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Sechstes Kapitel.

Der Nihilismus. – Verachtung der äußeren Form. – Die Bewegung ›zum Volke‹. – Der Tschaykowsky-Kreis. – Soziale und politische Strömungen. – Keine Aussicht auf Reformen. – Die Person des Zaren unter dem Schutze der Nihilisten.

 

Inzwischen entwickelte sich unter der gebildeten russischen Jugend eine gewaltige Bewegung. Die Leibeigenschaft war aufgehoben. Es blieb aber als Folge dieser zweihundertfünfzig Jahre bestehenden Institution im häuslichen Leben in mehrfacher Beziehung ein gut Teil Sklaverei zurück. Diese bekundete sich vornehmlich in der despotischen Mißachtung jeglicher menschlichen Individualität seitens der Väter und in der heuchlerischen Unterwürfigkeit der übrigen Familienglieder, der Frauen, Söhne und Töchter. Am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts herrschte in Europa, wie man aus Thackerays und Dickens' Romanen zur Genüge ersehen kann, überall in bedeutendem Maße ein häuslicher Despotismus, aber nirgends sonst hatte sich diese Tyrannei so üppig entfaltet wie in Rußland. Hiervon legt das ganze russische Leben in der Familie, in den Beziehungen zwischen Vorgesetzten und Untergebenen, zwischen Offizieren und Soldaten, zwischen Arbeitgebern und Angestellten Zeugnis ab. Eine ganze Welt von Unsitten und falschen Anschauungen, von Vorurteilen und moralischer Feigheit, von Gewohnheiten, wie sie ein träges Leben erzeugt, hatte sich allmählich herausgebildet, und selbst die Besten dieser Zeit zahlten jenen Produkten der Periode der Sklavenzeit einen reichen Tribut.

Das Gesetz war hier ohnmächtig. Nur eine das Übel an der Wurzel angreifende, kräftige soziale Bewegung konnte eine Reform in den Gewohnheiten und Sitten des täglichen Lebens hervorbringen, und diese Bewegung – diese Empörung des Individuums – gewann in Rußland einen weit kraftvolleren und in ihrer Kritik des Bestehenden weit entschiedeneren und radikaleren Charakter als sonst wo in Westeuropa oder Amerika. ›Nihilismus‹ nannte sie Turgenjew in seinem epochemachenden Roman ›Väter und Söhne.‹

Diese Bewegung wurde in Westeuropa falsch verstanden. So wird der Nihilismus in der Presse nicht vom Terrorismus unterschieden. Die revolutionären Unruhen, die gegen das Ende der Regierungszeit Alexanders II. ausbrachen und schließlich zu dem tragischen Tode des Zaren führten, werden regelmäßig als nihilistisch bezeichnet. Das ist jedoch ein Irrtum. Den Nihilismus mit dem Terrorismus zusammenzuwerfen ist ebenso verkehrt als eine philosophische Bewegung wie den Stoizismus oder den Positivismus mit einer politischen Bewegung, z. B. dem Republikanismus, zu identifizieren. Der Terrorismus wurde zu einem gegebenen historischen Zeitpunkte durch bestimmte besondere Momente des politischen Kampfes ins Leben gerufen. Er hat bestanden und hat sein Ende gefunden. Er kann wieder aufleben und wieder verschwinden. Aber der Nihilismus hat dem ganzen Leben der gebildeten Klassen Rußlands ein eigenes Gepräge aufgedrückt, und dieses Gepräge wird noch eine gute Reihe von Jahren vorhalten. Seiner herberen, bei einer jungen Bewegung der Art unvermeidlichen Züge meist entkleidet, verleiht er noch jetzt vielfach dem Leben der gebildeten Klassen Rußlands einen gewissen, besonderen Charakter, dessen Nichtvorhandensein im westeuropäischen Leben uns Russen bedauerlich erscheint. Eine Erscheinungsform des Nihilismus ist es auch, wenn vielen von unsern Schriftstellern jene beachtenswerte Aufrichtigkeit, jene Gewohnheit, ›laut zu denken‹, eigen ist, die westeuropäischen Lesern so erstaunlich erscheint.

Zuvörderst erklärte der Nihilist den Krieg gegen alles, was man ›die konventionellen Lügen der zivilisierten Gesellschaft‹ nennen kann. Unbedingte Aufrichtigkeit war für ihn charakteristisch, und um dieser Aufrichtigkeit willen gab er jeden Wahn, jedes Vorurteil, jede Angewohnheit und Sitte auf, die sich vor dem Richterstuhl ihrer eigenen Vernunft nicht rechtfertigen ließen, und forderte von andern das gleiche Verhalten, vor keiner Autorität außer der Vernunft wollte er sich beugen; er unterzog alle sozialen Einrichtungen oder Sitten einer kritischen Prüfung und empörte sich dabei gegen jede Art von mehr oder minder verhülltem Sophismus.

Natürlich warf er den Aberglauben seiner Väter von sich und war seiner philosophischen Auffassung nach ein Positivist, ein Agnostiker, ein Evolutionist in Spencerschem Sinne oder ein Anhänger des wissenschaftlichen Materialismus; und während er niemals den einfachen, aufrichtigen religiösen Glauben, der eine psychologisch begründete Forderung des Gefühls bildet, bekämpfte, wandte er sich heftig gegen die Heuchelei, welche die Leute antreibt, sich die Maske einer Religion anzulegen, die sie doch beständig als unnützen Ballast beiseite werfen.

Das ›gesittete‹ Leben ist voll von kleinen konventionellen Lügen. Wenn sich Leute, die einander nicht leiden mögen, auf der Straße treffen, so lassen sie ihr Gesicht von einem glücklichen Lächeln erglänzen; der Nihilist blieb gleichgültig und lächelte nur denen zu, über deren Begegnung er sich wirklich freute. Alle nur dem Scheine dienenden äußeren Höflichkeitsformen waren ihm in gleicher Weise verhaßt, und er nahm sogar als einen Protest gegen die glatte Liebenswürdigkeit seiner Väter eine gewisse äußere Rauheit an. Er bemerkte, wie jene sich in ihren Reden in ungehemmter idealer Sentimentalität ergingen und sich doch zur selben Zeit in ihren Handlungen als wirkliche Barbaren gegen ihre Frauen, Kinder und Leibeigenen zeigten; und er empörte sich gegen diese Art von Sentimentalität, die sich schließlich so gut mit den nichts weniger als idealen Zuständen des russischen Lebens abzufinden verstand. In der Kunst machte sich der kritisch verneinende Geist in ebenso durchgreifender Weise geltend. Das beständige Geschwätz von Schönheit, Ideal, Kunst um der Kunst willen, Ästhetik und dergleichen, in dem man sich so gern erging – während doch jeder Kunstgegenstand mit Geld bezahlt wurde, das man halbverhungerten Bauern und schlecht bezahlten Arbeitern entzogen hatte, und während der sogenannte ›Kultus des Schönen‹ nichts war als eine Maske für die gemeinste Zügellosigkeit – dieses Geschwätz widerte ihn an, und die Kritik der Kunst, die einer der größten Künstler des neunzehnten Jahrhunderts, Tolstoi, jetzt so hinreißend formuliert hat, faßte der Nihilist der sechziger Jahre in der Versicherung zusammen: »Ein Paar Stiefel ist mehr wert als alle eure Madonnen und all euer spitzfindiges Geschwätz über Shakespeare.«

