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In der Festung. – Flucht.

Neuntes Kapitel.

Die Peter-Pauls-Festung. – Meine Zelle. – Gymnastische Uebungen. – Mein Bruder Alexander eilt zu meinem Beistand herbei. – Erlaubnis zum Schreiben. – Meine Lektüre. – Eintönigkeit des Gefängnislebens. – Verhaftung meines Bruders. – Geheimer Verkehr mit den Mitgefangenen. – Ein Besuch des Großfürsten Nikolaus.

 

Das war also die schreckliche Festung, hinter deren Mauern in den letzten zwei Jahrhunderten so viel von Rußlands wahrer Kraft zu Grunde gegangen ist, und deren bloßen Namen man in Petersburg nur mit bebender Stimme aussprach.

Hier folterte Peter I. seinen Sohn Alexis und tötete ihn mit eigener Hand; hier sperrte man die Fürstin Tarakanowa in eine Zelle, die sich bei Eintritt einer Überschwemmung mit Wasser füllte, so daß die Ratten, um sich vorm Tode des Ertrinkens zu retten, an ihr emporkrochen; hier folterte der fürchterliche Münnich seine Feinde und ließ Katharina II. diejenigen lebendig begraben, die sich der Ermordung ihres Gatten widersetzten. Von den Zeiten Peters I. ist so die Geschichte dieser Steinmasse, die im Angesichte des Winterpalastes vom Spiegel der Newa emporsteigt, einhundertsiebzig Jahre hindurch eine Geschichte des Mordes und der Folterung gewesen, oder sie erzählte von Lebendigbegrabenen, die zu langsamem Tode verurteilt waren oder in der Öde ihrer dunklen und feuchten Verliese zum Wahnsinn getrieben wurden.

Hier begann das Märtyrertum der Dezembristen, die zuerst in Rußland die Republik und die Aufhebung der Leibeigenschaft auf ihr Banner schrieben, und man kann vielleicht noch heute Spuren von ihnen in der russischen Bastille finden. Hier wurden die Dichter Rylejew und Schewtschenko, Dostojewsky, Bakunin, Tschernischewsky, Pisarew und so viele andere von den besten Schriftstellern unserer Zeit eingekerkert. Hier wurde Karakosow gefoltert und gehenkt.

Hier war auch in irgendeinem Winkel des Alexis-Wallschilds das Gefängnis Netschajews, den die Schweiz an Rußland wegen eines gemeinen Verbrechens ausgeliefert hatte, der aber als gefährlicher Staatsgefangener behandelt wurde und nie wieder das Licht erblickte. Dasselbe Wallschild barg in sich auch zwei oder drei Männer, die Alexander II., wie das Gerücht ging, zu lebenslänglichem Kerker verdammte, weil sie von irgendeinem Palastgeheimnis wußten, das andere nicht wissen dürfen. Der eine von ihnen wurde im Schmucke seines langen grauen Bartes erst kürzlich von einem meiner Bekannten in der geheimnisreichen Festung gesehen.

Alle diese Schatten beschwor meine Einbildungskraft herauf, vor allem hafteten meine Gedanken aber an Bakunin, der nach 1848 zwei Jahre lang in einem österreichischen Gefängnis, an die Mauer gekettet, zubrachte und dann, an Nikolaus I. ausgeliefert, noch sechs Jahre in der Peter-Pauls-Festung schmachten mußte. Als er hierauf durch den Tod des eisernen Zaren aus achtjähriger Kerkerhaft erlöst wurde, kam er frischer und lebenskräftiger heraus, als seine in der Freiheit verbliebenen Kameraden waren. »Er hat es ausgehalten,« sagte ich zu mir, »und das muß ich auch; ich will hier nicht erliegen!«

 

Meine erste Bewegung war nach dem Fenster gerichtet, das so hoch lag, daß ich es kaum mit meiner ausgestreckten Hand erreichen konnte. Es war eine lange, niedrige in der fünf Fuß dicken Mauer gelassene Öffnung, die von einem eisernen Gitter und einem doppelten eisernen Fensterkreuz verwahrt wurde. In einer Entfernung von zwölf Metern von dem Fenster sah ich die ungeheuer dicke äußere Festungsmauer, auf deren Spitze sich ein graues Schilderhaus unterscheiden ließ. Nur wenn ich aufwärts blickte, vermochte ich ein Stückchen Himmel ins Auge zu fassen.

