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Peter Krapotkin

Peter Krapotkin

In Petersburg. – Erste Reise nach Westeuropa.

Erstes Kapitel.

Besuch der Petersburger Universität. – Verbesserung der Orographie und Kartographie Nordasiens. – Russische geographische Forscher jener Zeit. – Pläne zu arktischen Unternehmungen. – Glaziale Studien in Finnland. – Aufgabe der wissenschaftlichen Laufbahn aus sozialen Gründen.

 

Im Frühherbst des Jahres 1867 hatten wir, d. h. mein Bruder mit seiner Familie und ich, unsern Wohnsitz in Petersburg genommen. Ich wurde akademischer Bürger der Petersburger Universität und saß in den Hörsälen neben meist viel jüngeren Leuten als ich selbst. Was ich vor fünf Jahren so sehr ersehnt hatte, das war nun erreicht: ich konnte mich ganz dem Studium widmen. Da ich der Anschauung huldigte, eine gründliche Ausbildung in Mathematik sei die einzige zuverlässige Grundlage für alle spätere wissenschaftliche Arbeit, so schloß ich mich der mathematischen Abteilung der physikalisch-mathematischen Fakultät an. Mein Bruder trat in die Militärische Akademie für Rechtswissenschaft, während ich den Militärdienst gänzlich verließ, zum großen Mißvergnügen meines Vaters, dem schon der Anblick einer Zivilkleidung verhaßt war. Beide waren wir jetzt völlig auf uns selbst angewiesen.

Universitätsstudium und wissenschaftliches Arbeiten füllten während der nächsten fünf Jahre meine ganze Zeit aus. Natürlich hat ein Student der Mathematik sehr viel zu tun, aber meine frühere Beschäftigung mit höherer Mathematik machte es mir möglich, meine Zeit zum Teil noch der Geographie zu widmen, zumal ich in Sibirien meine Gewohnheit, angestrengt zu arbeiten, nicht verloren hatte.

Der Bericht über meine letzte Expedition war im Druck, aber inzwischen erhob sich vor mir ein gewaltiges Problem. Meine Reisen in Sibirien hatten mich davon überzeugt, daß die Gebirge, die man auf den damaligen Karten von Nordasien verzeichnet fand, zum größten Teile Phantasiegebilde seien, die nicht die geringste Vorstellung von der wirklichen Struktur des Landes gaben. Von den großen Hochebenen, die einen so hervorragenden Zug im geographischen Antlitz Asiens bilden, fehlte den Kartenzeichnern offenbar jede Ahnung. Anstatt jener Hochplateaux hatte man in den topographischen Anstalten trotz den Angaben und sogar den Skizzen von Forschern wie L. Schwartz verschiedene große Höhenrücken herausgebildet, so z. B. den des östlichen Stanowoigebirges, das auf den Karten wie ein schwarzer nach Osten kriechender Wurm aussah. In Wirklichkeit bestehen diese Bergketten nicht. Die Quellen der Flüsse, die hier zum Nördlichen Eismeer und dort zum Stillen Ozean fließen, liegen auf der Fläche einer ausgedehnten Hochebene durcheinander und entspringen oft denselben Sümpfen. Doch in der Einbildung der europäischen Topographen müssen die höchsten Gebirgszüge den Hauptwasserscheiden entlang laufen, sie hatten daher alpine Hochgebirge gezogen, wo in Wirklichkeit keine Spur davon zu finden ist. In beträchtlicher Zahl durchschnitten derartige Phantasiegebirge die Karten des nördlichen Asiens in allen Richtungen.

Die Auffindung der, der Wahrheit entsprechenden Hauptgrundlinien in der Anordnung der asiatischen Gebirge – die Harmonie der Gebirgsbildung – wurde nun eine Aufgabe, die jahrelang meine Aufmerksamkeit fesselte. Längere Zeit verwirrten mich bei meinen Forschungen die alten Karten und noch mehr die Theorien Alexanders von Humboldt, der nach langdauerndem Studium chinesischer Quellen Asien mit einem Netzwerk von Gebirgszügen längs der Meridiane und Parallelkreise bedeckt hatte, bis ich schließlich erkannte, daß auch Humboldts Ideen, mochten sie auch anregend gewirkt haben, den Tatsachen nicht entsprechen.