Ehe ohne Liebe und vertrauter Verkehr ohne Freundschaft wurde ebenfalls verworfen. Die Nihilistin, die ihre Eltern nötigten, eine Puppe in einem Puppenhause zu sein und sich zu einer Geldheirat herzugeben, ließ lieber ihr elterliches Haus und ihre seidenen Kleider im Stich; sie legte ein schwarzes Wollenkleid der einfachsten Art an, schnitt ihr Haar kurz und besuchte eine Hochschule, um sich selbständig ihr Brot verdienen zu können. Sah eine Frau, daß ihre Ehe keine Ehe mehr war, – daß weder Liebe noch Freundschaft mehr die verband, die vor dem Gesetz als Weib und Mann galten, so zerbrach sie lieber die Bande, die allen ihren Wert verloren hatten; oft genug schaute sie mit ihren Kindern der Armut ins Auge, zog aber Einsamkeit und Elend einem bequemen Leben vor, in dem sie ihr besseres Ich beständig verleugnen mußte.

Der Nihilist betätigte seine Wahrheitsliebe sogar in den geringsten Angelegenheiten des täglichen Lebens. Ohne Rücksicht auf die konventionellen Formen gesellschaftlicher Unterhaltung gab er seinen Gedanken in einfacher, ungeschminkter Weise Ausdruck, ja, er suchte sich dabei wohl absichtlich den Anschein der Rauheit zu geben.

Wir pflegten in Irkutsk einmal wöchentlich abends zusammenzukommen, wobei auch etwas getanzt wurde. Eine Zeitlang besuchte ich diese Gesellschaften regelmäßig, kam aber dann, weil ich zu arbeiten hatte, immer seltener. Als ich mehrere Wochen hintereinander weggeblieben war, fragte eines Abends eine von den Damen einen jungen Freund von mir, warum ich mich nicht mehr sehen ließe. »Er reitet jetzt, wenn er Bewegung braucht,« lautete die nicht eben höfliche Erwiderung. »Er könnte aber doch auf ein paar Stunden in unsern Kreis kommen, ohne zu tanzen,« wagte eine andere zu bemerken, »was sollte er hier?« versetzte mein nihilistischer Freund, »mit Ihnen über Mode und Putz reden? Er hat genug von dem Unsinn gehabt.« »Aber er kommt doch hin und wieder mit Fräulein So und So zusammen,« warf schüchtern eine dritte ein. »Ja, aber die ist ein geistig strebsames Mädchen,« entgegnete er derb, »er hilft ihr beim Studium des Deutschen.« Ich muß noch erwähnen, daß diese zweifellos grobe Zurückweisung zur Folge hatte, daß die meisten von den Irkutskerinnen in nächster Zeit meinen Bruder, meinen Freund und mich mit Fragen bestürmten, was sie nach unserm Rate lesen oder studieren sollten. Mit derselben Offenheit trat der Nihilist seinen Bekannten gegenüber und sagte ihnen, all ihr Gerede über ›diese armen Leute‹ sei bloß Heuchelei, solange sie von der schlecht bezahlten Arbeit dieser Leute lebten, die sie bei ihrer Unterhaltung in den Prunkzimmern gemächlich bedauerten. Und mit dem gleichen Freimut erklärte auch ein Nihilist einem hohen Beamten, er (der Beamte) frage gar nichts nach der Wohlfahrt seiner Untergebenen, sondern sei einfach ein Dieb!

Herb erschien gewiß auch der Nihilist, wenn er einer Dame unumwunden sagte, sie habe allein am Klatsch ihre Freude und sei nur auf ihre feinen Manieren und ausgesuchte Toilette stolz, oder wenn er einem jungen Mädchen ohne Umschweife erklärte: »Wie, Sie schämen sich nicht, solchen Unsinn zu schwatzen und einen täuschenden Chignon an sich zu tragen?« In einem Weibe wollte er einen Kameraden, ein menschliches Wesen, aber keine Puppe und keinen Kleiderstock sehen und wies es mit Entschiedenheit von sich, die kleinlichen Höflichkeitsbeweise mitzumachen, mit denen die Männer den von ihnen mit Vorliebe als ›schwächeres Geschlecht‹ angesehenen Frauen entgegenzutreten pflegen. Trat eine Dame ins Zimmer, so sprang ein Nihilist nicht von seinem Sitz auf und bot ihn ihr an, wenn sie nicht etwa offenbar müde war und sich kein anderer Sitz im Zimmer befand. Sein Verhalten gegen sie unterschied sich nicht von dem gegen einen Kameraden männlichen Geschlechts. Wenn aber eine Dame, die ihm vielleicht im übrigen völlig fremd war, etwas zu lernen wünschte, das er kannte und sie nicht, so kam es ihm nicht darauf an, jeden Abend bis in das entgegengesetzte Stadtende zu gehen, um ihr bei ihren Studien zu helfen. Der junge Mann, der keine Hand rührte, einer Dame eine Tasse Tee zu reichen, überließ einem Mädchen, das Studien halber nach Moskau oder Petersburg kam, seine einzige Privatstunde, die ihm seinen Lebensunterhalt verschaffte, mit den einfachen Worten: »Ein Mann kann leichter Arbeit finden als eine Frau. In meinem Anerbieten soll nichts Ritterliches liegen, es entspringt nur dem Gefühle der Gleichheit und Brüderlichkeit.«