Ich untersuchte den Raum, in dem ich nun, wer weiß wie viele Jahre verbringen sollte, auf das genaueste. Aus der Lage der hohen Esse der Ersten Münze konnte ich vermuten, daß ich mich in der südwestlichen Ecke der Festung, in einer nach der Newa schauenden Bastion befand. Doch war das Gebäude, in dem mein Kerker lag, nicht die Bastion selbst, sondern, was man in der Befestigungslehre einen Rückzugsturm nennt, das heißt ein inneres zweistöckiges und fünfeckiges Mauerwerk, das die Bastionsmauern ein wenig überragt und zur Aufnahme von zwei Reihen von Kanonen bestimmt ist. Mein Zimmer war eigentlich die Kasematte für eine mächtige Kanone und das Fenster die dazu gehörige Stückpforte. Die Strahlen der Sonne konnten niemals hereindringen und verloren sich selbst im Sommer in den dicken Mauern. Ausgestattet war das Zimmer mit einem eisernen Bett, einem kleinen eichenen Tisch und einem eichenen Schemel. Der Boden war mit gelber Ölfarbe angestrichen und die Wände mit gelbem Papier bekleidet. Doch hatte man, um den Schall zu ersticken, das Papier nicht unmittelbar auf der Mauer angebracht; es war auf Leinwand geklebt, und hinter dieser entdeckte ich ein Drahtgitter, das wieder über einer Filzlage ruhte; erst dahinter konnte ich die Steinmauer erreichen. Auf der nach innen liegenden Seite des Gelasses befand sich ein Waschtisch und eine dicke Tür von Eichenholz, in der ich eine zum Hereinreichen der Nahrung bestimmte Öffnung bemerkte, sowie einen schmalen, mit einer Glasscheibe und außen mit einem Schieber versehenen Spalt: das war der ›Judas‹, durch den man den Gefangenen jeden Augenblick ausspähen konnte. Die Schildwache, die draußen im Gange stand, zog den Schieber häufig auf und schaute herein; man hörte es am Knarren der Stiefel, wenn sie zur Tür schlich. Ich wollte zu ihr sprechen; da nahm das Auge, das ich durch den Türschlitz sehen konnte, einen Ausdruck des Schreckens an, und der Schieber wurde sofort heruntergelassen, doch nur, um nach ein oder zwei Minuten wieder verstohlen geöffnet zu werden; aber ein Wort der Erwiderung konnte ich von der Schildwache nicht erhalten.

Völliges Schweigen herrschte ringsum. Ich zog meinen Schemel zum Fenster und schaute auf das kleine Stück Himmel, das sichtbar war; ich lauschte auf irgend einen Ton von der Newa oder von der jenseits liegenden Stadt her, aber es war vergeblich, von dieser Totenstille fühlte ich mich bald bedrückt und versuchte zu singen, erst leise und dann lauter und immer lauter.

›Muß ich, Liebe, dich auf immer lassen‹ sang ich aus meiner Lieblingsoper, Glinkas ›Ruslan und Ludmila‹.

»Herr, bitte, singen Sie nicht,« ließ sich eine tiefe Stimme durch die größere Türöffnung vernehmen.«

»Ich will singen und werde es auch.«

»Sie dürfen nicht.«

»Ich will trotzdem singen.«

Dann kam der ›Oberst‹, dem die politischen Gefangenen anvertraut waren, und suchte mir vorzustellen, daß ich nicht singen sollte; man müßte es dem Festungskommandanten melden, und was er noch alles vorbrachte.

»Aber meine Luftröhre wird sich verstopfen und meine Lunge veröden, wenn ich nicht sprechen und nicht singen darf,« warf ich ein.

»Sie sollten lieber leise singen, mehr nur für sich,« sagte der alte Oberst fast in bittendem Tone.

Doch es war alles umsonst. Nach ein paar Tagen hatte ich jede Lust zu singen verloren. Ich wollte es aus Grundsatz tun, es half aber nichts.

