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Siebtes Kapitel.

Hervorragende weibliche und männliche Mitglieder des Tschaykowsky-Kreises. – Freundschaft mit Stepniak. – Propaganda im Lande durch Teilnahme an den Leiden der Bauern und Arbeiter. – Agitation unter den Petersburger Webern.

 

Die zwei Jahre vor meiner Verhaftung, während deren ich im Tschaykowsky-Kreise tätig war, haben für alle Folge einen tiefen Eindruck auf mein äußeres und inneres Leben hinterlassen. Es waren zwei Jahre eines ›Lebens unter Hochdruck‹, eines überquellenden Lebens, bei dem man in jedem Augenblicke gewissermaßen das volle Klopfen aller Fibern des inneren Menschen fühlt und allein ein wahrhaft lebenswertes Dasein führt. Ich befand mich in einer Familie von Männern und Frauen, die das gemeinsame Ziel so eng miteinander verbunden hatte und die in ihren gegenseitigen Beziehungen eine so weitgehende Humanität und Zartheit bekundeten, daß ich mich jetzt nicht an einen einzigen Moment erinnern kann, in dem auch nur eine vorübergehende Reibung das Leben unseres Kreises gestört hätte. Wer einige Erfahrung als politischer Agitator besitzt, wird wissen, was das besagen will.

Ehe ich meiner wissenschaftlichen Laufbahn gänzlich entsagte, hielt ich mich für verpflichtet, für die Geographische Gesellschaft den Bericht über meine Reise nach Finnland sowie noch eine andere Arbeit, mit der ich im Interesse jener Gesellschaft beschäftigt war, zu vollenden; und meine neuen Freunde waren die ersten, mich in diesem Entschlusse zu bestärken. Es wäre, sagten sie, unbillig, anders zu handeln. Ich arbeitete daher angestrengt an der Fertigstellung meiner geologischen und geographischen Bücher.

Unser Kreis versammelte sich häufig, und ich fehlte niemals dabei, wir pflegten uns damals in einer Petersburger Vorstadt in einem kleinen Hause zu treffen, dessen vorgeschobene Mieterin Sophie Perowskaja unter dem angenommenen Namen und mit dem gefälschten Passe einer Handwerkerfrau war. Sie stammte aus einer sehr aristokratischen Familie, und ihr Vater war eine Zeitlang Militärgouverneur von Petersburg gewesen. Aber mit Zustimmung ihrer sie vergötternden Mutter war sie auf eine Hochschule gegangen; sie hatte dann mit den drei Schwestern Kornilow, den Töchtern eines reichen Fabrikanten, eine kleine Gruppe zum Zwecke des Selbstunterrichts gebildet, aus der sich später unser Kreis entwickelte. Wie sie jetzt als Handwerkerfrau im Kattunkleide und in Männerstiefeln und mit einem baumwollenen Kopftuche ihre zwei Eimer auf den Schultern von der Newa herbeitrug, hätte niemand in ihr das Mädchen erkannt, das vor wenigen Jahren in den feinsten Gesellschaften der Hauptstadt glänzte. Jeder von uns war für sie eingenommen und hatte, wenn er ins Haus trat, ein besonders freundliches Lächeln für sie, selbst wenn sie, die möglichste Reinhaltung des Hauses als einen Ehrenpunkt betrachtend, uns wegen des Schmutzes schalt, den wir, mit großen Bauernstiefeln und Schafpelz angetan, nach der Wanderung durch die kotigen Vorstadtstraßen hereinbrachten. Sie suchte dann ihrem mädchenhaften, unschuldigen und höchst geistvollen Gesichtchen einen möglichst strengen Ausdruck zu geben. In ihren sittlichen Begriffen war sie sehr streng, aber keineswegs nach dem Muster einer Moralpredigerin. Wenn sie einem wegen seiner Aufführung zürnte, so warf sie ihm unter ihren Brauen hervor einen ernsten Blick zu, aber dieser Blick spiegelte auch ihre weitherzige, großmütige Natur wieder, die für alles Menschliche Verständnis besaß. In einem Punkte war sie unerbittlich; ›ein Weibermann‹, sagte sie einmal mit Beziehung auf einen Mann, von dem gerade die Rede war, und der Ausdruck und die Art und Weise, wie sie das Wort, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen, aussprach, haben sich meinem Gedächtnis für immer eingeprägt.