Dann fing ich ganz von vorn in rein induktiver Weise an, sammelte alle barometrischen Beobachtungen früherer Reisenden und berechnete danach Hunderte von Höhenpunkten. Alle geologischen und physikalischen Beobachtungen, die verschiedene Forscher gemacht hatten, das heißt die Tatsachen, nicht die Hypothesen, trug ich dann auf einer Karte in großem Maßstabe ein und suchte nun die Strukturlinien herauszufinden, die den von mir gesammelten zuverlässigen Angaben am besten entsprächen. Diese vorbereitenden Arbeiten nahmen mehr als zwei Jahre in Anspruch. Dann kamen Monate angestrengten Überlegens, um Sinn und Ordnung in das verwirrende Chaos zerstreuter Einzelbeobachtungen zu bringen, bis plötzlich mit einem Schlage das Ganze klar und verständlich vor mir lag, als hätte es ein Blitzstrahl erhellt. Die Hauptlinien der vertikalen Gliederung Asiens verlaufen nicht nordsüdlich oder westöstlich, sondern gehen außer einigen nach Nordwesten ausstrahlenden Nebenzweigen von Südwesten nach Nordosten, nehmen also eine schräge Richtung, wie sie auch in den Felsengebirgen und Hochebenen Amerikas hervortritt, nur daß diese in umgekehrter Weise von Nordwesten nach Südosten streichen. Außerdem sind die Gebirge Asiens nicht Gruppen selbständiger Bergketten wie die Alpen, sondern bilden nur das Beiwerk zu einer ungeheuren Hochebene – einem alten Kontinente, dessen Spitze nach der Behringstraße zu lag. Hohe Randgebirge sind an ihren Grenzen aufgetürmt, und im Laufe von Erdzeitaltern tauchten als Folge späterer Niederschläge Terrassen aus dem Meere auf und fügten so auf beiden Seiten an das ursprüngliche Rückgrat Asiens neue Teile.

Es gibt nicht viele Genüsse im menschlichen Leben, welche dem Glücksgefühl gleichkämen, das wir bei der plötzlichen Offenbarung einer nach langer, geduldiger Forscherarbeit unsern Geist erleuchtenden allgemeinen Wahrheit empfinden, was jahrelang so wirr, so widersinnig und unbegreiflich erschien, fügt sich sofort wunderbar in ein harmonisches Ganzes. Aus einem wilden Durcheinander von Tatsachen und durch nebelhafte Vermutungen hindurch, die, kaum entstanden, sofort wieder verworfen werden müssen, tritt ein formvolles Bild in die Erscheinung, gleich einer Alpenkette, die auf einmal in ihrer ganzen Großartigkeit aus dem sie noch eben verhüllenden Nebel hervortaucht und im Glanze der Sonnenstrahlen in all ihrer Einfachheit und Mannigfaltigkeit, all ihrer Gewaltigkeit und Schönheit vor uns liegt. Und prüft man die Richtigkeit der Theorie durch die Anwendung von Hunderten von Einzelbeobachtungen, die im Augenblick noch hoffnungslose Widersprüche zu bieten schienen, so reiht sich jede an den rechten Platz, und der Eindruck des Bildes wird hier durch das Hervortreten einer charakteristischen Umrißlinie, da durch die Gewinnung eines neuen, ungeahnten und doch bedeutungsvollen Zuges erhöht. Die Idee wächst in die Breite und Tiefe, ihre Grundlagen festen und verstärken sich, während das Auge durch den fernen Nebelschleier weitab am Horizont die Umrisse neuer und noch umfassenderer Theorien wahrnimmt.

Wer in seinem Leben einmal diese Freude des Forschers auf dem Felde der Wissenschaft erfahren hat, wird sie nimmer vergessen. Stets wird er nach ihrer Wiederholung streben, aber mit Schmerz muß ihn die Erkenntnis erfüllen, daß ein derartiges Glück nur so wenigen beschert ist, während es – in geringerem oder größerem Maßstabe – doch so viele erleben könnten, wären wissenschaftliche Methoden und Muße nicht das Vorrecht einer Handvoll Menschen.

Diese Leistung stellt nach meiner Meinung meinen Hauptbeitrag zur Wissenschaft dar. Zuerst hatte ich die Absicht, einen dickleibigen Band zu verfassen, in dem die neuen Ideen über die Gebirge und Hochebenen des nördlichen Asiens durch eine genaue Untersuchung jedes einzelnen Ländergebietes bewiesen werden sollten. Als ich aber 1873 meine nahe Verhaftung voraussah, zeichnete ich nur eine meine Ansichten veranschaulichende Karte und schrieb einen erklärenden Aufsatz dazu. Beides kam im Auftrage der Geographischen Gesellschaft und unter der Kontrolle meines Bruders zur Veröffentlichung, als ich mich schon in der Peter-Pauls-Festung befand. Petermann, der damals eine Karte von Asien herausgeben wollte und meine Vorarbeiten kannte, nahm meinen Plan in seine Darstellung auf, und in der Folge fand er bei den meisten Kartographen Annahme. Das Kartenbild Asiens, wie es seitdem aufgefaßt und wiedergegeben wird, bietet meiner Meinung nach eine Erklärung nicht nur für den physikalischen Grundriß des großen Erdteils, sondern auch für die Verteilung der Klimate, der Fauna- und Flora-Gebiete, ja sogar für seine Geschichte. Es enthüllt uns auch, wie mir bei meiner letzten amerikanischen Reise zu erkennen vergönnt war, vielfach eine auffallende Gleichförmigkeit im Bau und der geologischen Geschichte beider Festländer der nördlichen Halbkugel. Nur wenige Kartographen würden wohl jetzt noch die Quelle dieser weitgehenden Änderungen auf der Karte Asiens anzugeben vermögen; aber auf wissenschaftlichem Gebiete ist es besser, wenn neue Ideen sich Bahn brechen, ohne an einen Namen gebunden zu sein; die Irrtümer, die bei der ersten Ausstellung einer Theorie unvermeidlich sind, werden dann minder schwer ihre Berichtigung finden.