Zwei große russische Romandichter, Turgenjew und Gontscharow, haben diesen neuen Typus in ihren Werken darzustellen versucht. Gontscharow bot in seinem ›Absturz‹ eine Karikatur des Nihilismus, indem er wohl nach dem Leben zeichnete, aber ein dem Durchschnitt keineswegs entsprechendes Mitglied jener Richtung sich auswählte. Turgenjew war ein zu großer Künstler, war auch selbst zu sehr für den neuen Typus von Bewunderung erfüllt, um sich zur Zeichnung eines Zerrbildes verleiten zu lassen, aber auch sein Nihilist, Basarow, befriedigte uns nicht. Er war uns, besonders in seinen Beziehungen zu seinen alten Eltern, zu rauh, und vor allem warfen wir ihm seine anscheinende Vernachlässigung seiner Bürgerpflichten vor. Der russischen Jugend konnte die rein negative Haltung von Turgenjews Helden nimmermehr genügen. Der Nihilismus war mit seiner Betonung der Rechte jedes einzelnen und seiner Ablehnung aller Heuchelei nur der erste Schritt zu einem höheren Typus von Männern und Frauen, die, ebenso frei von Vorurteilen, in positiver Arbeit ihr Leben einer großen Sache weihen. In Tschernischewskys als Kunstwerk weit tiefer stehendem Roman ›was tun?‹ fanden die Nihilisten bessere Abbilder ihrer selbst.

›Bitter ist das Brot, das Sklavenhand bereitet,‹ schrieb der russische Dichter Nekrassow. Das junge Geschlecht wollte tatsächlich dies Brot nicht essen noch den Reichtum genießen, der im väterlichen Hause durch Sklavenarbeit angehäuft war, mochten die Arbeiter wirkliche Leibeigene oder Lohnsklaven des bestehenden Wirtschaftssystems sein.

Mit Erstaunen erfuhr das ganze Rußland aus der Anklageschrift gegen Karakosow und seine Freunde, daß diese jungen Männer, die über ein beträchtliches Vermögen verfügten, zu dreien oder vieren in einem Zimmer wohnten, mit je zehn Rubeln monatlich ihren ganzen Unterhalt bestritten und dabei ihr Vermögen für kooperative Genossenschaften, kooperative Werkstätten, in denen sie selbst mitarbeiteten, und dergleichen hergaben. Fünf Jahre später taten Tausende und aber Tausende, und zwar die Auserlesensten der russischen Jugend, das gleiche. Ihre Losung war: ›W narod!‹ (zum Volke; seid Volk!). Während der Jahre 1860 bis 1865 fand fast in jeder reichen Familie ein erbitterter Kampf statt zwischen den Vätern, die die alten Traditionen aufrecht erhalten wollten, und den Söhnen und Töchtern, die für das Recht stritten, ihr Leben nach ihren eigenen Idealen einrichten zu dürfen. Vom Dienst im Heer, vom Ladentisch, von der Werkstätte strömten die jungen Männer nach den Universitätsstädten. Mädchen aus den vornehmsten Häusern eilten ohne einen Pfennig nach Petersburg, Moskau und Kiew, voll eifrigen Verlangens, etwas zu erlernen, das sie vom häuslichen Joche und vielleicht auch von dem drohenden Ehejoche freimachen könnte. Nach hartem und erbittertem Kampfe errangen auch viele diese persönliche Freiheit. Nun wollten sie sie aber nützlich anwenden, nicht zu eigenem, persönlichem Gewinn, sondern um dem Volke das Wissen, das sie selbst freigemacht hatte, zu übermitteln.

In jeder russischen Stadt, in jedem Viertel Petersburgs bildeten sich kleine Gruppen zum Zwecke der Selbstbildung und des Selbstunterrichts. Man las in diesen Kreisen mit großer Aufmerksamkeit philosophische und volkswirtschaftliche Werke wie die Forschungsergebnisse der jungrussischen historischen Schule, und an das Lesen schlossen sich endlose Besprechungen, deren Ziel die Lösung der großen ihnen immer vor Augen schwebenden Frage war: »wie können wir uns der großen Masse nützlich erweisen?« Allmählich kamen sie zu der Überzeugung, das einzige Mittel wäre, sich unter dem Volke niederzulassen und am Leben des Volkes unmittelbar teilzunehmen. Nun gingen junge Männer als Ärzte, Heilgehilfen, Lehrer, Dorfschreiber, selbst als landwirtschaftliche Arbeiter, Schmiede, Holzfäller u. s. w. in die Dörfer, um dort in inniger Berührung mit den Bauern zu leben. Die Mädchen bestanden die Lehrerinnenprüfung, bildeten sich als Hebammen oder Pflegerinnen aus und gingen zu Hunderten in die Dörfer, um sich gänzlich dem Dienste der Ärmsten zu weihen.

Dabei schwebten ihnen damals noch keine Ideale sozialer Umwälzung oder irgendwelche Gedanken an Revolutionen vor; einzig und allein war es ihr Ziel, die Massen der Bauern lesen zu lehren, sie zu unterrichten, ihnen ärztlichen Beistand zu gewähren oder sonst bei ihrer Erhebung aus Nacht und Elend mitzuhelfen und zugleich von ihnen zu erfahren, welcher Art ihre Ideale von einem besseren sozialen Leben wären.

Bei meiner Rückkehr aus der Schweiz fand ich diese Bewegung in vollem Schwunge.

Ich beeilte mich natürlich, meine Freunde an den Eindrücken, die ich von der Internationalen Arbeiterassoziation erhalten hatte, wie an meinen Büchern teilnehmen zu lassen. An der Universität hatte ich eigentlich keine Freunde; ich war älter als die meisten meiner Kommilitonen, und bei jungen Leuten bildet ein Unterschied von wenigen Jahren immer ein Hindernis für völlige Kameradschaft. Auch darf nicht unerwähnt bleiben, daß, seit dem Jahre 1861, die neuen Vorschriften für die Zulassung zur Universität in Kraft getreten waren, die besten, entwickeltsten und geistig selbständigsten unter den jungen Leuten von den Gymnasien ausschieden und zur Universität nicht zugelassen wurden. Meine Kameraden waren daher in der Mehrzahl gute fleißige Jungen, sie interessierten sich aber für nichts als ihre Prüfungen.