Die Perowskaja war eine ›Volksfreundin‹ bis zum innersten Grunde ihres Herzens und dabei eine Revolutionärin, eine Streiterin, so zuverlässig und fest wie Stahl. Sie brauchte die Bauern, um sie zu lieben und für sie zu arbeiten, nicht mit eingebildeten Vorzügen auszustatten. Sie nahm sie, wie sie waren, und sagte einmal zu mir: »Wir haben etwas Großes angefangen. Zwei Generationen werden vielleicht bei der Arbeit zu Grunde gehen, und doch muß sie getan werden.« Nicht eine von den Frauen unseres Kreises würde vor dem sicheren Tode auf dem Schafott zurückgewichen sein, jede hätte dem Tode unerschrocken ins Auge geschaut. Aber es dachte keine von ihnen, als unsere Propaganda sich noch auf jener Stufe befand, an ein solches Los. Das wohlbekannte Porträt der Perowskaja ist ausnahmsweise gut, es spiegelt so trefflich ihren ernsten Mut, ihren glänzenden Geist und ihre liebevolle Natur wieder. Kaum je aber möchte ein Frauenherz einen besseren Ausdruck für eine liebende Seele gefunden haben, als unsere Genossin in dem Briefe, den sie wenige Stunden vor dem Besteigen des Schafotts an ihre Mutter schrieb.

Die andern Frauen unserer Vereinigung kennzeichnet der folgende kleine Vorfall. In einer Nacht gingen Kuprejanow und ich zu Warwara B., der wir eine dringende Mitteilung zu machen hatten. Mitternacht war schon vorüber, aber da wir in ihrem Fenster Licht sahen, so gingen wir hinauf. Sie saß in ihrem winzigen Zimmer am Tisch und kopierte einen Aufruf unseres Kreises. Wir kannten ihr entschlossenes Wesen und kamen auf den Einfall, einen von den dummen Späßen zu machen, die man wohl manchmal für witzig hält, »Wir kommen,« sagte ich, »und wollen Sie holen; wir haben einen ziemlich tollen Versuch zur Befreiung unserer Freunde aus der Festung vor.« Ohne ein Wort der Frage legte sie ruhig ihre Feder nieder, erhob sich von ihrem Stuhl und sagte nur: »Laßt uns gehen!« Sie sprach dies so einfach und natürlich, daß ich sofort das Törichte meiner Handlungsweise empfand und ihr die Wahrheit sagte. Mit Tränen in den Augen sank sie in ihren Stuhl zurück und fragte mit verzweifelter Stimme: »Es war nur ein Spaß? Warum machen Sie solche Späße?« Da kam mir die Grausamkeit meines Verfahrens zum vollen Bewußtsein.

 

Ferner war ein allgemeiner Liebling in unserm Kreise: Sergei Krawtschinsky, der später unter dem Namen Stepniak in England wie in den Vereinigten Staaten so berühmt wurde, wir nannten ihn oft ›das Kind‹, so unbesorgt war er für seine eigene Sicherheit; aber diese Sorglosigkeit betreffs seiner selbst war nur die Folge völliger Freiheit von Furcht, die schließlich für einen, hinter dem die Polizei her ist, oft auch die beste Politik darstellt. Wegen seiner Propaganda in den Arbeiterkreisen, die er unter seinem wahren Vornamen Sergei betrieb, wurde er bald sehr bekannt und daher von der Polizei eifrig gesucht. Trotzdem traf er keine Vorsichtsmaßregeln, sich zu verbergen, und ich erinnere mich, daß er einmal bei einer unserer Versammlungen ernstlich gescholten wurde, weil er sich eine grobe Unvorsichtigkeit hatte zu schulden kommen lassen. Da er sich nämlich, wie schon häufig, verspätet hatte und bis zu unserm Hause noch eine weite Entfernung zurücklegen mußte, so lief er, wie ein Bauer in einen Schafspelz gekleidet, in voller Eile mitten auf dem Pflaster eine ganze lange Hauptstraße hinunter, »Wie konntest du das tun?« fragte man ihn vorwurfsvoll. »Du hättest Verdacht erregen und wie ein gemeiner Dieb verhaftet werden können!« Aber ich wünschte, jeder wäre so vorsichtig gewesen wie er, wenn es sich um Angelegenheiten handelte, bei denen andere Leute kompromittiert werden konnten.