Zu gleicher Zeit war ich vielfach für die Russische Geographische Gesellschaft tätig und zwar in meiner Eigenschaft als Sekretär ihrer Sektion für physische Geographie.

Es wandte sich damals das Interesse in hohem Maße der Erforschung Turkestans und des Pamir zu. Sjewerzow war eben von einer mehrjährigen Reise zurückgekehrt. Ein großer Zoologe, ein begabter Geograph und einer der intelligentesten Menschen, die ich je getroffen habe, war er wie so viele Russen ein Feind vom Bücherschreiben. Wenn er in einer Sitzung der Gesellschaft eine mündliche Mitteilung gemacht hatte, so ließ er sich nicht dazu bringen, von der Durchsicht der Nachschrift seines Vortrages abgesehen, irgend etwas zu Papier zu bringen, so daß die unter seinem Namen veröffentlichten Abhandlungen keineswegs eine rechte Vorstellung von dem Werte seiner Beobachtungen und Theorien geben. Leider ist diese Abneigung gegen eine schriftliche Fixierung von Ergebnissen, die man durch Nachdenken oder Beobachtungen gewonnen hat, in Rußland nichts Ungewöhnliches. Die Bemerkungen, die der genannte Forscher in meiner Gegenwart über die Geographie von Turkestan, über die geographische Ausbreitung von Pflanzen und Tieren, und besonders über die Bedeutung der Kreuzungen für die Entwicklung neuer Vogelarten gemacht hat, desgleichen seine Gedanken über die Wichtigkeit wechselseitiger Unterstützung bei der Fortentwicklung einer Art – über die letzteren las ich eben ein paar Notizen in irgend einem Sitzungsbericht – trugen den Stempel der Originalität und einer das gewöhnliche Maß überragenden Begabung. Hätte ihm auch die Kraft einer entsprechend schönen und formvollendeten Darstellung in ebenso reichem Maße zu Gebote gestanden, er wäre eine der ersten Leuchten der Wissenschaft unserer Zeit.

Zu derselben Klasse, das heißt zu den Männern, die weit mehr zu sagen hatten, als wir von ihnen gedruckt zu lesen bekommen, gehörte Miklucho Maklay, der in seinem späteren Leben Australien zu seinem Adoptivvaterlande erwählte und dort sich auch einen Namen erworben hat. Er war ein kleiner nervöser Mann und beständig von Malariaanfällen heimgesucht. Als ich seine Bekanntschaft machte, war er eben von den Küsten des Roten Meeres zurückgekehrt. Ein Schüler Häckels, hatte er sich viel mit den Lebensbedingungen der wirbellosen Meerestiere beschäftigt. Auf Veranlassung der Geographischen Gesellschaft konnte er sodann an Bord eines russischen Kriegsschiffes einen noch unbekannten Teil der Küste von Neu-Guinea aufsuchen, wo er sich dem Studium der auf niedrigster Stufe stehenden Eingeborenen widmen wollte. Mit einem einzigen Matrosen ließ man ihn auf dem unwirtlichen Gestade, dessen Bewohner für Kannibalen galten, zurück. In einer neuerrichteten Hütte wohnten die beiden Robinsone achtzehn Monate oder länger dicht neben einem Eingeborenendorfe und standen mit ihren Nachbarn auf vorzüglichem Fuße. Immer aufrichtig und offen gegen sie zu verfahren, sie nie, auch bei ganz gleichgültigen Sachen und wäre es selbst für wissenschaftliche Zwecke, zu täuschen, bildete die Richtschnur seines sittlichen Verhaltens. Seine peinliche Gewissenhaftigkeit in dieser Beziehung ergibt sich aus folgendem Begebnis. Als er einige Zeit nachher die Malaiische Halbinsel bereiste, begleitete ihn ein Eingeborener, der unter der ausdrücklichen Bedingung in seine Dienste getreten war, daß er niemals photographiert würde. Bekanntlich wähnen die unzivilisierten Völker, es würde ihnen mit ihrem Bilde etwas von ihrer Person weggenommen. Wie Maklay, der anthropologisches Material sammelte, selbst bekennt, fühlte er sich einmal, als sein Begleiter fest schlief, stark versucht, ihn zu photographieren, und die Versuchung war um so größer, als der Malaie für einen typischen Vertreter seines Stammes gelten konnte und niemals erfahren haben würde, daß er photographiert worden sei. Aber Maklay gedachte seines Versprechens und brach dieses weder damals noch je bei späterer Gelegenheit. Als er Neu-Guinea verließ, mußte er den Eingeborenen versprechen, zurückzukommen; und er hielt auch einige Jahre später, obwohl er ernstlich krank war, Wort und kam wieder. Aber dieser seltene Mann hat die von ihm gemachten wahrhaft unschätzbaren Beobachtungen nur zu einem ganz verschwindenden Teile bekannt gegeben.

