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Drittes Kapitel.

Reformbewegung unter der russischen Jugend. – Bildungs- und Tätigkeitstrieb der jungen Mädchen. – Einrichtung zahlreicher Frauenkurse. – Die neue Zeit im Alten Marschallviertel.

 

Der einzige Lichtpunkt, den ich im Petersburger Leben wahrnehmen konnte, war die unter der Jugend beiderlei Geschlechts immer weiter um sich greifende Bewegung, verschiedene Strömungen trafen zusammen, um die mächtige Agitation hervorzurufen, die bald einen geheimen und revolutionären Charakter annahm und in den nächsten fünfzehn Jahren die Aufmerksamkeit Rußlands in immer höherem Maße auf sich zog. Ich werde davon in einem der folgenden Kapitel zu sprechen haben, muß aber hier der Bewegung Erwähnung tun, die von unserer Frauenwelt ganz offen eingeleitet wurde, um sich den Zugang zu höherer Ausbildung zu eröffnen. Ihren Hauptmittelpunkt fand diese Bewegung damals in Petersburg.

Jeden Nachmittag hatte mir die junge Frau meines Bruders, wenn sie von dem pädagogischen Frauenkursus, an dem sie teilnahm, zurückkehrte, etwas Neues von den dort herrschenden Bestrebungen zu erzählen. Man faßte Pläne zur Eröffnung einer medizinischen Akademie oder von Universitäten für die Frauen; Besprechungen über Schulen oder verschiedene Unterrichtsmethoden fanden im Anschluß an die Kurse statt, und Hunderte von Frauen verfolgten diese Fragen mit leidenschaftlichem Interesse und erörterten sie unermüdlich in Privatkreisen. Man gründete Genossenschaften von Übersetzerinnen, Verlegerinnen, Druckerinnen und Buchbinderinnen, um Arbeit für die ärmsten Mitglieder der Schwesterschaft zu gewinnen, die, von der Hoffnung beseelt, eines Tages auch ihrerseits der höheren Bildung teilhaftig zu werden, nach Petersburg geströmt waren und sich zu jeder Arbeit bereit erklärten, um ihr Dasein zu fristen. Ein kräftig schwellendes Leben regte sich in diesen weiblichen Kreisen, ganz im Gegensatz zu dem, was ich sonst antraf.

Da die Regierung ihren Entschluß erklärt hatte, Frauen zu den bestehenden Universitäten nicht zuzulassen, richteten sie ihre Anstrengungen vornehmlich auf die Eröffnung eigener Universitäten. Man erklärte ihnen darauf im Unterrichtsministerium, die Mädchen, die die Mädchengymnasien durchgemacht hätten, wären nicht genügend vorbereitet, den Universitätsvorlesungen folgen zu können. »Gut,« erwiderten sie, »erlaubt uns die Einrichtung von Kursen zur Vorbereitung für die Universität und schreibt uns den Lehrplan vor, den ihr für angemessen erachtet. Wir wollen keine Begünstigung vom Staat. Gebt uns nur die Erlaubnis, und wir wollen für die Ausführung Sorge tragen.« Natürlich wurde die Erlaubnis nicht gewährt.

Dann richteten sie in allen Teilen Petersburgs Privatkurse und Salonvorlesungen ein. Viele Universitätsprofessoren, die der neuen Bewegung sympathisch gegenüber standen, erboten sich zur Übernahme von Vorträgen. Obwohl selbst arm, erklärten sie doch den Leiterinnen, daß sie jede Erwähnung einer Besoldung als persönliche Beleidigung auffassen würden. Ferner wurden jeden Sommer unter der Leitung von Universitätsprofessoren naturwissenschaftliche Ausflüge in die Umgegend von Petersburg unternommen, und die Hauptmasse der Teilnehmer an diesen Ausflügen waren Frauen. In den Hebammenkursen nötigten sie die Professoren, jeden Gegenstand weit erschöpfender zu behandeln, als durch den Lehrplan vorgeschrieben war, oder erweiterte Kurse einzurichten. Jede Möglichkeit nahmen sie wahr, jede Bresche in der Festung, um dagegen Sturm zu laufen. Sie wurden in das anatomische Laboratorium des alten Dr. Gruber zugelassen und machten solche Fortschritte, daß sie den begeisterten Anatomen ganz für ihre Sache gewannen. Erfuhren sie, daß ein Professor nichts dagegen habe, wenn sie in seinem Laboratorium Sonntags oder abends an Wochentagen arbeiteten, so machten sie sich dies sofort zu nutze.