Eine innigere Beziehung zwischen uns beiden vermittelte zuerst Stanleys Buch ›Meine Auffindung Livingstones.‹ Eines Abends hatte unsere Versammlung bis zwölf gedauert, und gerade als wir im Begriffe waren fortzugehen, kam eine von den Kornilows mit einem Buch in der Hand und fragte, wer von uns bis um acht Uhr am nächsten Morgen sechzehn gedruckte Seiten von Stanleys Werk übersetzen könnte. Nachdem ich mir das Format der Seiten angesehen hatte, sagte ich, wenn mir jemand helfen wollte, könnte die Arbeit in der Nacht getan werden. Sergei erklärte sich bereit, und um vier Uhr waren die sechzehn Seiten fertig, wir lasen einander unsere Übersetzungen vor, während der andere dem englischen Text folgte; dann leerten wir einen Napf mit russischem Brei, den man für uns auf dem Tische hatte stehen lassen, und gingen hierauf zusammen heim. Seit dieser Nacht wurden wir innige Freunde.

Leute, die voll Schaffenskraft waren und ihre Arbeit ordentlich taten, habe ich immer gern gehabt. So hatten mich Sergeis Übersetzung und seine Fähigkeit schnell zu arbeiten schon für ihn eingenommen. Als ich ihn aber besser kennen lernte, empfand ich zu ihm aufrichtige Liebe um seiner ehrenhaften, offenen Natur, um seiner jugendlichen Energie und seines Mutterwitzes, um seines überlegenen Geistes, seiner Einfachheit und Wahrhaftigkeit und um seines Mutes und seiner Ausdauer willen. Er hatte viel gelesen und viel nachgedacht, und über den revolutionären Charakter des von uns unternommenen Kampfes schienen wir ähnliche Ansichten zu hegen. Doch war er zehn Jahre jünger als ich und besaß daher vielleicht noch nicht die volle Einsicht, was für einen schweren Konflikt die kommende Revolution bringen würde. Mit vielem Humor erzählte er uns später einmal von der Zeit, in der er unter den Bauern auf dem Lande gearbeitet hatte. »Eines Tages,« sagte er, »ging ich mit einem Kameraden einen Weg entlang, als uns ein Bauer in einem Schlitten einholte. Ich ging sofort ans Werk, sagte ihm zunächst, daß er keine Steuern zu zahlen brauchte, daß die Beamten das Volk plünderten, und versuchte, ihn unter Anführung von Bibelstellen von der Notwendigkeit einer offenen Empörung zu überzeugen. Der Bauer peitschte auf sein Pferd los, aber wir folgten eilends; er ließ sein Pferd traben, wir fingen an hintendrein zu laufen, während ich dabei immer weiter zu ihm von Steuern und Empörung redete. Schließlich brachte er sein Tier in Galopp, aber es taugte nicht viel – es war ein schlecht genährtes Bauernpony – so konnten mein Kamerad und ich noch eine gute Weile Schritt halten und die Propaganda fortsetzen, bis wir ganz außer Atem waren.«