Nur mit einem einzigen, ich will ihn Dmitri Kelnitz nennen, war ich befreundet. Er stammte aus Südrußland und konnte, wenn er auch einen deutschen Namen trug, kaum deutsch sprechen, auch waren seine Züge mehr südrussisch als teutonisch. Er war sehr intelligent, hatte viel gelesen und ernstlich über das Gelesene nachgedacht. Obwohl von Liebe und tiefer Achtung für die Wissenschaft erfüllt, kam er doch wie viele von uns bald zu dem Schlusse, daß er sich bei der Verfolgung einer wissenschaftlichen Laufbahn von dem Haufen der Philister nicht trennen könnte, und daß es viel anderes und dringenderes für ihn zu tun gäbe. Zwei Jahre besuchte er die Universitätsvorlesungen, dann gab er sie völlig auf und widmete sich gänzlich der sozialen Arbeit. Irgendwie schlug er sich durch; ich glaube nicht einmal, daß er eine anständige Wohnung hatte. Manchmal kam er zu mir und fragte: »Haben Sie Papier?« und saß dann mit dem Bogen ein oder zwei Stunden an einer Tischecke und arbeitete fleißig an einer Übersetzung. Das wenige, das er dadurch verdiente, war zur Befriedigung aller seiner äußerst bescheidenen Bedürfnisse mehr als hinreichend. Dann eilte er in einen entfernten Stadtteil, einen Kameraden aufzusuchen oder einem bedürftiges Freunde zu helfen, oder er wanderte durch ganz Petersburg, um für irgendeinen Knaben, für den sich die Genossen interessierten, freien Unterricht in einem Gymnasium zu erwirken. Zweifellos war er ein Mann von hohen Gaben. In Westeuropa würde ein geistig weit unter ihm stehender Mann sich zu der Stellung eines politischen oder sozialen Führers aufgeschwungen haben. Nichts der Art kam Kelnitz in den Sinn. Eine leitende Stellung einzunehmen war keineswegs sein Ehrgeiz, und keine Arbeit hielt er für zu gering. Doch war dieser Zug durchaus nicht charakteristisch für ihn allein; alle, die den damaligen Studentenkreisen angehörten, besaßen ihn in hohem Maße.

Bald nach meiner Rückkehr forderte mich Kelnitz auf, einem Kreise beizutreten, der unter der Jugend als ›Tschaykowsky-Kreis‹ bekannt war. Unter diesem Namen spielte er eine bedeutende Rolle in der Entwicklung der sozialen Bewegung Rußlands, und unter diesem Namen wird er in der Geschichte seine Stelle finden. »Seine Mitglieder,« sagte Kelnitz zu mir, »sind bisher meist Konstitutionalisten gewesen, sie sind aber treffliche Menschen, die für jede ehrenhafte Idee zu haben sind; auch besitzen sie im ganzen Lande viele Freunde. Sie werden ja später sehen, was Sie mit ihnen erreichen können.« Ich kannte bereits den Leiter und mehrere Mitglieder dieses Kreises. Tschaykowsky hatte bei unserm ersten Zusammentreffen mein Herz gewonnen, und unsere Freundschaft hat dreißig Jahre unerschüttert standgehalten.

Ausgegangen war der Kreis von einer sehr kleinen Gruppe junger Leute beiderlei Geschlechts – darunter Sophie Perowskaja – die zum Zwecke des Selbstunterrichts und der Selbstbildung zusammengetreten waren. Zu ihnen gehörte auch Tschaykowsky. Im Jahre 1869 hatte Netschajew den Versuch gemacht, unter den jungen Leuten, die sich in der früher dargelegten Weise der Aufgabe widmeten, unter dem Volke zu leben, eine geheime revolutionäre Verbindung ins Leben zu rufen. Zur Erreichung dieses Zieles griff er zu den Mitteln, wie sie früher die Verschwörer anzuwenden pflegten, und scheute gelegentlich, um seine Anhänger zu zwingen, ihm zu folgen, auch nicht vor einer Täuschung zurück. Solche Methoden konnten in Rußland keinen Erfolg erzielen, und seine Verbindung erlitt sehr bald Schiffbruch. Alle Mitglieder wurden verhaftet, und einige der Besten und Reinsten aus den Reihen der russischen Jugend mußten nach Sibirien gehen, noch ehe sie etwas ausgeführt hatten. Der dem Selbstunterricht dienende Kreis, von dem ich eben rede, wurde nun im Gegensatz gegen Netschajews Methoden eingerichtet. Seine Gründer waren zu der völlig richtigen Erkenntnis gekommen, daß eine moralisch entwickelte Individualität die Grundlage für jede Organisation bilden muß, welchen politischen Charakter sie auch in der Folge annehmen und welchem Aktionsprogramm sie auch im Laufe künftiger Ereignisse folgen sollte. Aus diesem Grunde hat der Tschaykowsky-Kreis unter allmählicher Erweiterung seines Programms eine so gewaltige Ausdehnung in Rußland gewonnen, darum hat er so bedeutende Resultate erzielt und später, als die wütenden Verfolgungen der Regierung einen revolutionären Kampf heraufbeschworen, jene denkwürdige Gruppe von Männern und Frauen hervorgebracht, die in dem furchtbaren Kampfe gegen die Autokratie als Opfer fielen.

Damals freilich, das heißt im Jahre 1872, hatte der Kreis nichts Revolutionäres an sich, wäre er ein bloßer Verein zur Selbstbildung geblieben, so würde er bald klosterartig erstarrt sein. Die Mitglieder fanden aber eine passende Aufgabe: sie fingen an, gute Bücher in Umlauf zu setzen. Sie kauften die Werke von Lassalle, Bervi (über die Lage der Arbeiterklassen in Rußland), Marx, Louis Blanc, russische historische Werke und so weiter in vollständigen Ausgaben und verteilten sie unter Studenten in den Provinzen. In wenigen Jahren gab es keine bedeutendere Stadt in den ›achtunddreißig Provinzen des russischen Reiches‹, wie es in der Anklageschrift hieß, wo dieser Kreis nicht eine Gruppe von Genossen hatte, die der Verbreitung der genannten literarischen Werke oblagen. Allmählich wurde er, dem allgemeinen Zuge der Zeit folgend und unter dem Antrieb der aus Westeuropa einlaufenden Nachrichten von dem reißenden Anwachsen der Arbeiterbewegung, mehr und mehr ein Mittelpunkt sozialistischer Propaganda unter der gebildeten Jugend und ein natürliches Bindeglied zwischen den zahlreichen Kreisen in der Provinz. Eines Tages war auch das Eis zwischen Studenten und Fabrikarbeitern gebrochen, und nun wurden direkte Beziehungen zu der Arbeiterschaft in Petersburg wie in den Provinzialstädten angeknüpft.