Schließlich eröffneten sie trotz dem Widerstande des Ministeriums die Vorbereitungskurse, nur daß sie als ›pädagogische Kurse‹ bezeichnet wurden. Es ging doch nicht gut an, künftigen Müttern das Studium der Unterrichtsmethoden zu verbieten. Da aber die Methoden des botanischen oder mathematischen Unterrichts nicht wohl in abstrakter Weise gelehrt werden konnten, so wurden Botanik, Mathematik und alle übrigen Fächer bald in den Lehrplan der pädagogischen Kurse aufgenommen, die somit in allgemeiner Weise für die Universität vorbereiteten.

Schritt für Schritt erweiterten so die Frauen ihre Rechte. Sobald bekannt wurde, daß ein Professor an einer deutschen Universität in seinem Hörsaal ein paar Frauen Raum gönnte, klopften sie an die Tür und erhielten Einlaß. In Heidelberg studierten sie Rechtswissenschaft und Geschichte und in Berlin Mathematik; in Zürich zählte man mehr als hundert Studentinnen an der Universität und am Polytechnikum. Hier erwarben sie sich noch etwas wertvolleres als den medizinischen Doktorgrad, nämlich die Achtung der ersten Professoren, die diesem Gefühle mehrfach öffentlich Ausdruck gaben. Als ich 1872 nach Zürich kam und einige Studentinnen kennen lernte, sah ich mit Staunen, daß ganz junge Mädchen, die das Polytechnikum besuchten, verwickelte Aufgaben aus der Theorie der Wärme mit Hilfe der Differentialrechnung so leicht lösten, als hätten sie Jahre mathematischen Studiums hinter sich. Eine Russin, die unter Weierstraß in Berlin studierte, Sophie Kowalewsky, wurde eine berühmte Mathematikerin und erhielt einen Ruf an die Stockholmer Universität; meines Wissens war sie die erste Frau, die im neunzehnten Jahrhundert eine Professur an einer Universität für Männer bekleidete. Dabei war sie noch so jung, daß man sie in Schweden allgemein mit ihrem Kosenamen Sonja nannte.

Trotz dem unverhüllten Haß, den Alexander II. gebildeten Frauen entgegenbrachte – begegnete er auf seinen Spaziergängen einem Mädchen mit Brille und Garibaldihut, so fing er an zu zittern, in der Meinung, es müßte eine Nihilistin sein, die auf ihn schießen wollte –, trotz der erbitterten Opposition der Staatspolizei, in deren Augen jede Studentin eine Anhängerin der Revolution war, trotz dem Donner und den gemeinen Anklagen, die Katkow fast in jeder Nummer seines Giftblattes gegen die ganze Bewegung schleuderte, gelang es den Frauen doch, dicht unter den Augen der Regierung eine Reihe von Unterrichtsanstalten zu eröffnen. Als einige von ihnen im Auslande medizinische Grade erlangt hatten, zwangen sie die Regierung 1872, ihnen zu erlauben, mit Privatmitteln eine medizinische Akademie zu eröffnen. Und als die Regierung die russischen Studentinnen, um ihren Verkehr mit den revolutionären Flüchtlingen zu verhindern, zurückrief, erwirkten sie sogar die Erlaubnis zur Gründung von vier eigenen Universitäten im Inlande, die bald nahe an tausend Hörerinnen zählten. Es erscheint fast unglaublich, ist aber doch eine Tatsache, daß ungeachtet aller Verfolgungen, die die Medizinische Akademie für Frauen zu bestehen hatte, und obwohl sie zeitweilig ganz geschlossen wurde, jetzt in Rußland mehr als sechshundertsiebzig Ärztinnen sind.