»Die Hauptsache ist,« sagte ich zu mir, »daß mein Körper kräftig bleibt. Ich will nicht krank werden. Stelle ich mir vor, ich müßte auf einer arktischen Expedition ein paar Jahre in einer Hütte im fernen Norden weilen! Ich will mich fleißig üben, praktische Gymnastik treiben und mich von meiner Umgebung nicht überwältigen lassen, von einer Zimmerecke zur andern sind schon zehn Schritte. Mache ich die einhundertfünfzigmal, so bin ich schon eine Werst (etwa tausend Meter) gegangen.« Ich beschloß, jeden Tag sieben Werst – etwa sieben Kilometer oder eine Meile – zurückzulegen: zwei am Morgen, zwei vor Tisch, zwei nach Tisch und eine vorm Schlafengehen, »Wenn ich zehn Zigaretten auf den Tisch lege und jedesmal, wenn ich vorbeikomme, eine umdrehe, so werde ich leicht die dreihundert Male, die ich auf und ab gehen muß, zählen. Ich muß schnell ausschreiten, aber, um nicht schwindlich zu werden, mich langsam umwenden und mich dabei immer nach einer anderen Seite drehen. Sodann will ich täglich zweimal mit einem schweren Schemel Freiübungen ausführen.« Ich hob ihn an einem Bein empor und hielt ihn mit gestrecktem Arme. Ich drehte ihn wie ein Rad, und bald lernte ich ihn über meinem Kopf, hinter dem Rücken und zwischen meinen Beinen hindurch von einer Hand zur andern werfen.

Wenige Stunden nach meiner Verbringung ins Gefängnis kam der Oberst und bot mir ein paar Bücher an, unter denen ich auch einen alten Bekannten und Freund von mir, Lewes' Physiologie, in russischer Übersetzung, fand. Leider fehlte aber der zweite Band, den ich besonders gern noch einmal gelesen hätte. Natürlich bat ich um Papier, Feder und Tinte, doch schlug man mir meinen Wunsch rundweg ab. Feder und Tinte erhält man in der Festung nur auf besondere Erlaubnis des Kaisers selbst. Unter dieser erzwungenen Untätigkeit litt ich sehr und fing, um ihr zu entgehen, an, im Kopfe eine Reihe volkstümlicher Erzählungen über Stoffe aus der russischen Geschichte, etwa in der Art von Eugen Sues ›Mystères du Peuple‹, auszuarbeiten. Ich entwarf die Verwicklung, die Schilderungen, die Zwiegespräche und versuchte, das Ganze von Anfang bis zu Ende im Gedächtnis festzuhalten. Man kann sich leicht denken, wie anstrengend eine solche Arbeit gewesen wäre, hätte ich sie länger als zwei oder drei Monate fortsetzen müssen.

Aber mein Bruder Alexander verschaffte mir Feder und Tinte. Eines Tages wurde ich aufgefordert, in Begleitung des obenerwähnten sprachlosen Gendarmerieoffiziers in eine Droschke zu steigen, die mich zur Dritten Abteilung führte, und hier durfte ich in Gegenwart zweier Gendarmerieoffiziere meinen Bruder wiedersehen.

Alexander befand sich zur Zeit meiner Verhaftung in der Schweiz. Schon von Jugend an war es das Ziel seiner Sehnsucht gewesen, ins Ausland zu gehen, wo die Leute denken und reden könnten, wie sie wollen, und offen ihre Gedanken ausdrückten. Das Leben in Rußland war ihm zuwider. Wahrhaftigkeit – unbedingte Wahrhaftigkeit – und die offenherzigste Freimütigkeit bildeten die herrschenden Züge in seinem Charakter, Betrug oder auch nur Ziererei waren ihm unerträglich. Seine freie und offene Natur fühlte sich abgestoßen durch den Mangel des freien Wortes in Rußland, durch die Bereitwilligkeit des Russen, der Unterdrückung nachzugeben, durch die verhüllte Schreibweise unserer Schriftsteller. Bald nach meiner Rückkehr aus Westeuropa zog er nach der Schweiz, wo er sich dauernd niederzulassen beschloß. Nachdem er seine beiden Kinder verloren hatte – das eine starb innerhalb weniger Stunden an der Cholera, das andere an der Lungenschwindsucht – erschien ihm Petersburg doppelt widerwärtig.