Dagegen war Fedtschenko, der in Turkestan ausgedehnte Reisen und zoologische Beobachtungen gemacht hatte, wobei ihm seine ebenfalls als Naturforscherin bekannte Frau, Olga Fedtschenko, zur Seite stand, wie wir es auszudrücken pflegten, ein Westeuropäer, d. h. er verwandte viel Mühe darauf, die Ergebnisse seiner Forschungen in vollendeter Form darzubieten. Leider kam er aber bei der Ersteigung eines Schweizer Berges ums Leben. Da er im turkestanischen Gebirgslande viel gereist war, unternahm er, voll glühenden Jugendeifers und im Vertrauen auf seine eigene Kraft, einen Aufstieg ohne geeigneten Führer und fand bei einem Schneesturm seinen Tod. Glücklicherweise vollendete seine Frau noch die Herausgabe seiner ›Reisen‹, und, soviel ich weiß, setzt jetzt ein Sohn von ihm das Werk seines Vaters fort.

Außerdem kam ich damals oft zusammen mit Prschewalsky oder besser Przewalski, wie sein polnischer Name zu schreiben ist, wenn er selbst es auch liebte, als ›russischer Patriot‹ aufzutreten. Er war ein leidenschaftlicher Jäger, und wenn er sich mit solcher Begeisterung an die Erforschung Zentralasiens machte, so war dies wohl fast ebensosehr eine Folge seiner Neigung, allem möglichen edlen Wilde – Reh und Hirsch, wilden Kamelen und schwer zu erjagenden wilden Pferden und so weiter – nachzustellen, wie seines Wunsches, neue und schwer zugängliche Länder zu entdecken. Brachte man ihn auf seine Reise zu sprechen, so unterbrach er seine anspruchslose Beschreibung bald mit begeisterten Ausrufen wie »Aber was für Wild da! Was für eine Jagd! …« und schilderte nun in enthusiastischer Weise, wie er so und so weit gekrochen sei, um sich bis auf Schußweite an ein wildes Pferd heranzubirschen. Kaum war er wieder in Petersburg, so plante er eine neue Forschungsreise, legte zu diesem Zwecke alles Geld, das er nur konnte, zurück und suchte seine Mittel noch durch Börsenspekulationen zu vermehren. Mit seinem kraftvollen Körper und seiner Fähigkeit, das entbehrungsreiche Leben eines Bergjägers zu führen, war er das Muster eines Forschungsreisenden. Ja, gerade ein solches Leben voll Mühsal entsprach seinem Geschmack. Auf seiner ersten Reise, die er nur mit drei Begleitern unternahm, kam er mit den Eingeborenen immer sehr gut aus. Da aber die folgenden Expeditionen mehr einen militärischen Charakter trugen, verließ er sich leider von nun an auf die rohe Gewalt seiner bewaffneten Begleitmannschaft, anstatt sich eines gütlichen Einvernehmens mit den Landesbewohnern zu befleißigen, und so hörte ich denn von wohlunterrichteter Seite, daß er von seiner tibetanischen Expedition schwerlich lebend heimgekommen wäre, hätte ihn nicht schon zufällig der Tod gerade vor dem Antritt derselben hinweggerafft. Bekanntlich führten nachher seine Begleiter, Pjewzow, Roborowsky und Koslow, das Unternehmen in so bewunderungswürdiger und friedlicher Weise aus.

 

Es herrschte damals in der Geographischen Gesellschaft eine große Rührigkeit, und zahlreiche geographische Fragen nahmen das lebhafte Interesse unserer Sektion und natürlich auch das ihres Sekretärs in Anspruch. Meist waren sie zu sehr technischer Natur, als daß sie hier Erwähnung finden könnten, aber ich muß wenigstens in Kürze darauf hinweisen, wie damals das Interesse an Ansiedlungen wie an Schiffahrt, Fischfang und Handelsbetrieb im russischen Teile des Nördlichen Eismeers lebendig wurde. Zunächst war es ein russischer Kaufmann und Goldminenbesitzer, Sidorow, der sich unausgesetzt die größte Mühe gab, die allgemeine Aufmerksamkeit hierauf zu lenken.

Seinem vorausschauenden Blicke entging es nicht, einer wie gewaltigen Entwicklung die russische Schiffahrt und Fischerei fähig wären, wenn man nur ein wenig durch Gründung von Schiffahrtsschulen, Erforschung der Murmanskischen Küste, des Weißen Meeres und so weiter nachhelfen wollte. Aber leider konnte dieses Wenige nur auf dem Umweg über Petersburg ins Leben treten, und die maßgebenden Kreise dieser höfischen, bureaukratischen, literarischen, künstlerischen und kosmopolitischen Interessen dienenden Stadt konnten sich für solche ›provinzialen‹ Ziele nicht erwärmen. Man lachte einfach über die Bestrebungen des armen Sidorow. Erst vom Auslande mußte etwas geschehen, bis die Russische Geographische Gesellschaft sich für unsern fernen Norden interessierte.

In den Jahren 1869 bis 1871 hatten die kühnen norwegischen Seehundsjäger zu großer allgemeiner Überraschung das Karische Meer der Schiffahrt eröffnet, wir waren höchst erstaunt, als wir eines Tages in der Gesellschaft erfuhren, verschiedene kleine norwegische Schoner wären in jenen Meeresteil zwischen Nowaja Semlja und der sibirischen Küste eingedrungen, den wir in unsern Büchern ohne jedes Bedenken als ›einen ewigen Eiskeller‹ zu bezeichnen pflegten, und hätten ihn in allen Richtungen befahren; ja, sogar die Stelle, wo der berühmte Holländer Barentz überwintert hatte, die nach unserer Meinung Jahrhunderte alte Eisfelder für immer dem menschlichen Zutritt verschlossen, war von diesen unerschrockenen Norwegern besucht worden.