Eine Zeitlang blieb Sergei in Kasan, und ich hatte mit ihm brieflich zu verkehren. Da es ihm von jeher verhaßt war, Briefe zu chiffrieren, so schlug ich ihm folgendes bei Verschwörungen schon oft gebrauchte Verständigungsmittel vor. Man schreibt einen gewöhnlichen Brief über alles mögliche, aber in diesem Briefe haben nur bestimmte Wörter – sagen wir jedes fünfte Wort – etwas zu bedeuten. Beispielsweise schreibt man: »Entschuldige meine eilige Schrift. Komm heute abend zu mir! Morgen bin ich jedenfalls am Abend im Theater; ich habe zu der Aufführung Eintrittskarten für Nikolaus und mich bereits bestellt.« Liest man nun jedes fünfte Wort, so heißt es: »Komm morgen abend zu Nikolaus.« Bei diesem Verfahren waren, um nur eine einzige Seite mitzuteilen, fünf Seiten voll zu schreiben; und wir mußten unsere Einbildungskraft anstrengen, um den Brief mit beliebigem Inhalt als Hülle für unsere Stichwörter anzufüllen. Sergei, von dem man keinen chiffrierten Brief erhalten konnte, fand an dieser Art der Korrespondenz Gefallen und schickte mir Briefe voll aufregender Begebenheiten und dramatischen Lebens. Später sagte er mir, daß diese Korrespondenz mitgeholfen habe, seine literarischen Gaben zur Entfaltung zu bringen, wenn einer Talent hat, so trägt eben alles zu dessen Entwicklung bei.

Im Januar oder Februar 1874 befand ich mich in Moskau in einem von den Häusern, wo ich meine Kindheit verlebt hatte. Früh am Morgen meldete man mir, ein Bauer wünschte mich zu sprechen. Als ich hinausging, fand ich Sergei draußen, der eben aus Twer entwichen war. Bei seinem starken Körperbau zog er zusammen mit einem andern früheren Offizier, Rogatschow, der ebenfalls große Körperkräfte besaß, als Brettschneider im Lande umher. Die Arbeit war, besonders für ungeübte Hände, keine leichte; ihnen gefiel sie aber, und niemand, der sie sah, hätte in den beiden starken Holzsägern verkleidete Offiziere vermutet. So wanderten sie fast zwei Wochen, ohne Verdacht zu erregen, umher und betrieben furchtlos allenthalben die revolutionäre Propaganda. Manchmal redete Sergei, der das Neue Testament fast auswendig kannte, zu den Bauern in der Rolle eines Predigers und bewies ihnen durch Bibelstellen, daß sie sich empören müßten. Ein andermal argumentierte er mit Zitaten der Volkswirtschaftslehrer. Die Bauern hörten auf die beiden wie auf wirkliche Apostel und führten sie gastfreundschaftlich von einem Hause zum andern, ohne für die gereichte Nahrung Geld anzunehmen. Innerhalb vierzehn Tage hatten sie so eine ganze Reihe von Dörfern in Aufregung versetzt, und ihr Ruf verbreitete sich nach allen Richtungen. Schon fingen die Bauern, alt und jung, an, miteinander in den Scheunen leise Bemerkungen über die ›Abgesandten‹ auszutauschen, und schon sprachen sie lauter als gewöhnlich davon, es werde das Land bald den Grundherren genommen und diese dafür vom Zaren durch Jahrgelder entschädigt werden. Auch die jüngeren Leute zeigten sich herausfordernder gegen die Polizisten und ließen Äußerungen hören wie: »Wartet nur ein Weilchen; bald kommt die Reihe an uns, ihr Herodesse werdet nicht mehr lange oben sein!« Aber der Ruf der Brettschneider erreichte endlich auch die Ohren eines Polizeiorgans, was zu ihrer Verhaftung führte. Es erging der Befehl, man sollte sie zu dem nächsten Polizeibeamten, dessen Station zwei Meilen weit entfernt lag, bringen.