Sicher war es eine großartige, wunderbar erfolgreiche und in hohem Maße lehrreiche Bewegung. Der Erfolg ist vor allem der unbegrenzten Opferfreudigkeit zuzuschreiben, die eine Menge von Frauen in allen möglichen Stellungen bewies. Schon während des Krimkrieges waren sie als barmherzige Schwestern tätig gewesen, später als Schulgründerinnen und äußerst pflichteifrige Lehrerinnen an Dorfschulen, ferner als ausgebildete Hebammen und ärztliche Helferinnen unter den Bauern. Sodann gingen sie im türkischen Feldzuge von 1878 als Pflegerinnen und Ärztinnen in die von Fieberkranken vollen Hospitäler und gewannen sich die Bewunderung der militärischen Befehlshaber und Alexanders II. selbst. Ich kenne zwei Damen, beide sehr eifrig von der Staatspolizei ›gesucht‹, die unter falschen Namen und mit entsprechend ausgestellten falschen Pässen während des Krieges als Pflegerinnen wirkten; die eine von ihnen, es war die größere ›Verbrecherin‹ von den beiden, die bei meiner Entweichung eine hervorragende Rolle gespielt hatte, wurde sogar zur Oberpflegerin in einem großen Hospital für verwundete Krieger ernannt, während ihre Freundin fast dem Typhusfieber erlag. Kurz, Frauen nahmen jede Stellung ein, wie tief sie auch dem gesellschaftlichen Range nach erscheinen, und welche Entbehrungen sie auch auferlegen mochte, wenn sie sich dadurch nur irgendwie dem Volke nützlich erweisen konnten, und das waren nicht etwa nur einige wenige, sondern Hunderte und Tausende. Sie haben im wahren Sinne des Wortes ihre Rechte erobert.

Ein eigener Zug dieser Bewegung ist es auch, daß bei ihr die Kluft zwischen beiden Generationen, den älteren und den jüngeren Schwestern, nicht bestand, oder daß sie doch zum großen Teil überbrückt war. Die anfänglichen Leiterinnen der Bewegung zerrissen niemals das Band, das sie mit den jüngeren Schwestern zusammenhielt, obwohl die letzteren ihre Ideale viel weiter gesteckt hatten als die älteren Frauen.

Diese letzteren verfolgten zwar ihre Ziele in den höheren Kreisen und hielten sich streng von jeder politischen Agitation fern, sie verfielen aber niemals in den Fehler, zu vergessen, daß ihre Hauptstärke in der Masse der jüngeren Frauen lag, von denen sich schließlich viele den radikalen oder revolutionären Gruppen anschlossen. Diese Leiterinnen waren die Korrektheit selbst – mir waren sie zu korrekt – aber sie brachen niemals mit den jüngeren Studentinnen, die als typische Nihilistinnen mit kurzem Haar, den Reifrock verschmähend, und in ihrem ganzen Auftreten ihre demokratische Gesinnung zur Schau tragend, einhergingen. Die Leiterinnen nahmen an ihrem Treiben nicht teil, und gelegentlich kam es auch wohl zu Reibungen, aber sie verleugneten die andern niemals, und das, denke ich, war in jener Zeit einer tollwütigen Verfolgung schon etwas Großes.

Sie sagten gewissermaßen zu den Jüngeren und Demokratischeren: »Wir werden unsere Samtkleider und künstlichen Haarwülste weitertragen, weil wir mit Narren zu tun haben, die in einer Samtrobe und einem Chignon die Zeichen politischer Unverdächtigkeit sehen, doch ihr jungen Mädchen mögt nach eurem Geschmack und euren Neigungen handeln.« Als die Züricher russischen Studentinnen von der Regierung den Befehl zur Heimkehr erhielten, wandten sich die korrekten Damen nicht etwa gegen die Rebellen. Sie sagten einfach zur Regierung: »Euch gefällt das nicht? Nun, so eröffnet Frauenuniversitäten im Inlande; sonst werden unsere Mädchen in noch größerer Zahl ins Ausland gehen und dort natürlich in Beziehung zu den politischen Flüchtlingen treten.« Warf man ihnen vor, sie zögen nur Aufrührerinnen groß, und drohte man ihnen mit Schließung ihrer Akademie und ihrer Universitäten, so entgegneten sie: »Ja, es ist so, viele Studenten werden Revolutionäre, aber ist das ein Grund, alle Universitäten zu schließen?« Wie selten haben politische Führer den Mut, sich nicht gegen den vorgeschritteneren Teil ihrer eigenen Partei zu wenden!