›Ausnahmsweise milde Sommer und ungewöhnlicher Eisstand‹ lautete das Urteil unserer älteren Seefahrer. Aber für einige wenige von uns bestand kein Zweifel, daß die kühnen eisgewohnten norwegischen Jäger mit ihren kleinen Schonern und ihrer schwachen Mannschaft das Treibeis, das gewöhnlich den Zugang zum Karischen Meere versperrt, furchtlos durchbrochen hatten, während die Kapitäne von Kriegsschiffen im Gefühl ihrer dienstlichen Verantwortung vor diesem Wagnis immer zurückgescheut waren.

Diese Entdeckungen erweckten ein allgemeines Interesse für die arktische Forschung. In der Tat ging von jenen Seehundsjägern der Anstoß zu der neuen Begeisterung für arktische Unternehmungen aus, die schließlich zu Nordenskjölds Umsegelung Asiens, zu der dauernden Einrichtung der nordöstlichen Schiffsverbindung mit Sibirien, zu Pearys Entdeckung von Nordgrönland und zu Nansens ›Fram‹-Fahrt führte. Auch die Russische Geographische Gesellschaft fing an sich zu regen, und es wurde ein Ausschuß ernannt, der den Plan einer russischen arktischen Expedition vorbereiten und die von ihr zu lösenden wissenschaftlichen Aufgaben entwerfen sollte. Spezialisten übernahmen die Abfassung der einzelnen Teile dieses Berichtes; wie es aber oft zu gehen pflegt, nur wenige Kapitel – Botanik, Geologie und Meteorologie – waren zu rechter Zeit fertig, und ich, als Sekretär des Ausschusses, hatte das übrige zu schreiben. Manche Gegenstände, wie die Meeresfauna, Ebbe und Flut, Pendelbeobachtungen und Erdmagnetismus, waren für mich völlig neu. Doch was ein gesunder Mensch bei äußerster Anstrengung seiner Kräfte und bei klarer Erkenntnis und Auffassung der Aufgaben unter Beiseitelassung alles Unwesentlichen fertig bringen kann, sollte man kaum glauben – jedenfalls war mein Bericht zur rechten Zeit vollendet. Ich befürwortete darin die Aussendung einer großen arktischen Expedition, die in Rußland ein dauerndes Interesse an arktischen Fragen und arktischer Schiffahrt hervorrufen würde, fürs erste sollte aber nur eine kleinere Expedition zu Rekognoszierungszwecken abgehen und an Bord eines norwegischen Schoners in nördlicher oder nordöstlicher Richtung von Nowaja Semlja einen Vorstoß machen. Ihr wurde auch das Ziel gesteckt, ein unbekanntes nicht gar weit von Nowaja Semlja vermutetes Land zu erreichen oder wenigstens in Sicht zu bekommen. Auf die Wahrscheinlichkeit, daß ein solches Land existiere, hatte ein russischer Marineoffizier, Baron Schilling, in einer ausgezeichneten, aber wenig bekannten Abhandlung über die Strömungen im Nördlichen Eismeere hingewiesen. Als ich diesen Aufsatz sowie Lütkes ›Reise nach Nowaja Semlja‹ gelesen und mich mit den allgemeinen Verhältnissen dieses Teiles des Nördlichen Eismeeres vertraut gemacht hatte, erkannte ich sofort, daß die Annahme zutreffend sein müßte. Jedenfalls lag ein Land nordwestlich von Nowaja Semlja und erstreckte sich bis zu höherer Breite als Spitzbergen. Die Tatsache, daß das Treibeis im Westen von Nowaja Semlja beständig dieselbe Lage behält, der Schutt und die Steine darauf und verschiedene andere Anzeichen von minderer Bedeutung verstärkten die Hypothese. Auch würde, wie Baron Schilling richtig bemerkt hat, der Eisstrom, der vom Meridian der Behringstraße westlich nach Grönland fließt (es war dies die Strömung, in der die Fram trieb), falls das vermutete Land dort nicht lag, das Nordkap erreichen und die Küste Lapplands mit Eis bedecken, geradeso wie es jetzt mit dem nördlichen Gestade Grönlands geschieht. Die warme Strömung, die als schwache Fortsetzung des Golfstromes dorthin gelangt, hätte nicht allein die Anhäufung von Eis an den Nordküsten Europas verhindern können. Bekanntlich wurde dieses Land ein paar Jahre später von der österreichischen Nordpolexpedition entdeckt und Franz-Josephs-Land genannt.