Alle geheimen Gesellschaften werden in Rußland leidenschaftlich verfolgt, und der westeuropäische Leser wird von mir vielleicht eine interessante Beschreibung meiner geheimnisvollen Aufnahme in eine derartige Gesellschaft und des mir dabei auferlegten Treueides erwarten. Ich muß ihm eine Enttäuschung bereiten, weil es nichts dergleichen gab und auch nicht geben konnte. Wir wären selbst die ersten gewesen, über solche Zeremonien zu lachen, und Kelnitz würde sicher die Gelegenheit zur Anbringung einer seiner sarkastischen Bemerkungen nicht versäumt und damit alles Rituelle im Keime erstickt haben. Nicht einmal eine Satzung gab es. Man nahm nur solche Personen als Mitglieder auf, die wohlbekannt waren, die sich unter den mannigfaltigsten Verhältnissen bewährt hatten, und denen man glaubte völlig trauen zu dürfen, vor der Aufnahme eines neuen Mitglieds wurde über seinen Charakter mit der den Nihilisten eigenen Offenheit und Gründlichkeit verhandelt. Das geringste Anzeichen von Unaufrichtigkeit oder Ehrgeiz hätte die Aufnahme unmöglich gemacht. Der Kreis hatte weder die Absicht, mit Zahlen zu prunken, noch die Tendenz, die ganze Arbeit der russischen Jugend in seinen Händen zu konzentrieren, noch wollte er die Dutzende von verschiedenen Vereinigungen in der Hauptstadt und in den Provinzen in einer Organisation zusammenfassen. Wohl unterhielten wir mit den meisten freundschaftliche Beziehungen, wir standen uns, wo es nötig war, gegenseitig bei, aber ein Angriff auf die Autonomie der andern Kreise kam uns nicht in den Sinn.

Man wollte lieber eine eng verbundene Gruppe von Freunden bleiben, und in der Tat, nirgends und zu keiner Zeit ist mir eine solche Vereinigung moralisch hochstehender Männer und Frauen vorgekommen wie die der zwei Dutzend Personen, deren Bekanntschaft ich bei meinem ersten Erscheinen im Tschaykowsky-Kreise machte. Noch jetzt fühle ich mich stolz, in jener Familie Aufnahme gefunden zu haben.

Zur Zeit, als ich dem Tschaykowsky-Vereine beitrat, fanden unter seinen Mitgliedern hitzige Diskussionen darüber statt, in welcher Richtung sie weiter tätig sein sollten. Manche stimmten dafür, daß die radikale und sozialistische Propaganda unter der gebildeten Jugend fortzusetzen sei. Dagegen waren andere der Meinung, das einzige Ziel ihrer Arbeit sollte die Vorbereitung von Leuten bilden, die imstande wären, die große träge Masse der arbeitenden Bevölkerung zu heben, und die Hauptarbeit sei inmitten der Bauern und der städtischen Arbeiter zu tun. In allen Kreisen und Gruppen, deren Zahl in Petersburg und in den Provinzen in die Hunderte ging, kam es zu ähnlichen Debatten, und überall trug das zweite Programm über das erste den Sieg davon.

Hätte unsere Jugend dem Sozialismus nur in der Theorie angehangen, so würde sie sich vielleicht mit der bloßen Aufstellung und Verkündigung sozialistischer Grundsätze mit Einschluß des ›kommunistischen Besitzes der Produktionsmittel‹ als Endzieles begnügt und inzwischen irgendwie in politischer Agitation betätigt haben. Viele westeuropäischen und amerikanischen sozialistischen Politiker der Mittelklassen haben in der Tat diese Richtung genommen. Doch die Angehörigen unserer Jugend waren in ganz anderer Weise zum Sozialismus gekommen. Sie theoretisierten nicht über den Sozialismus, sondern waren Sozialisten geworden, indem sie dasselbe dürftige Leben wie die Arbeiter führten, indem sie in ihren Kreisen keinen Unterschied zwischen ›mein und dein‹ machten, und indem sie es ablehnten, den von ihren Vätern ererbten Reichtum zu ihrer eigenen Befriedigung zu genießen. Sie hatten sich gegenüber dem Kapitalismus so verhalten, wie es Tolstoi gegenüber dem Kriege zu tun riet. Bekanntlich empfiehlt der Dichter, die Leute sollten, anstatt den Krieg zu kritisieren und dabei die Uniform weiter zu tragen, sich lieber einzeln weigern, Soldat zu werden und die Waffen zu gebrauchen. In derselben Weise verfuhr auch unsere Jugend beiderlei Geschlechts, jeder und jede weigerte sich, von dem väterlichen Vermögen persönlich Gewinn zu ziehen. Solch eine Jugend gehörte zum Volke, und dorthin ging sie auch. Tausende und aber Tausende von Jünglingen und Jungfrauen hatten schon ihr Elternhaus verlassen und suchten nun in den Dörfern und Industriestädten in allen möglichen Stellungen und Berufen zu leben. Das war keine organisierte Bewegung, sondern eine jener Massenbewegungen, wie sie zu gewissen Zeiten, wenn das menschliche Gewissen plötzlich erwacht, vorkommen. Nachdem sich nun kleine organisierte Gruppen gebildet hatten, die willens waren, mit aller Kraft einen systematischen Versuch zur Ausbreitung freiheitlicher und revolutionärer Ideen in Rußland zu machen, wurden sie gleichfalls mit Notwendigkeit zur Propaganda unter den Bauern- und Arbeitermassen getrieben. Verschiedene Schriftsteller wollten diese Bewegung ›zum Volke‹ auf Einwirkungen vom Auslande zurückführen – ›fremde Agitatoren‹ sind allenthalben eine beliebte Erklärung. Unzweifelhaft lauschte unsere Jugend auf Bakunins mächtige Stimme und übte die Agitation der Internationalen Arbeiterassoziation ihre begeisternde Wirkung auf uns aus. Aber die zum Volke führende Bewegung ›W narod‹ hatte einen weit tieferen Ursprung: sie begann, ehe die ›fremden Agitatoren‹ zu der russischen Jugend gesprochen hatten, ja sogar noch vor der Gründung der Internationale. Ihr Anfang liegt bereits in den Karakosowschen Gruppen des Jahres 1866. Turgenjew sah sie kommen und schilderte sie schon 1859 in schwachen Umrissen. Ich tat mein Bestes zu ihrer Förderung im Tschaykowsky-Kreise; aber ich strebte nur mit der Strömung, die unendlich mächtiger als die Anstrengung eines einzelnen war.