An unserer Agitationsarbeit nahm mein Bruder keinen Teil. Er glaubte nicht an die Möglichkeit einer Volkserhebung und dachte sich eine Revolution nur als die Tat einer volksvertretenden Körperschaft, ähnlich der französischen Nationalversammlung im Jahre 1789. Die sozialistische Agitation fand seinen Beifall, sofern sie vermittels öffentlicher Versammlungen betrieben wird, nicht aber als die geheime Kleinarbeit persönlicher Propaganda, wie wir sie ausführten. In England würde er zur Partei John Brights oder der Chartisten gehört haben. Wäre er während des Juniaufstandes von 1848 in Paris gewesen, so hätte er sicher mit der letzten Handvoll von Arbeitern hinter der letzten Barrikade gekämpft, aber in der vorbereitenden Periode würde er sich Louis Blanc oder Ledru Rollin angeschlossen haben.

In der Schweiz ließ er sich in Zürich nieder und sympathisierte mit dem gemäßigten Flügel der Internationale. Seinen Grundsätzen nach Sozialist, betätigte er seine Prinzipien durch sein höchst einfaches und arbeitsames Leben, indem er sich dabei mit ganzer Seele seinem großen wissenschaftlichen Werke widmete, dem Hauptziele seines Lebens, das, auf den Forschungsergebnissen des neunzehnten Jahrhunderts fußend, ein Gegenstück zu dem berühmten ›Tableau de la Nature‹ der Encyklopädisten bilden sollte. Er wurde bald ein intimer persönlicher Freund des alten Flüchtlings, Obersten P. L. Lawrow, der gleich ihm ein Anhänger der Kantschen Philosophie war.

Als Alexander meine Verhaftung erfuhr, ließ er alles im Stich, sein Lebenswerk, die Freiheit, die für ihn so nötig war wie für den Vogel die Luft, und kehrte in das ihm verhaßte Petersburg zurück, einzig mit der Absicht, mir in meiner Gefangenschaft beizustehen.

Uns beiden ging dieses Wiedersehen sehr nahe, und mein Bruder befand sich in größter Aufregung. Schon der Anblick der blauen Uniformen, welche die Gendarmen, diese Henker alles selbständigen russischen Geisteslebens, trugen, erregten seinen Zorn, und er gab diesen seinen Gefühlen in ihrer Gegenwart offen Ausdruck. Mich dagegen erfüllte seine Gegenwart in Petersburg mit den bangsten Gefühlen, wenn ich auch glücklich war, in sein ehrliches Gesicht und seine liebevollen Augen blicken zu dürfen und von ihm zu hören, daß ich ihn jeden Monat einmal sehen sollte, so wünschte ich ihn doch Hunderte von Meilen von dem Platze weg, zu dem er an jenem Tage als freier Mann kam, zu dem ich ihn aber in meiner Einbildung nächtlicher Weile und unter Kosakenbedeckung zurückkehren sah. »warum bist du in die Löwenhöhle gekommen? Geh sofort zurück!« rief mein ganzes inneres Selbst, und doch wußte ich, daß er bleiben würde, solange ich im Gefängnisse war.

Er wußte, besser wie irgend ein anderer, daß die Untätigkeit mich töten würde, und hatte bereits ein Gesuch eingereicht, um mir die Erlaubnis zu erwirken, wieder arbeiten zu dürfen. Die Geographische Gesellschaft wünschte, daß ich mein Buch über die Eiszeit vollendete, und mein Bruder brachte die ganze Petersburger wissenschaftliche Welt in Aufruhr, um sie zur Unterstützung seines Gesuches zu bewegen. Die Akademie der Wissenschaften interessierte sich für die Angelegenheit, und so geschah es endlich, zwei oder drei Monate nach meiner Gefangennahme, daß der Oberst in meine Zelle kam und mir ankündigte, es werde mir auf kaiserlichen Befehl gestattet, meinen Bericht an die Geographische Gesellschaft zu vervollständigen, und ich dürfte zu diesem Zwecke Feder und Tinte erhalten. »Nur bis Sonnenuntergang,« fügte er hinzu. In Petersburg geht die Sonne zur Winterszeit um drei Uhr unter, aber damit mußte man sich abfinden. »Bis Sonnenuntergang« hatte Alexander bei Erteilung der Erlaubnis gesagt.