Auf dem Wege dorthin, den sie unter der Bewachung mehrerer Bauern zurücklegten, kamen sie durch ein Dorf, in dem gerade ein Fest gefeiert wurde. »Gefangene? Schon gut! Komm nur her, Gevatter!« sagten die Bauern, die zu Ehren des Tages zum Festtrunk versammelt waren. Fast den ganzen Tag hielt man die Begleiter unserer Genossen im Dorfe fest, und die Bauern nahmen sie von einem Hause zum andern und setzten ihnen eigengebrautes Bier vor. Dazu ließen sich die Wächter nicht zweimal nötigen. Sie tranken und bestanden darauf, daß die Gefangenen auch trinken sollten. »Glücklicherweise,« sagte Sergei, »gaben sie uns das Bier in großen Holznäpfen, die man in der Runde umgehen ließ, so daß ich meinen Mund an den Rand des Napfes bringen konnte, als tränke ich, ohne daß jemand sehen konnte, ob und wieviel Bier ich getrunken hatte.« Am Abend waren die Wachen sämtlich betrunken, und da sie sich scheuten, in diesem Zustande vor dem Polizeibeamten zu erscheinen, so entschlossen sie sich, bis zum Morgen im Dorfe zu bleiben. Sergei führte beständig die Unterhaltung, und alle hörten ihm zu und bedauerten, daß solch ein guter Mensch verhaftet wäre. Als sie zu Bett gehen wollten, flüsterte ein junger Bauer Sergei zu: »wenn ich das Tor schließen gehe, werd' ich den Riegel nicht vorschieben.« Sergei und sein Kamerad verstanden den Wink, und sobald alle eingeschlafen waren, gingen sie hinaus und kamen auf die Straße. Sie machten sich so schnell als möglich davon und befanden sich um fünf Uhr morgens vier Meilen von dem Dorf entfernt bei einer kleinen Eisenbahnstation, von wo sie mit dem ersten Zuge nach Moskau fuhren. Dort blieb Sergei, und unter seinem Antrieb wurde der Moskauer Kreis später, als wir Petersburger sämtlich verhaftet waren, der Hauptmittelpunkt der Agitation.

In kleinen Gruppen hatten sich hier und da in Städten und Dörfern Agitatoren unter dieser und jener Verkleidung niedergelassen. In Schmiedewerkstätten und auf kleinen Gutswirtschaften, die man zu diesem Zweck eingerichtet hatte, arbeiteten junge Leute aus begüterten Familien, um in täglicher Berührung mit den Arbeitermassen zu stehen. In Moskau ging eine Anzahl junger Mädchen, die reichen Familien angehörten, in Zürich studiert und jetzt eine eigene Organisation gegründet hatten, sogar so weit, in Baumwollenfabriken einzutreten, wo sie sich einer täglichen Arbeitszeit von vierzehn bis sechzehn Stunden unterwarfen und in den Geschäftsbaracken das jämmerliche Leben eines russischen Fabrikmädchens führten. Es war eine großartige Bewegung, an der nach niedrigster Schätzung zwei- bis dreitausend Personen tätigen Anteil nahmen, während zwei- oder dreimal so viele durch ihre Sympathie wie durch tatkräftige Hilfe den wirklichen Vorkämpfern in verschiedener Weise Beistand leisteten. Mit der reichlichen Hälfte dieser Armee stand unser Petersburger Kreis beständig in Korrespondenz, die natürlich nur vermittels Chiffren vor sich ging.

Bald erwies sich die Literatur, die in Rußland unter einer äußerst strengen, alles, was nur entfernt sozialistischen Charakter trug, ausschließenden Zensur erscheinen durfte, als unzureichend, weshalb wir im Auslande eine eigene Druckerei einrichteten. Es waren Flugschriften für die Arbeiter und für die Bauern zu verfassen, und unser kleiner ›literarischer Ausschuß‹, dem ich auch angehörte, hatte alle Hände voll zu tun. Sergei schrieb zwei solcher Flugblätter, eines in Lamenais' Stil, das andere, eine Verkündigung sozialistischer Lehren, im Gewande eines Märchens, die beide eine weite Verbreitung fanden. Die im Auslande gedruckten Bücher und Flugschriften wurden in Tausenden von Exemplaren eingeschmuggelt, an bestimmten Plätzen aufgespeichert und an die einzelnen Kreise versandt, die für die Verteilung unter die Bauern und Arbeiter Sorge trugen. Dies alles erforderte eine ausgedehnte Organisation und eine ungeheure Korrespondenz, hauptsächlich zu dem Zwecke, unsere Helfer und unsere Vorräte an Büchern und Flugschriften vor der Polizei zu schützen. Wir hatten für die Kreise in verschiedenen Provinzen besondere Chiffren, und oft genug, wenn wir sechs oder sieben Stunden lang alles im einzelnen besprochen hatten, verbrachten die Frauen, die uns nicht die genügende Sorgfalt beim Chiffrieren zutrauten, noch die ganze Nacht damit, viele Bogen Papier mit kabbalistischen Zeichen und Ziffern zu bedecken.