Natürlich sprachen wir oft von der Notwendigkeit einer politischen Agitation gegen unsere absolute Regierung. Wir sahen schon, daß die Masse der Bauern infolge unvernünftiger Besteuerung und des noch unsinnigeren Verkaufens von Vieh zur Deckung der Steuerrückstände einem unvermeidlichen und unheilbaren Ruin entgegengehe. Wir ›Phantasten‹ sahen diesen völligen wirtschaftlichen Ruin einer großen Bevölkerungsklasse voraus, der leider inzwischen in Mittelrußland in erschrecklicher Ausdehnung zur Wirklichkeit geworden ist und aus dem die Regierung selbst jetzt kein Hehl mehr macht. Wir wußten, wie in Rußland in jeder Beziehung aufs schändlichste gestohlen wurde. Wir erfuhren täglich mehr von dem ungesetzlichen Verfahren der Beamten und von der fast unglaublichen Bestialität vieler von ihnen, wir hörten beständig von Freunden, bei denen die Polizei nächtliche Haussuchung hielt, die in Gefängnissen verschwanden, oder die, wie wir später in Erfahrung brachten, ohne Urteil in ein Dorf irgendeiner fernen russischen Provinz geschleppt worden waren. Wir fühlten daher die Notwendigkeit eines politischen Kampfes gegen diese furchtbare Macht, die die besten geistigen Kräfte der Nation vernichtete. Aber wir vermochten keine gesetzliche oder halbgesetzliche Basis zur wirksamen Eröffnung eines solchen Kampfes zu finden.

Unsere älteren Brüder wollten von unsern sozialistischen Bestrebungen nichts wissen, und wir konnten von unsern Ideen nicht lassen. Ja, hätten es auch einige von uns getan, so wäre es umsonst gewesen. Die junge Generation wurde durchweg als ›verdächtig‹ angesehen, weshalb sich das ältere Geschlecht geflissentlich von ihr fern hielt. Jeder junge Mensch mit demokratischen Neigungen, jedes junge Mädchen, das sich eine höhere Bildung anzueignen suchte, war in den Augen der Staatspolizei verdächtig und wurde von Katkow als Staatsfeind denunziert. Trug ein Mädchen kurzgeschnittenes Haar und blaue Brille oder ein Student im Winter ein schottisches Plaid – einfache Äußerungen nihilistischer Einfachheit und demokratischer Gesinnung –, so wurde dies als Zeichen ›politischer Unzuverlässigkeit‹ an den Pranger gestellt. Versammelten sich in der Wohnung eines Studenten öfters andere Studenten, so drang die Staatspolizei regelmäßig ein und stellte Nachforschungen an. So häufig waren in Studentenwohnungen diese Haussuchungen, daß Kelnitz einmal in seiner gutmütig humoristischen Weise zu dem seine Zimmer durchstöbernden Gendarmerieoffizier sagte: »Warum wollen Sie sich bei jedem Besuche die Mühe machen, alle unsere Bücher durchzusehen. Sie könnten sich ja ebensogut ein Verzeichnis davon anlegen, jeden Monat einmal kommen und nachsehen, ob sie noch alle auf den Regalen sind, und die Titel der neuen zur Ergänzung beifügen.« Der geringste Verdacht auf politische Unzuverlässigkeit war Grund genug, einen jungen Menschen von der Hochschule zu holen, auf ein paar Monate einzukerkern und ihn schließlich ›auf unbestimmte Zeit‹, wie es so schön in der bureaukratischen Sprache hieß, in eine entfernte Uralprovinz zu verschicken. Selbst als der Tschaykowsky-Kreis sich lediglich mit der Austeilung von Büchern, die sämtlich mit Genehmigung des Zensors gedruckt waren, befaßte, wurde Tschaykowsky zweimal verhaftet und etwa vier oder sechs Monate ins Gefängnis gesteckt und das zweitemal noch dazu in einem kritischen Zeitpunkte seines Studiums als Chemiker. Die Ergebnisse seiner Forschungen waren eben in den Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften veröffentlicht worden, und er hatte sich zur Ablegung seiner letzten akademischen Prüfung gemeldet. Er wurde schließlich freigegeben, da die Polizei keinen genügenden Vorwand zu seiner Verschickung nach dem Ural finden konnte. »Verhaften wir Sie aber noch einmal,« sagte man zu ihm, »so schicken wir Sie nach Sibirien.« Es war in der Tat ein Lieblingstraum Alexanders II., irgendwo in den Steppen eine besondere, Tag und Nacht von Kosaken bewachte Stadt zu haben, wohin alle verdächtigen jungen Leute verschickt werden könnten, so daß man sie dort in einer Anzahl von zehn- bis zwanzigtausend beieinander hätte. Nur die Gefahr, die eine solche Stadt eines Tages bilden könnte, hinderte ihn an der Ausführung dieses wahrhaft asiatischen Planes.

Eines unserer Mitglieder, ein Offizier, hatte zu einer Gruppe von jungen Leuten gehört, die eine Ehre darin suchten, in den Semstwos, den Provinzial- und Kreisvertretungen, tätig zu sein. Sie betrachteten diese Arbeit als eine hohe Aufgabe und bereiteten sich dafür durch gründliche Studien der wirtschaftlichen Verhältnisse Mittelrußlands vor. Viele jungen Leute trugen sich damals mit solchen Hoffnungen, die aber bei der ersten Berührung mit dem Regierungssystem, wie es wirklich war, in nichts zerstoben. Kaum hatte aber die Regierung gewissen russischen Provinzen in sehr beschränkter Form eine Art von Selbstverwaltung gewährt, so richtete sie sofort ihre ganze Anstrengung darauf, die Reform wieder rückgängig zu machen oder ihr wenigstens jeden Wert und jede Lebenskraft zu nehmen. Die provinziale ›Selbstverwaltung‹ mußte sich damit begnügen, die Funktionen von Staatsbeamten auszuüben, die örtlichen Zuschlagssteuern einzuziehen und für staatliche Zwecke innerhalb ihres Bereiches zu verausgaben. Jeder Versuch der Landschaftsvertretungen, in irgendeiner Richtung – sei es für Schulen, Lehrerseminare, gesundheitliche Maßregeln oder landwirtschaftliche Versuchsstationen und dergleichen – Verbesserungsvorschläge zu machen und damit die Initiative zu ergreifen, stieß bei der Zentralregierung auf Argwohn, ja auf entschiedene Feindseligkeit und wurde in der ›Moskauer Zeitung‹ als ›Separatismus‹, als ›Bildung eines Staates im Staate‹, als Empörung gegen die Autokratie hingestellt.