Der wahre Schlüssel zu dieser weisen und durchaus erfolgreichen Haltung liegt darin, daß jene Frauen, welche die Seele der ganzen Bewegung bildeten, nicht bloße Frauenrechtlerinnen waren, die ihren Anteil an den bevorzugten Stellungen in Gesellschaft und Staat haben wollten. Nichts weniger als das! Ihre Sympathien gingen zumeist mit der großen Masse des Volkes. Ich erinnere mich, wie lebhaften Anteil 1861 Fräulein Stasowa, die alte Führerin der Frauenbewegung, an den Sonntagsschulen nahm, an die freundschaftlichen Beziehungen, die sie und ihre Freundinnen mit den Fabrikarbeiterinnen anknüpften, an das Interesse, das sie für das schwere Dasein der der Schule entwachsenen Mädchen bezeigten, an die Kämpfe, die sie gegen ihre habgierigen Arbeitgeber auszufechten hatten. Ich gedenke ferner des lebendigen Interesses, das die Frauen in ihren pädagogischen Kursen für die Errichtung von Dorfschulen und für die Tätigkeit der wenigen bekundeten, denen, wie der Baronin Korff, eine Zeitlang ein Wirken in dieser Richtung vergönnt war, und des sozialen Geistes, der bei diesen Kursen vorwaltete. Die Rechte, für die sie beide stritten – die Führerinnen wie ihre ganze Gefolgschaft –, waren nicht nur das individuelle Recht auf höhere Ausbildung, sondern weit, weit mehr das Recht, unter dem Volke, unter den Massen eine nutzbringende Arbeit tun zu dürfen. Und darum hatten sie solchen Erfolg.

 

In den letzten paar Jahren war es mit der Gesundheit meines Vaters immer mehr bergab gegangen, und als mein Bruder Alexander und ich ihn im Frühling 1871 besuchten, sagten uns die Ärzte, mit den ersten Herbstfrösten würde es mit ihm vorüber sein. Er hatte in der Staraja Konjuschennaja sein altes Leben fortgesetzt, aber rings um ihn herum war in diesem aristokratischen Viertel alles anders geworden. Die reichen Grundherren, die einst hier eine so hervorragende Rolle spielten, waren fort. Nach Vergeudung der Loskaufssummen, die sie bei der Aufhebung der Leibeigenschaft erhalten hatten, und nach Aufnahme immer neuer Hypotheken in den ihre hilflose Lage ausbeutenden Landbanken hatten sie sich schließlich aufs Land oder in Provinzialstädte zurückgezogen, um dort der Vergessenheit anheimzufallen. Ihre Häuser waren von ›den Eindringlingen‹, reichen Kaufleuten, Eisenbahnunternehmern und dergleichen, besetzt, während fast in jeder von den alten Familien, soweit sie noch im Alten Marschallviertel verblieben waren, ein junges Leben sich aufbäumte und in heißem Kampfe seine Rechte auf den Trümmern des Alten aufzurichten suchte. Ein paar Generäle a. D., die auf die neue Entwicklung der Dinge fluchten und ihrem Ärger Luft machten, indem sie ihrem Lande unter der neuen Ordnung einen sicheren und schleunigen Untergang vorhersagten, oder hin und wieder ein zum Besuch kommender Verwandter, das war der ganze Verkehr, der für meinen Vater noch geblieben war. Von unsern zahlreichen Verwandten, allein in Moskau zählten wir in meiner Kindheit an zwanzig verwandte Familien, wohnten nur noch zwei in der Hauptstadt, und diese hatten sich dem Strome neuen Lebens hingegeben, indem die Mütter mit ihren Töchtern und Söhnen über Dinge wie Volksschulen und Frauenuniversitäten sprachen, so daß mein Vater mit Verachtung auf sie sah. Meine Stiefmutter und meine jüngere Stiefschwester Pauline, die sich nicht geändert hatten, trösteten ihn nach besten Kräften, fühlten sich aber selbst fremd in der ungewohnten Umgebung.

Mein Vater hatte sich immer unfreundlich und höchst ungerecht gegen meinen Bruder Alexander gezeigt, aber Alexander war ganz unfähig, gegen irgend jemand einen Groll zu hegen. Als er mit dem innigen, freundlichen Blick aus seinen dunkelblauen Augen und einem Lächeln, das sein grenzenlos gutes Herz verriet, auf den Lippen in Vaters Krankenzimmer trat und als er sofort herausfand, wie er es dem Leidenden auf seinem Krankenstuhle etwas bequemer machen könnte, und dies als etwas Selbstverständliches tat, als hätte er das Zimmer erst vor einer Stunde verlassen, war mein Vater ganz verblüfft und starrte ihn verständnislos an. Unser Besuch brachte Leben in das einsame, düstere Haus; die Pflege wurde einsichtsvoller ausgeübt, meine Stiefmutter, Pauline, selbst die Diener fühlten sich angeregt und entfalteten eine frischere Tätigkeit, und auch mein Vater empfand die Veränderung.