Der Bericht über die arktischen Unternehmungen hatte insofern ganz unerwartete Folgen für mich, als man mir die Führerschaft der Rekognoszierungsexpedition an Bord eines norwegischen Schoners anbot. Natürlich erwiderte ich, ich wäre noch nie zur See gewesen. Man sagte mir aber, gerade durch die vereinte Wirkung der Erfahrung eines Carlsen oder Johansen und der Initiative eines Gelehrten erhoffe man etwas Wertvolles. Ich würde dann auch zugesagt haben, hätte nicht das Finanzministerium, als die Angelegenheit so weit gediehen war, sein Veto eingelegt. Es erklärte, der Staatsschatz könne die sechzig- bis achtzigtausend Mark, welche die Expedition kosten würde, nicht tragen. Seitdem hat Rußland die Erforschung des Nördlichen Eismeers bis vor kurzem nicht wieder aufgenommen. Das Land, das uns aus der subpolaren Dämmerung heraus entgegenwinkte, wurde von Payer und Weiprecht entdeckt, und die Inselgruppen, die nordöstlich von Nowaja Semlja liegen müssen – ich bin jetzt noch fester davon überzeugt als damals – sind unentdeckt geblieben.

Anstatt an einer arktischen Expedition teilzunehmen, wurde ich von der Geographischen Gesellschaft beauftragt, zur Untersuchung der glazialen Ablagerungen eine bescheidene Forschungsreise nach Finnland und Schweden zu unternehmen, auf der ich dann in ein ganz anderes Fahrwasser hineingetrieben wurde.

Die Russische Akademie der Wissenschaften sandte in jenem Sommer zwei ihrer Mitglieder, General Helmersen, einen alten Geologen, und den unermüdlichen sibirischen Forscher Friedrich Schmidt, zum Studium des Aufbaus jener langen Geschiebe aus, die in Schweden und Finnland als ›asar‹ und auf den britischen Inseln als ›esker‹, ›kames‹ u. s. w. bekannt sind. Zu dem gleichen Zwecke schickte mich die Geographische Gesellschaft nach Finnland. Wir besuchten alle drei den schönen Höhenrücken von Pungahardju und trennten uns dann. Den ganzen Sommer arbeitete ich angestrengt. Nach zahlreichen Reisen in Finnland ging ich nach Schweden hinüber, wo ich in Gesellschaft A. Nordenskjölds viele angenehmen Stunden verlebte. Schon damals (1871) erwähnte er mir gegenüber seinen Plan, auf dem Wege nach Nordosten die Mündungen der sibirischen Flüsse und selbst die Behringstraße zu erreichen. Darauf kehrte ich nach Finnland zurück, wo ich meine Forschungen bis spät in den Herbst hinein fortsetzte und eine Menge sehr interessanter Beobachtungen über die Vergletscherung des Landes machte. Aber ich hing auch während dieser Reise vielfach meinen Gedanken über soziale Verhältnisse nach, und diese Gedanken übten einen entscheidenden Einfluß auf meine spätere Entwicklung aus.

Mannigfaltiges und wertvolles Material zur Geographie Rußlands ging mir in der Geographischen Gesellschaft durch die Hände, und so kam mir nach und nach der Gedanke, eine erschöpfende physische Geographie dieses gewaltigen Teiles der Erdkugel zu schreiben. Ich beabsichtigte, eine gründliche geographische Schilderung des Landes auf Grund der Hauptlinien seiner Oberflächenbeschaffenheit, die sich mir für das europäische Rußland in klarem Bilde darzustellen begannen, zu bieten und in dieser Beschreibung die verschiedenen Formen des wirtschaftlichen Lebens zu entwerfen, die in den einzelnen Gegenden ihrer physischen Beschaffenheit nach vorherrschen sollten. Beispielsweise werden die ausgedehnten südrussischen Steppen so oft von Dürren und Mißernten heimgesucht. Diese Dürren und Mißernten darf man aber nicht als zufällige Notstände ansehen, sie gehören ebensogut zu den natürlichen Eigenheiten jener Gegend wie ihre südliche Lage, ihre Fruchtbarkeit und alles andere; es müßte daher bei der wirtschaftlichen Organisation der südlichen Steppengegend der unvermeidlichen Wiederkehr von Perioden der Dürre Rechnung getragen werden. Jede Gegend des russischen Reiches sollte in der gleichen wissenschaftlichen Weise behandelt werden, wie es Karl Ritter in seinen schönen Monographien mit verschiedenen Teilen Asiens tat.

Ein solches Werk hätte aber zur Voraussetzung gehabt, daß der Verfasser über viel Zeit und volle Freiheit verfügte, und gar oft war mir daher in jener Zeit, als mich diese Pläne noch vornehmlich beschäftigten, der Gedanke gekommen, wie förderlich es für meinen Zweck sein würde, könnte ich eines Tages die Stellung des Sekretärs der Geographischen Gesellschaft (bisher war ich es nur für eine ihrer Untersektionen) einnehmen. Während ich nun im Herbst 1871 in Finnland an der Arbeit war und langsam zu Fuß an der neugebauten Eisenbahn entlang der Seeküste zuwanderte, um die Stelle zu bestimmen, wo sich die ersten unverkennbaren Spuren der früheren Ausdehnung des postglazialen Meeres zeigen würden, erhielt ich ein Telegramm der Geographischen Gesellschaft: »Der Vorstand ersucht Sie, die Stellung des Sekretärs der Gesellschaft anzunehmen.« Zugleich drang der abtretende Sekretär in mich, ich sollte das Anerbieten annehmen.