Wollte einer die wahre Geschichte z. B. des Lehrerseminars in Twer oder eines ähnlichen in jenen Jahren von einem Semstwo ausgehenden Unternehmens mit allen kleinlichen Verfolgungen, Verboten, Aufhebungen und sonstigen nur erdenkbaren Hindernissen, die man einem derartigen Werke in den Weg legte, niederschreiben, so würde es ein Westeuropäer und noch mehr ein amerikanischer Leser einfach nicht glauben. Er würde das Buch beiseite werfen und sagen: »Es kann nicht wahr sein; es ist zu dumm, als daß es wahr sein könnte.« Und doch war es so. Ganze Gruppen erwählter Vertreter verschiedener Semstwos entsetzte man nicht nur ihres Amtes, sie wurden sogar aus ihrer Provinz und von ihren Gütern verwiesen oder einfach in die Verbannung geschickt, weil sie sich erkühnt hatten, in einer durchaus loyal gehaltenen Petition an den Kaiser Rechte zu beanspruchen, die den Semstwos nach dem Gesetze zukamen! ›Die erwählten Mitglieder der Provinzialausschüsse etc. sind nichts als Ministerialbeamte und haben dem Ministerium des Innern Gehorsam zu leisten‹. Das war die Theorie der Petersburger Regierung! Was die minder einflußreichen im Dienste der ›Selbstverwaltung‹ stehenden Personen, wie Lehrer, Ärzte und dergleichen, betraf, so wurden sie ohne weitere Umstände, durch einfachen Befehl der allmächtigen Dritten Abteilung der Kaiserlichen Kanzlei, innerhalb vierundzwanzig Stunden ihres Postens entlassen und verbannt. Noch vor einem Jahre trug sich folgendes zu. Eine Dame, die Gattin eines reichen Grundbesitzers und sehr einflußreichen Mitgliedes eines Semstwos, die sich selbst für Unterrichtsfragen interessierte, lud acht Lehrer zu ihrem Geburtstagsfeste ein. »Arme Männer,« sagte sie zu sich, »sie können sonst niemals mit jemand anders als mit Bauern ein Wort reden.« Am Tage nach der Gesellschaft stellte sich der Dorfpolizist im Herrenhause ein und wollte durchaus die Namen der acht Lehrer wissen, um sie seiner vorgesetzten Behörde mitzuteilen. Die Dame weigerte sich, die Namen zu nennen. »Sehr wohl,« versetzte er, »ich werde sie doch feststellen und darüber berichten. Lehrer dürfen nicht zusammenkommen, und wenn sie's tun, bin ich verpflichtet, es zu melden.« Die hohe Stellung der Dame schützte die Lehrer in diesem Falle, hätten sie sich aber bei einem aus ihrem Stande versammelt, so würden sie sicher einen Besuch von der Staatspolizei erhalten haben und die Hälfte von ihnen wäre vom Unterrichtsministerium entlassen worden. Gesetzt, es hätte aber beim Erscheinen der Polizei einer von ihnen ein Wort des Ärgers laut werden lassen, so würde man ihn in eine Uralprovinz verschickt haben. So geht es heute, vierunddreißig Jahre nach Eröffnung der landschaftlichen Selbstverwaltungskörperschaften zu, aber in den siebziger Jahren war es noch weit schlimmer, wie konnte auf der Grundlage solcher Institutionen der politische Kampf gegen die Regierung aufgenommen werden?

 

Als ich von meinem Vater seinen Tambowschen Grundbesitz erbte, dachte ich eine Zeitlang ernstlich daran, mich auf jener Besitzung niederzulassen und meine Schaffenskraft im Semstwo zu betätigen. Einige Bauern und die ärmeren Priester aus der Nachbarschaft baten mich, dies zu tun. Ich für meine Person war mit jeder auch noch so geringfügigen Tätigkeit zufrieden, wenn sie nur zur geistigen und wirtschaftlichen Hebung der Bauern beitrug. Als aber eines Tages einige von meinen Beratern beisammen waren, fragte ich sie: »Gesetzt, ich wollte den Versuch machen, eine Schule, eine landwirtschaftliche Versuchsstation, ein kooperatives Unternehmen ins Leben zu rufen, und übernähme zugleich auch die Verteidigung jenes Bauern aus unserm Dorfe, dem jüngst ein Unrecht geschah – würden die Behörden es mich tun lassen?« »Nimmer!« war die einstimmige Antwort.

Ein paar Tage darauf kam ein alter grauhaariger Priester, der in unserer Gegend in hoher Achtung stand, mit ein paar einflußreichen Sektenführern zu mir und sagte: »Sprechen Sie mit diesen beiden. Können Sie es tun, so gehen Sie mit ihnen und predigen den Bauern mit der Bibel in der Hand … Sie wissen schon, welche Predigt ihnen not tut … Keine Polizei der Welt wird Sie finden, wenn sie Sie verstecken … weiter ist nichts zu tun; das ist der Rat, den ich alter Mann Ihnen gebe.«

Freimütig erklärte ich ihm, warum ich die Rolle eines Wiclif nicht übernehmen könnte. Aber der Alte hatte recht. Eine Bewegung, ähnlich der der Lollharden, entwickelt sich zur Zeit reißend schnell unter den russischen Bauern. Quälereien, wie man sie gegen die den Krieg verabscheuenden Duchoborzen ausgeübt hat, und Verfolgungen, wie sie die südrussischen Sektierer 1897 zu erdulden hatten, wo man Kinder den Eltern entriß und in orthodoxen Klöstern aufziehen ließ, werden nur der Bewegung eine Kraft verleihen, die sie vor fünfundzwanzig Jahren nicht gewinnen konnte.