Nur eins beunruhigte ihn. Er hatte erwartet, wir würden als reuevolle Söhne vor ihm erscheinen und ihn um eine Unterstützung anflehen. Als er aber die Unterhaltung nach jenem Ziele hinlenken wollte, unterbrachen wir ihn mit einem so heiteren und ungezwungenen »Laß dich das nicht kümmern, wir kommen ganz gut vorwärts,« daß seine Verwunderung sich noch steigerte. Er sah einer Szene in altem Stile entgegen, meinte, die Söhne würden ihn um seine Verzeihung und um Geld bitten; es mag sein, daß er sogar einen Augenblick lang das Ausbleiben dieser Szene bedauerte; aber er sah uns seitdem mit größerer Achtung an. Beim Scheiden waren wir alle drei ergriffen. Fast schien es, als fürchte er sich vor der Rückkehr in seine düstere Einsamkeit inmitten der Trümmer eines Systems, dessen Aufrechterhaltung er sein Leben gewidmet hatte. Aber Alexander rief der Dienst, und ich ging nach Finnland.

Als ich aus Finnland wieder heimgerufen wurde, eilte ich nach Moskau und kam gerade an, als die Begräbnisfeierlichkeiten begannen, die in derselben alten roten Kirche stattfanden, wo mein Vater getauft worden war, und wo man die letzten Gebete beim Ableben seiner Mutter gesprochen hatte. Als sich der Leichenzug durch die Straßen bewegte, in denen mir jedes Haus von Kindheit an vertraut war, bemerkte ich, daß die Häuser so ziemlich die gleichen geblieben waren, aber ich wußte, daß in jedem ein neues Leben begonnen hatte.

In dem Hause, das früher unserer Großmutter väterlicherseits und sodann der Fürstin Mirski gehört und das nun ein General N., ein alter Einwohner des Viertels, gekauft hatte, führte die einzige Tochter mehrere Jahre hindurch einen schmerzlichen Kampf gegen ihre gutherzigen, aber hartnäckig dem neuen Geiste widerstrebenden Eltern, die sie vergötterten, aber sie nicht an den an der Moskauer Universität eröffneten Frauenkursen teilnehmen lassen wollten. Schließlich durfte sie ihnen beitreten, wurde aber in einem eleganten Wagen hingefahren und blieb unter steter Aufsicht der Mutter, die an der Seite des geliebten Kindes stundenlang mutig unter den Studentinnen aushielt; und dennoch, trotz aller dieser Sorge und Wachsamkeit, schloß sich die Tochter nach ein paar Jahren der revolutionären Partei an, wurde verhaftet und verbrachte ein Jahr in der Peter-Pauls-Festung.

In dem Hause gegenüber lagen die despotischen Familienhäupter, Graf und Gräfin S. –, in erbittertem Kampfe mit ihren beiden Töchtern, die, des müßigen und unnützen Lebens, das sie nach dem Willen ihrer Eltern führen mußten, satt, es gern andern Mädchen gleich tun wollten, die, frei und glücklich, zu den Universitätskursen strömten, jahrelang dauerte der Kampf; die Eltern gaben in diesem Falle nicht nach, und die Folge war, daß das ältere Mädchen ihrem Leben durch Gift selbst ein Ende machte, worauf erst der jüngeren Schwester gestattet wurde, ihrer Neigung zu folgen.

In dem Hause daneben, in dem unsere Familie ein Jahr lang gewohnt hatte, erkannte ich, als ich es mit Tschaykowsky betrat, um dort die erste geheime Versammlung eines von uns in Moskau gegründeten Kreises abzuhalten, sofort die Räume wieder, die mir in meiner Jugend und in einer so ganz anderen Atmosphäre so vertraut gewesen waren, jetzt gehörte das Haus der Familie Natalie Armfelds, jener überaus sympathischen ›Verbrecherin‹ in Kara, deren George Kennan in seinem Buche über Sibirien in so ergreifender Weise gedenkt.

Und keinen Steinwurf weit von dem Hause, in dem mein Vater starb, und innerhalb weniger Monate nach seinem Tode empfing ich den als Bauer verkleideten Stepniak, der aus einem Dorfe entflohen war, wo man ihn wegen sozialistischer Propaganda unter den Bauern verhaftet hatte.

Das waren die Veränderungen, die das Alte Marschallviertel in den vergangenen fünfzehn Jahren erfahren hatte. Auch in diese letzte Feste des alten Adels war jetzt der neue Geist gedrungen.

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