Bei unsern Versammlungen herrschte stets ein durchaus kameradschaftlicher Ton. Die Einrichtung eines Vorsitzenden widerstrebt wie alles Formalistische durchaus dem russischen Geiste, wir sahen deshalb ganz davon ab, und wenn auch unsere Verhandlungen, besonders bei der Besprechung von ›Programmfragen‹, manchmal außerordentlich hitzig wurden, so kamen wir doch stets sehr gut aus, ohne zu den im Westen üblichen Förmlichkeiten zu greifen. Vollkommene Aufrichtigkeit, der allgemeine Wunsch, alle Schwierigkeiten auf das beste beizulegen, und rückhaltslose Verachtung alles dessen, was nur im geringsten an schauspielerisches Wesen erinnerte, boten genügende Bürgschaft für ein harmonisches Arbeiten in unserem Kreise. Wenn einer von uns den Versuch gemacht hätte, uns durch eine schöne Rede zu beeinflussen, so würden ihm freundschaftliche Scherze sofort gezeigt haben, daß das Redenhalten hier nicht am Platze sei. Oft mußten wir während dieser Verhandlungen unsere Mahlzeiten zu uns nehmen, die ein- wie allemal aus Roggenbrot mit Gurken und einem Bissen Käse bestanden, und dazu tranken wir eine Unmenge von schwachem Tee. Nicht als ob es an Geld gefehlt hätte; das war immer reichlich vorhanden, wurde aber freilich auch in immer steigendem Maße für das Drucken und den Transport der Bücher sowie dazu gebraucht, Freunde vor den Nachstellungen der Polizei zu verbergen und neue Unternehmungen in die Wege zu leiten.

In Petersburg erfreuten wir uns bald ausgedehnter Bekanntschaft unter den Arbeitern. Serdukow, ein hochgebildeter junger Mann, hatte unter den Maschinisten, die zumeist in der staatlichen Artillerie-Werkstätte angestellt waren, viele zu Freunden gewonnen und richtete unter ihnen einen Verein von etwa dreißig Mitgliedern ein, die Lese- und Sprechabende abhielten. Die Maschinisten erhalten in Petersburg einen ziemlich hohen Lohn und befinden sich – wenigstens die unverheirateten – nicht gerade in schlechten Verhältnissen. Es dauerte nicht gar lange, so hatten wir sie mit der hauptsächlichsten radikalen und sozialistischen Literatur, mit Buckle, Lassalle, Mill, Draper, Spielhagen, bekannt gemacht, so daß sie sich in ihren Anschauungen nur wenig von Studenten unterschieden. Als Kelnitz, Sergei und ich unserm Kreise beitraten, besuchten wir ihre Gruppe oft und hielten ihnen belehrende Vorträge über alles mögliche. Doch erfüllte sich unsere Hoffnung, diese jungen Leute würden sich zu eifrigen Agitatoren unter den geringeren Arbeiterklassen entwickeln, nur zum Teil. In einem freien Lande wären sie wohl bei öffentlichen Versammlungen die berufenen Redner gewesen. Aber gleich den besser gestellten Vorarbeitern in Genf sahen sie etwas verächtlich auf die große Masse der Fabrikarbeiter herab und hatten es durchaus nicht eilig, Märtyrer der sozialistischen Sache zu werden. Erst nachdem sie verhaftet und auf drei oder vier Jahre ins Gefängnis geworfen worden waren, weil sie als Sozialisten gewagt hatten zu denken, und nachdem sie den russischen Absolutismus in seiner ganzen Ausdehnung kennen gelernt hatten, erst da fingen einige von ihnen an, eine heftige Propaganda und zwar hauptsächlich zu Gunsten einer politischen Revolution zu betreiben.