So konnte ich arbeiten!

Jetzt wäre ich kaum imstande, dem überquellenden Gefühle der Erlösung Ausdruck zu geben, das ich bei der Möglichkeit, wieder schreiben zu dürfen, empfand. Gern hätte ich mich bei Wasser und Brot im feuchtesten Kellerloch einschließen lassen, wenn ich nur arbeiten durfte.

Übrigens war ich der einzige Gefangene, dem man Schreibmaterialien überließ. Verschiedene von meinen Kameraden blieben drei Jahre und noch länger in Haft, ehe der berüchtigte Prozeß der ›einhundertdreiundneunzig‹ stattfand, und sie mußten sich sämtlich mit Schiefertafeln begnügen. Natürlich war in der traurigen Einsamkeit auch die Schiefertafel willkommen, die sie zu schriftlichen Übungen bei ihrem Studium fremder Sprachen oder zur Lösung mathematischer Aufgaben benutzten, aber wie bald war das Geschriebene wieder ausgelöscht!

Jetzt gestaltete sich mein Gefängnisleben regelmäßiger; es lag doch nun ein unmittelbares Ziel vor mir. Um neun Uhr morgens hatte ich bereits die ersten dreihundert Durchkreuzungen meiner Zelle vollendet und wartete auf meine Stifte und Federn. Das von mir für die Geographische Gesellschaft in seinen Vorarbeiten erledigte Werk enthielt außer einem Bericht über meine Forschungen in Finnland eine Abhandlung über die Grundlagen der Eiszeithypothese. Da ich wußte, daß ich jetzt Zeit genug vor mir hatte, faßte ich den Entschluß, jenen Teil meines Werkes in erweiterter Fassung noch einmal zu schreiben. Die Akademie der Wissenschaften stellte mir ihre wunderschöne Bibliothek zur Verfügung, und so füllte sich bald eine Ecke meiner Zelle mit Büchern und Karten an, worunter sich die vorzüglichen Publikationen der schwedischen geologischen Aufnahme, eine fast vollständige Sammlung von Berichten über arktische Reisen und ganze Jahrgänge der Vierteljahrsschrift der Londoner Geologischen Gesellschaft befanden. Mein Buch wuchs sich in der Festung zu dem Umfange zweier stattlicher Bände aus. Die Ausgabe des ersten besorgten mein Bruder und Poljakow (in den Memoiren der Geographischen Gesellschaft), während der zweite, unvollendete, bei meiner Flucht in den Händen der Dritten Abteilung zurückblieb. Erst 1895 fand man das Manuskript und übergab es der Russischen Geographischen Gesellschaft, die es mir nach London sandte.

Sobald man mir nachmittags fünf Uhr – im Winter um drei – die winzige Lampe hereinbrachte, wurden mir Tinte und Federn abgenommen, und ich mußte mit der Arbeit aufhören. Dann fing ich gewöhnlich an zu lesen und zwar meist Bücher geschichtlichen Inhalts. Es hatte sich in der Festung durch die Generationen politischer Gefangenen eine ganze Bibliothek gebildet. Auch ich durfte diese Büchersammlung um eine Anzahl bedeutenderer Werke über russische Geschichte vermehren. Da mir außerdem meine Verwandten Bücher brachten, so bot sich mir Gelegenheit, fast jedes Werk und jede Akten- und Dokumentensammlung, die über die Moskauer Periode der russischen Geschichte erschienen ist, zu lesen. Ich fand Geschmack nicht nur an den russischen Annalen, besonders den bewundernswürdigen der demokratischen mittelalterlichen Pskower Republik, die vielleicht für diese Gruppe mittelalterlicher Stadtgebilde die besten in Europa sind, sondern auch an trockenen Dokumenten aller Art, selbst den Heiligenleben, die hin und wieder Tatsachen aus dem wirklichen Leben der Massen enthalten, die man wo anders nicht finden kann. Daneben las ich damals eine große Anzahl von schönwissenschaftlichen Werken und ermöglichte mir sogar am Weihnachtsabende eine besondere Feier. Meine Verwandten ließen mir nämlich gerade um diese Zeit Dickens' Weihnachtsmärchen zukommen, und ich verbrachte das Fest, indem mich jene schönen Schöpfungen des großen Romandichters bald zum Lachen brachten, bald Tränen vergießen ließen.

