Pferde gewechselt wurden. Einer von den beiden kannte Karakosow.

»Er war schlau, ja, das war er,« sagte er. »Als er in der Festung war, hatten zwei von uns – wir wurden alle zwei Stunden abgelöst – den Befehl, ihn nicht schlafen zu lassen. So ließen wir ihn auf einem kleinen Schemel sitzen, und sobald er anfing einzuschlummern, schüttelten wir ihn, um ihn wach zu halten … Was wollen Sie? Wir hatten den Befehl dazu! … Nun, sehen Sie, wie schlau er war; er saß da mit übereinander geschlagenen Beinen und schwang das eine Bein, damit wir glauben sollten, er sei wach, während er selbst inzwischen ein Schläfchen machte, das Beinschwingen mechanisch fortsetzend. Aber wir kamen bald dahinter und sagten es auch denen, die uns ablösten, so daß er alle fünf Minuten geschüttelt und aufgeweckt wurde, mochte er seine Beine schwingen oder nicht.« »Und wie lange dauerte das?« fragte mein Freund. »O, viele Tage – länger als eine Woche.«

Das Naive der Erzählung spricht an sich für ihre Wahrhaftigkeit; sie hätte nicht leicht erfunden werden können, und man kann daher als ausgemacht ansehen, daß Karakosow dieser Art der Folterung unterworfen wurde.

Dazu noch folgendes. Als Karakosow gehängt wurde, wohnte einer meiner Kameraden vom Pagenkorps mit seinem Kürassierregiment der Exekution bei. »Als man ihn aus der Festung brachte,« erzählte mir mein Kamerad, »wobei er oben auf dem Karren saß, der auf dem holprigen Festungsglacis unaufhörlich aufstieß, war mein erster Eindruck, sie brächten eine Gummipuppe zum Hängen heraus und Karakosow wäre schon tot. Stelle dir vor, der Kopf, die Hände, der ganze Körper waren völlig schlaff, als ob keine Knochen mehr darin oder als ob alle Knochen gebrochen wären. Es war schrecklich, das mit anzusehen und daran zu denken, was es bedeutete. Als ihn aber zwei Soldaten von dem Karren herunternahmen, sah ich, daß er seine Beine bewegte und sich angestrengt bemühte, allein zu gehen und die Stufen des Schafotts hinanzusteigen. Es war also keine Puppe, auch konnte er sich nicht in Ohnmacht befunden haben. Die Offiziere waren alle ganz betroffen über diesen rätselhaften Zustand und vermochten sich denselben nicht zu erklären.« Als ich aber gegen meinen Kameraden die Vermutung äußerte, Karakosow wäre vielleicht gefoltert worden, wurde er rot und erwiderte: »Das dachten wir alle.«

Wochenlange Schlaflosigkeit würde allerdings allein schon den Zustand erklären, in dem sich jener moralisch sehr starke Mann während der Hinrichtung befand. Ich möchte aber noch erwähnen, wie es für mich zweifellos feststeht, daß – mindestens in einem Falle – einem Festungsgefangenen Droguen eingeflößt wurden, nämlich Faburow im Jahre 1879. Hat Murawjew nur in diesem einen Falle die Folterung angewendet? Hat man ihn an der Fortsetzung seines grausamen Verfahrens gehindert oder nicht? Ich weiß es nicht. Aber so viel weiß ich, daß ich öfter von hohen Beamten in Petersburg gehört habe, es sei in diesem Falle zur Folterung gekommen.

Murawjew hatte versprochen, die radikalen Elemente in Petersburg vollständig auszurotten, und es lebten daher alle, die sich früher irgendwie an der radikalen Bewegung beteiligt hatten, in der Furcht, sie könnten in die Klauen des Despoten geraten, vor allem hielten sie sich von den jüngeren Leuten fern, um nicht mit ihnen in irgendwelche gefährlichen politischen Verbindungen verwickelt zu werden. So tat sich nicht nur eine Kluft zwischen ›Vätern‹ und ›Söhnen‹ aus, wie es Turgenjew in seinem Roman schildert, sondern auch zwischen allen, die die Dreißig überschritten hatten, und denen, die noch im Anfang der Zwanziger standen. Darum mußte die russische Jugend nicht nur in ihren Vätern die Verteidiger der Leibeigenschaft bekämpfen, sondern sie sah sich auch von den älteren Brüdern gänzlich verlassen, da diese den Jüngeren in ihrer Hinneigung zum Sozialismus nicht folgen wollten und sich sogar fürchteten, ihnen im Kampfe um größere politische Freiheit Beistand zu leisten. Hatte wohl jemals, frage ich mich, in der Weltgeschichte eine jugendliche Schar gegen einen so furchtbaren Feind zu streiten und war dabei so ganz von den eigenen Vätern und älteren Brüdern im Stich gelassen worden, obwohl jene Jüngeren doch nur das geistige Erbe dieser selben Väter und Brüder in ihr Herz aufnahmen und im Leben zu verwirklichen suchten? Gab es je einen Kampf, der unter tragischeren Umständen aufgenommen worden wäre?

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