 

Meine Sympathien galten in erster Linie den Webern und den Arbeitern in Baumwollenfabriken. Sie zählen in Petersburg viele Tausende, die während des Winters dort arbeiten, die drei Sommermonate hindurch aber in ihrem Heimatsdorfe der Feldarbeit obliegen. Halb Bauern und halb städtische Arbeiter, unterscheiden sie sich im allgemeinen nicht von den russischen Landleuten. Unter ihnen verbreitete sich die neue Bewegung wie ein Lauffeuer, und wir mußten sogar unsererseits den Eifer unserer neuen Freunde mäßigen, sonst würden sie uns auf einmal Hunderte, Junge wie Alte, in unsere Versammlungen gebracht haben. Sie lebten zumeist in kleinen Genossenschaften oder ›Artels‹, das heißt, es mieteten zehn oder zwölf ein gemeinsames Zimmer, nahmen ihre Mahlzeiten zusammen ein und trugen auch zu gleichen Teilen die monatlichen Kosten des gemeinschaftlichen Aufwandes. Diese Wohnstätten pflegten wir aufzusuchen. Bald wurden wir durch die Weber mit noch anderen Artels von Steinmetzen, Zimmerleuten u. s. w. bekannt gemacht. In einigen derselben waren Sergei, Kelnitz und andere Genossen wie zu Hause und brachten dort ganze Nächte unter beständigen Gesprächen über sozialistische Fragen zu. Außerdem verfügten wir in verschiedenen Teilen Petersburgs über besondere von den Unsrigen gemietete Räume, wo sich ebenfalls allabendlich zehn oder zwölf Arbeiter versammelten, um Lesen und Schreiben zu lernen, woran sich dann gewöhnlich noch eine Unterhaltung schloß. Von Zeit zu Zeit begab sich einer von uns auch in den Heimatsort unserer städtischen Freunde und betrieb dort ein paar Wochen lang unter den Bauern fast ganz offen die Propaganda.

Natürlich mußten sich alle von uns, die unter dieser Klasse von Arbeitern tätig waren, auch ihnen gleich kleiden, das heißt den Bauernrock anziehen. In Rußland ist die Kluft zwischen den Bauern und Gebildeten so groß und ein gegenseitiger Verkehr so selten, daß nicht nur die Erscheinung eines städtisch gekleideten Mannes in einem Dorfe allgemeine Aufmerksamkeit erregt, sondern auch in der Stadt sofort der Argwohn der Polizei erweckt wird, wenn eine Person, die nach ihrer Sprache und Kleidung dem Arbeiterstande nicht angehört, mit Arbeitern verkehrt. »Warum sollte er sich,« heißt es sogleich, »mit ›gemeinem Volke‹ einlassen, wenn er keine schlechte Absicht hätte?« Oft genug nahm ich, wenn ich von einem Diner in einem vornehmen Hause oder auch im Winterpalast, wo ich manchmal einen Freund besuchte, kam, eine Droschke, fuhr schnell zu einem armen Studenten in einer entfernten Vorstadt, vertauschte meine feine Kleidung mit einem baumwollenen Hemd, Bauernstiefeln und Schafspelz und machte mich so, den Bauern, die ich traf, ein Scherzwort zurufend, auf den Weg zu irgendeiner Winkelkneipe, um dort meine Arbeiterfreunde zu finden. Wenn ich ihnen dann von der Arbeiterbewegung, deren Zeuge ich im Auslands gewesen war, erzählte, lauschten sie mir mit gespanntester Aufmerksamkeit und ließen sich kein Wort meiner Rede entgehen. Hierauf wurde die Frage aufgeworfen: »Was können wir in Rußland tun?« »Agitieren, organisieren!« lautete meine und meiner Freunde Antwort; »einen breiten, offenen Weg können wir freilich nicht gehen.« Wir lasen den Versammelten sodann eine volkstümlich gehaltene, nach dem Muster von Chatrians bewundernswürdiger ›Geschichte eines Bauern‹ geschriebene Darstellung der französischen Revolution vor. Alle folgten mit Bewunderung Herrn Chovel, wie er als Agitator durch die Dörfer wanderte und verbotene Bücher austeilte, und brannten vor Eifer, in seine Fußstapfen zu treten. »Redet mit anderen,« sagten wir, »bringt Leute zusammen, und wenn wir zahlreicher geworden sind, wollen wir sehen, was wir erreichen können.« Sie verstanden uns vollständig, und wir hatten nur ihren Eifer zu mäßigen.