Das Schlimmste war die Grabesstille, die um mich herrschte. Vergebens klopfte ich an die Wände oder schlug mit dem Fuß auf den Boden und lauschte auf den leisesten Ton der Erwiderung: nichts war zu hören. Es verging ein Monat, es vergingen zwei, drei, fünfzehn Monate, aber all mein Klopfen lockte keine Antwort hervor. Wir waren unser nur sechs, die man in sechsunddreißig Kasematten zerstreut hatte, da alle meine verhafteten Kameraden im Litowsky-Gefängnis untergebracht waren. Wenn der Unteroffizier in meine Zelle trat, um mich zu einem Spaziergang abzuholen, und ich ihn fragte: »Was für Wetter ist heute? Regnet es?« so warf er von der Seite einen scheuen Blick auf mich und zog sich, ohne ein Wort zu sprechen, eiligst hinter die Tür zurück, wo eine Schildwache und ein zweiter Unteroffizier, ihn beobachtend, standen. Das einzige lebende Wesen, von dem ich ein paar Wörter zu hören bekam, war der Oberst, der jeden Morgen in meiner Zelle erschien und mich fragte, ob ich Tabak oder Papier kaufen wollte. Ich versuchte, mit ihm eine Unterhaltung anzuknüpfen, aber er warf ebenfalls scheue Blicke auf die in der halboffenen Tür stehenden Unteroffiziere, als wollte er sagen: »Sie sehen, auch ich werde überwacht!« Die Tauben allein trugen keine Scheu, mit mir zu verkehren. Jeden Morgen und jeden Nachmittag kamen sie an mein Fenster, um sich durch das Gitter füttern zu lassen.

Nicht der geringste Ton war vernehmbar außer dem Knarren der Stiefel meiner Schildwachen, dem kaum hörbaren Geräusche beim Aufziehen des Judasschiebers und dem Läuten der Glocken auf der Festungskathedrale. Sie läuteten nach jeder Viertelstunde, je nachdem ein-, zwei-, drei- oder viermal, ein ›Herr, erbarme dich unser‹ (Gospodi pomiliui). Dann schlug am Ende jeder Stunde die große Glocke, langsam ausholend, die Stundenzahl an. Hierauf folgte ein Glockenspiel mit einer trauervollen Melodie, das meist, da sich die Töne bei jedem Temperaturwechsel änderten, ausgesucht disharmonisch klang und überdies an eine Begräbnisfeier erinnerte. Zur düsteren Mitternachtsstunde schlossen sich aber an die Trauerhymne noch die verstimmten Töne eines ›Gott erhalte den Zaren‹, so daß das Läuten eine volle Viertelstunde dauerte. Kaum war es zu Ende, so kündigte ein neues ›Herr, erbarme dich unser‹ dem schlaflosen Gefangenen an, daß inzwischen eine Viertelstunde seines unnützen Lebens vergangen sei, und mahnte ihn daran, daß viele Viertelstunden und Stunden und Tage und Monate desselben vegetativen Lebens dahingehen würden, ehe seine Wächter oder vielleicht auch der Tod ihn befreiten.

Jeden Morgen wurde ich zu einem halbstündigen Spaziergang in den Gefängnishof geführt, einen kleinen fünfeckigen Raum, um den ein schmaler gepflasterter Gang lief und in dessen Mitte ein kleines Gebäude, das Badehaus, stand. Diese Spaziergänge waren mir sehr willkommen.