Meine früheren Hoffnungen waren damit erfüllt. Aber inzwischen hatten sich meine Gedanken und Wünsche auf ein anderes Ziel gerichtet. Nach ernstlicher Erwägung drahtete ich zurück: »Herzlichsten Dank, aber kann nicht annehmen.«

 

Nicht selten spielen die Menschen in Staat, Gesellschaft oder Familie nicht die für sie passende Rolle, nur weil sie niemals Zeit haben, sich die Frage vorzulegen, ob die Stellung, die sie einnehmen, und die Arbeit, die sie tun, auch für sie die richtigen sind, ob, was sie vollbringen, in Wahrheit ihren inneren Wünschen und Fähigkeiten entspricht und ihnen die Befriedigung gewährt, die jeder mit Recht von seiner Tätigkeit erwarten darf. Tätige Männer werden sich besonders leicht in dieser Lage befinden. Jeder Tag bringt einen frischen Pack Arbeit mit sich, und man streckt sich spät abends auf sein Lager, ohne das, was man erwartete, vollendet zu haben; am nächsten Morgen stürzt man sich dann auf die unfertige Aufgabe des vorhergehenden Tages. Das Leben geht dahin, und es bleibt keine Zeit zum Nachdenken übrig, keine Zeit zum Überlegen, welchem Zwecke dieses Leben dient. So war's auch bei mir.

Jetzt aber, während meiner Reise in Finnland, hatte ich endlich Muße dazu. Wenn ich in einer zweiräderigen finnischen Karria über eine Ebene fuhr, die für den Geologen nichts Interessantes bot, oder wenn ich mit dem Hammer über der Schulter von einem Kiesloch zum andern wanderte, fand ich Zeit zum Nachdenken, und mitten in meiner an sich sehr interessanten geologischen Beschäftigung hing ich beständig einem Gedanken nach, der mein innerstes Selbst ganz anders ergriff als die Geologie.

Ich sah, welche ungeheure Arbeit der finnische Bauer bei der Rodung des Landes und der Bestellung des harten Lehmbodens vollbrachte, und sagte zu mir: »Nun gut, ich will, um ihm zu helfen, etwa die physische Geographie dieses Teiles von Rußland schreiben und ihm dabei die besten Mittel zur Bebauung dieses Bodens angeben. Hier würde ein amerikanischer Wurzelauszieher von großem Nutzen sein, dort wäre nach den Lehren der Wissenschaft eine bestimmte Düngungsmethode angezeigt … Was nützt es aber, zu diesem Bauer von amerikanischen Maschinen zu reden, wenn er kaum Brot genug hat, sein Leben von einer Ernte zur andern zu fristen, wenn die Rente, die er für die harten Lehmschollen zu zahlen hat, im selben Maße, wie der Boden durch seine Bemühungen besser wird, steigt? Er beißt sich an seinem steinharten Roggenmehlfladen, den er zweimal im Jahre bäckt, die Zähne aus; er begnügt sich dazu mit einem Bissen schrecklich gesalzenen Stockfisches und einem Trunk magerer Milch, wie kann ich zu ihm von amerikanischen Maschinen reden, wenn er seine ganze Feldfrucht zur Bezahlung seiner Rente und seiner Steuern verkaufen muß? Bei ihm bleiben muß ich, daß ich ihm helfe, vor allem dazu, der Eigentümer oder freie Inhaber dieses Landes zu werden. Dann wird er vom Bücherlesen Nutzen haben, jetzt aber nicht.«

Und meine Gedanken wanderten weiter von Finnland zu unsern Bauern in Nikolskoje, die ich vor kurzem gesehen hatte. Sie sind jetzt frei und schätzen ihre Freiheit sehr hoch, dachte ich. Aber sie haben keine Wiesen. Auf die eine oder andere Weise haben es die Grundherren einzurichten verstanden, daß sie fast alle Wiesen besitzen. In meiner Kindheit hatten Sawochins abends sechs Pferde auf die Weide zu schicken, und Tolkatschows sieben, jetzt haben diese Familien nur noch je drei Pferde, und andere Familien, die früher drei hatten, halten jetzt eins oder keines. Wozu ist aber ein einziges erbärmliches Pferd nütze? Keine Wiesen, keine Pferde, kein Dünger! wie kann ich ihnen Anweisungen über die Aussaat von Gras geben? Sie sind schon ruiniert – so arm wie Lazarus – und in ein paar Jahren werden sie infolge einer verkehrten Besteuerung noch ärmer sein. Wie glücklich machte sie meine Mitteilung, mein Vater erlaube ihnen, das Gras auf den kleinen Lichtungen in seinem Kostinoer Walde zu mähen! »Eure Nikolskojer Bauern sind ganz wild nach Arbeit,« heißt es von ihnen in unserer Nachbarschaft ganz allgemein; aber das pflügbare Land, das meine Stiefmutter auf Grund des ›Minimumgesetzes‹, jener teuflischen von den Herren bei der Revision des Befreiungsgesetzes durchgesetzten Klausel, von ihren Losen weggenommen hatte, ist nun ein Wald von Disteln, und die ›arbeitswilden‹ Bauern dürfen es nicht bestellen. Und das gleiche gilt für ganz Rußland. Schon damals war es offenbar, sogar kaiserliche Beamte wiesen darauf hin, daß die erste ernstliche Mißernte in Mittelrußland eine fürchterliche Hungersnot nach sich ziehen würde, und die Hungersnot kam 1876, sie kam 1884, sie kam 1891, dann wieder 1895 und noch einmal 1898.