Unter den Arbeitern verbrachte ich meine glücklichsten Stunden. Insbesondere steht mir der Neujahrstag 1874, der letzte, den ich in Rußland außerhalb der Gefängnismauern zubrachte, in schönster Erinnerung. Den Abend vorher hatte ich mich in einer ›erlesenen‹ Gesellschaft befunden. In begeisterten, edlen Worten sprach man da über die Pflichten der Bürger, das Wohl des Volkes und dergleichen. Aber durch alle diese ergreifenden Reden klang doch der eine Ton, das eine Bestreben hindurch, wie jeder von den Sprechern sein eigenes, persönliches Wohlergehen sichern könnte. Und dabei hatte nicht einer den Mut, frank und frei auszusprechen, daß er nur so weit zur Mitwirkung für das allgemeine Wohl bereit war, als nicht sein eigenes Nest dadurch in Gefahr kam. Sophismen und aber Sophismen über die langsame Entwicklung von innen heraus, über die Trägheit und Gleichgültigkeit der niederen Klassen, über die Nutzlosigkeit des Opfers und ähnliche Phrasen mußten dazu dienen, die unausgesprochenen Worte zu rechtfertigen, und dazwischen wiederholte jeder einzelne die Versicherung, er sei zu Opfern bereit. Auf einmal überkam mich inmitten all dieses Geschwätzes eine tiefe Traurigkeit, und ich ging heim.

Am nächsten Morgen besuchte ich eine von unsern Weberversammlungen, die in einem unterirdischen dunklen Raume stattfand. Ich trug Bauernkleidung und unterschied mich in nichts von den andern in Schafspelz Gehüllten. Mein Kamerad, der den Arbeitern bekannt war, führte mich einfach ein als ›Borodin, ein Freund‹. »Erzähle uns, Borodin,« sagte er, »was du im Auslande gesehen hast.« Und ich sprach von der Arbeiterbewegung in Westeuropa, den dortigen Kämpfen, den Schwierigkeiten und Hoffnungen.

Meine zumeist im mittleren Lebensalter stehenden Zuhörer zeigten das gespannteste Interesse. Die Fragen, die sie über alle Einzelheiten der Arbeiterverbindungen, über die Ziele der Internationale und ihre Aussichten auf Erfolg an mich richteten, trafen alle den Kern. Auch hier schloß sich dann wieder die Frage an, was man in Rußland tun könnte, und welchen Erfolg unsere Propaganda verspräche. Ich stellte die Gefahren unserer Agitation niemals geringer dar, als sie in Wirklichkeit waren, und gab meiner Meinung offen Ausdruck, indem ich erklärte: » Wir werden voraussichtlich heute oder morgen nach Sibirien verschickt werden, und ihr werdet wenigstens zum Teil lange Monate im Gefängnis schmachten müssen, weil ihr unsere Zuhörer gewesen seid.« Diese düsteren Aussichten schreckten sie nicht. »Ach was, in Sibirien leben auch Menschen, nicht bloß Bären.« »Wo Menschen leben, können andere auch bestehen.« »Der Teufel ist nicht so schwarz, wie er gemalt wird.« »Wer sich vor Wölfen fürchtet, darf nicht in den Wald gehen.« So und ähnlich lauteten ihre Äußerungen. Als später wirklich ein paar von ihnen verhaftet wurden, erwiesen sie sich fast alle als furchtlos, suchten uns zu decken und verrieten keinen.

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