 

Da die Frage einer Agitation zur Erlangung einer Verfassung in unsern Verhandlungen immer wieder auftauchte, machte ich einmal unserm Kreise den Vorschlag, sie ernstlich aufzunehmen und über einen geeigneten Aktionsplan schlüssig zu werden. Ich war stets der Meinung, daß, wenn unsere Vereinigung einmütig einen Beschluß faßte, jedes Mitglied seine persönlichen Gefühle unterdrücken und der betreffenden Aufgabe seine ganze Kraft widmen sollte. »Entscheidet ihr euch für eine solche Agitation,« sagte ich, »so ist mein Plan folgender: Ich trenne mich dem Anschein nach von euch und unterhalte nur noch mit einem Mitgliede, z. B. Tschaykowsky, Beziehungen, durch den ich erfahre, wie es mit eurem Werke vorwärts geht, und durch den ich euch im allgemeinen wissen lasse, was ich selbst treibe. Mein Arbeitsfeld wird bei Hofe und bei den höheren Beamten sein. Ich habe unter ihnen viele Bekannte und kenne eine Anzahl Personen, die mit den bestehenden Zuständen durchaus nicht einverstanden sind. Ich will sie zusammenbringen und womöglich in einer Art von Organisation vereinigen, und dann wird sich sicher eines Tages eine Gelegenheit finden, alle diese Kräfte einen vereinten Druck auf Alexander II. ausüben zu lassen und ihn so zur Gewährung einer Verfassung zu nötigen. Sicher wird eine Zeit kommen, wo alle diese Leute, in dem Gefühl kompromittiert zu sein, in ihrem eigenen Interesse einen entscheidenden Schritt tun werden. Wenn es nötig ist, könnten auch einige von uns, die Offiziere waren, den Plan durch eine Propaganda unter den aktiven Offizieren kräftig fördern; aber diese Aktion muß von der eurigen völlig getrennt stattfinden, wenn sie auch zugleich unternommen wird. Ich habe ernstlich darüber nachgedacht. Ich weiß, welchen von meinen Bekannten ich trauen darf, und glaube, die Unzufriedenen blicken schon zum Teil auf mich als auf einen möglichen Mittelpunkt für ein Vorgehen in dieser Richtung. Dieser ganze Plan entspricht meiner eigenen Neigung nicht, aber wenn er euren Beifall findet, so will ich mich ihm mit ganzer Seele hingeben.«

Der Kreis nahm meinen Vorschlag nicht an. Bei der genauen gegenseitigen Kenntnis, die wir voneinander hatten, glaubten meine Kameraden wahrscheinlich, ich würde, wenn ich jene Richtung verfolgte, meiner eigenen Natur zuwiderhandeln müssen. Und ich kann jetzt im Interesse meines persönlichen Glückes und meiner persönlichen Existenz nicht dankbar genug sein, daß man meinen Vorschlag ablehnte. Ich wäre in einer Richtung tätig gewesen, die meinem innersten Wesen nicht entsprach, und hätte nicht das persönliche Glück gefunden, das mir auf anderen Pfaden zuteil wurde. Als aber sechs oder sieben Jahre später die Terroristen ihren furchtbaren Kampf gegen Alexander II. aufnahmen, bedauerte ich, daß nicht jemand anders in der von mir vorgeschlagenen Weise unter den Petersburger höheren Kreisen vorgearbeitet hatte. Würde man hier nur irgendwie vorher Fühlung genommen haben, so wären bei der Ausdehnung, die eine entsprechende Bewegung unter den Unzufriedenen im ganzen Reiche gewonnen hätte, die dargebrachten Opfer doch nicht vergeblich gewesen. Jedenfalls mußte man die unterirdische Arbeit des Exekutivkomitees durch eine gleichlaufende Agitation im Winterpalast unterstützen.

So kam die Notwendigkeit eines politischen Vorstoßes immer und immer wieder ohne jeden Erfolg in unserer kleinen Gruppe zur Verhandlung. Die Apathie und Gleichgültigkeit der begüterten Klassen war hoffnungslos, und unter den verfolgten Jungen hatte die Erregung noch nicht die Höhe erreicht, die nach sechs Jahren in dem Kampfe der Terroristen unter Leitung des Exekutivkomitees zum Ausdruck kam. Ja – und dies ist eine der tragischsten Ironien der Geschichte – gerade diese Jungen, die Alexander II. in seiner blinden Furcht und Wut zu Hunderten zu schwerer Arbeit verschicken und zu langsamem Tode in der Verbannung verurteilen ließ, schützten ihn in den Jahren 1871 bis 1878. Schon die Lehren der sozialistischen Kreise waren der Art, daß sie ein zweites Karakosowsches Attentat auf das Leben des Zaren hintanhielten. ›Die Vorbereitung einer großen sozialistischen Massenbewegung unter den Arbeitern und Bauern Rußlands‹ war damals das Losungswort. »Kümmert euch nicht um den Zaren und seine Räte, wenn solch eine Bewegung beginnt, wenn die Bauern sich ihr in Masse anschließen, das Land für sich fordern und die Abschaffung der Loskaufssteuern verlangen, so wird die kaiserliche Gewalt selbst sofort bei den begüterten Klassen und den Grundbesitzern Hilfe suchen und ein Parlament zusammenrufen – genau wie der Bauernaufstand in Frankreich 1789 die königliche Macht zur Zusammenberufung der Nationalversammlung nötigte.«

Doch das war noch nicht alles. Einzelne, keiner größeren Organisation angehörende Männer und Gruppen, die erkannten, daß Alexanders II. Regierung unaufhaltsam immer tiefer in die Reaktion versinken mußte, und die zugleich unklare Hoffnungen auf den vermeintlichen ›Liberalismus‹ des Thronerben setzten – alle jungen Thronerben gelten für liberal – kamen hartnäckig immer wieder auf den Gedanken zurück, man müsse Karakosows Beispiel folgen. Die organisierten Kreise machten aber gegen einen solchen Gedanken entschieden Front und drangen in ihre Genossen, von einem Vorgehen in dieser Richtung abzusehen. Ich kann jetzt die folgende bisher unbekannt gebliebene Tatsache zur Kenntnis weiterer Kreise gelangen lassen. Als ein junger Mensch aus einer der südlichen Provinzen mit der festen Absicht, Alexander II. zu töten, nach Petersburg kam und einige Mitglieder des Tschaykowsky-Kreises von diesem Plane erfuhren, suchten sie nicht nur den jungen Mann durch das ganze Gewicht ihrer Gründe von seinem Vorhaben abzubringen, sondern erklärten ihm, da er sich nicht raten lassen wollte, sie würden ihn überwachen lassen und mit Gewalt an der Ausführung eines solchen Attentates hindern. Da der Winterpalast damals, wie mir genau bekannt ist, sehr oberflächlich bewacht war, so kann ich bestimmt sagen, daß sie bei dieser Gelegenheit Alexander das Leben retteten. So entschieden widersetzten sich damals die Jungen einer Kampfesweise, an der sie sich später, als ihr Leidensbecher zum Überfließen voll war, gleichfalls beteiligten.

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