Die Wissenschaft ist etwas Herrliches. Ich kannte und schätzte ihre Freude vielleicht mehr als viele von meinen Kollegen. Auch jetzt stiegen neue und schöne Theorien vor meinem geistigen Auge auf, während ich auf die Seen und Hügel Finnlands schaute. Ich sah, wie sich in ferner Vergangenheit, sozusagen in der ersten Dämmerungszeit der Menschheit, das Eis in den nördlichen Inselgruppen über Skandinavien und Finnland anhäufte. Eine gewaltige Vereisung nahm das ganze nördliche Europa ein und dehnte sich allmählich bis zur Mitte des Erdteils aus. Das Leben verkümmerte in diesem Teile der nördlichen Halbkugel, und seine ärmlichen, schwer bedrohten Reste flohen vor dem eisigen Hauche jener ungeheuren Eismassen immer weiter nach Süden. Elend, schwach und ohne Kenntnisse, war der Mensch nur mit Mühe imstande, sein unsicheres Dasein zu behaupten. Unendliche Zeit verging, bis das Eis zu schmelzen anfing, und damit kam die Seenperiode, in der sich zahllose Seen in den Aushöhlungen bildeten, und ein dürftiger subpolarer Pflanzenwuchs sich zaghaft der unergründlichen, um die Seen sich erstreckenden Sümpfe zu bemächtigen begann, wieder verfloß ein unendlicher Zeitraum, ehe ein nur ganz allmählich vor sich gehender Austrocknungsprozeß eintrat und vom Süden her langsam die Vegetation vordrang. Und jetzt befinden wir uns mitten in der Periode schneller Ausdörrung und der Entstehung trockener Prärien und Steppen, wo dem Menschen die Aufgabe erwächst, Mittel zur Fernhaltung jener Austrocknung zu finden, der Zentralasien schon zum Opfer gefallen ist und die zur Zeit Südeuropa bedroht.

An eine bis nach Mitteleuropa reichende Vergletscherung zu glauben, galt damals als eitel Ketzerei; aber vor meinen Augen erstand ein großartiges Gemälde, und ich wollte es samt den Tausenden von Einzelzügen, die ich darin wahrnahm, zeichnen, es als Schlüssel zur Erklärung der jetzigen Verbreitung der Pflanzen- und Tierwelt benutzen und neue Gesichtskreise für die Geologie und physische Geographie eröffnen.

Aber welches Anrecht hatte ich auf diese höheren Freuden, wenn ich um mich herum nur Elend sah und den Kampf um ein schimmeliges Stück Brot, wenn alles, was ich ausgab, um in jener erhabeneren, geistigen Welt weilen zu können, notwendigerweise denen vor dem Munde weggenommen werden mußte, die den Weizen bauten und kein Brot für ihre Kinder hatten? Irgend jemand muß dafür darben, da die Gesamtproduktion der menschlichen Gesellschaft noch so gering ist.

Das Wissen ist eine gewaltige Macht. Der Mensch muß sich Kenntnisse erwerben. Aber wir besitzen schon viele Kenntnisse. Wie wäre es, wenn diese Kenntnisse – und nur diese – ein Eigentum aller würden? Würde nicht die Wissenschaft selbst sich dann sprungweise entwickeln und die Menschheit in den Stand setzen, in Produktion, Erfindung und sozialen Schöpfungen in einem Tempo Fortschritte zu machen, für das uns jetzt eigentlich jedes Maß fehlt?

Die Massen sind es, die des Wissens bedürfen, sie wollen lernen, sie können auch lernen. Dort steht ein finnischer Bauer am Rande einer ungeheuren Moräne, die von einem See zum andern reicht, als hätten Riesenhände sie als verbindende Straße zwischen den beiden Gestaden eiligst aufgebaut, dort steht er und schaut gedankenvoll auf die schönen inselbesetzten Seen, die zu seinen Füßen liegen. Kein einziger von diesen Bauern, mag er auch noch so arm und zertreten sein, wird an dieser Stelle vorübergehen, ohne die Landschaft voll Bewunderung zu betrachten. Und dort am Seegestade steht ein anderer und singt ein schönes Lied nach einer so gefühlvollen und ergreifenden Melodie, daß sie den Neid des besten Musikers erregen würde. Beiden ist tiefe Empfindung, beiden Überlegung und Denkkraft eigen; sie sind bereit, ihr Wissen zu erweitern; biete es ihnen nur! Schaff ihnen nur die Mittel zur Muße! In dieser Richtung und für diese Leute muß ich tätig sein! Alle diese tönenden Redensarten vom Wirken für den Fortschritt der Menschheit, während die Fortschrittsbeförderer sich fern von denen halten, die sie angeblich vorwärtsbringen, sind nichts als Sophismen, die nur das Bewußtsein eines peinigenden Widersinns beseitigen sollen.

Und ich sandte an die Geographische Gesellschaft eine ablehnende Antwort.

*


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