Im Gefängnis ist das Verlangen nach neuen Eindrücken so groß, daß ich bei dem Spaziergang in dem engen Hofe meine Augen stets auf die vergoldete Spitze der Festungskathedrale geheftet hielt. Dies war der einzige Gegenstand in meiner Umgebung, dessen Aussehen sich änderte, und ich freute mich, ihn, wenn die Sonne vom blauen Himmel schien, wie lauteres Gold glitzern oder, wenn ein leichter bläulicher Dunst über der Stadt ruhte, gespenstisch emporragen, oder endlich, wenn schwarze Wolken sich zu sammeln begannen, als stahlgraue Spitze hernieder blicken zu sehen.

Während dieses Aufenthaltes im Hofe sah ich gelegentlich die achtzehnjährige Tochter unseres Obersten, wenn sie aus der väterlichen Wohnung kam und ein paar Schritte über den Hof machen mußte, um das Eingangstor, durch das man allein das Gebäude verlassen konnte, zu gewinnen. Immer beschleunigte sie ihre Schritte und hielt die Augen niedergeschlagen, als schämte sie sich, die Tochter eines Gefängnisbeamten zu sein. Dagegen schaute mir ihr jüngerer Bruder, ein Kadett, den ich ein- oder zweimal im Hofe sah, immer mit so unverhülltem Ausdruck der Sympathie gerade ins Gesicht, daß es mir auffiel und ich dieses Umstandes auch nach meiner Befreiung irgend jemand gegenüber Erwähnung tat. Vier oder fünf Jahre später, als er schon Offizier war, wurde er nach Sibirien verbannt, weil er sich der revolutionären Partei angeschlossen und wohl auch, denke ich, bei der Vermittlung der Korrespondenz mit den Festungsgefangenen mitgeholfen hatte.

In Petersburg ist der Winter für diejenigen, die sich nicht draußen in den hellbeleuchteten Straßen aufhalten können, eine düstere Zeit; in einer Kasematte war es natürlich noch düsterer. Aber schlimmer als die Dunkelheit war noch die Feuchtigkeit, die man in meinem Raume durch starke Überheizung fernzuhalten suchte, so daß ich nicht atmen konnte. Als man aber schließlich auf mein Gesuch die Temperatur niedriger hielt als vorher, rannen an der äußeren Wand die Tropfen herunter, und die Tapete war durchweg so naß, als hätte man jeden Tag von neuem einen Eimer Wasser darüber gegossen; daß ich infolgedessen stark an Rheumatismus litt, kann nicht wundernehmen.

 

Trotzdem bewahrte ich meine Heiterkeit; ich hörte nicht auf, in der Dunkelheit zu schreiben oder Karten zu zeichnen, und schärfte nach wie vor meinen Bleistift mit einem Stück Glas, dessen ich im Hofe hatte habhaft werden können. Gewissenhaft legte ich täglich in der Zelle meine Meile zurück und machte mit dem eichenen Schemel meine gymnastischen Kunststücke. So verrann die Zeit. Dann aber schlich sich die Sorge in meine Zelle und warf mich fast darnieder. Mein Bruder Alexander wurde verhaftet.

Gegen Ende Dezember 1874 durfte ich ihn und unsere Schwester Helene in Gegenwart eines Gendarmerieoffiziers sehen. Solche nach langen Zwischenräumen gewährten Zusammenkünfte sind stets geeignet, beide Teile, den Gefangenen wie seine Verwandten, in einen Zustand der Aufregung zu versetzen. Man sieht geliebte Gesichter, hört geliebte Stimmen und weiß, daß alles wie ein Traumbild nach wenigen Augenblicken wieder verschwinden wird; man fühlt sich so nah und doch so fern, da vor einem Fremden, der noch dazu ein Feind und Spion ist, keine vertraute Unterhaltung stattfinden kann. Außerdem waren Bruder wie Schwester um meine Gesundheit besorgt, die unter den öden, düstern Wintertagen und der Feuchtigkeit schon merklich gelitten hatte. Mit schwerem Herzen schieden wir voneinander.

Eine Woche nach dieser Zusammenkunft erhielt ich anstatt des von meinem Bruder erwarteten Briefes eine kurze Mitteilung von Poljakow über den Druck meines Buches. Er schrieb mir, er würde hinfort die Korrekturen lesen, und ich sollte alles, was auf den Druck Bezug hätte, an ihn richten. Schon aus der Fassung des Briefes ersah ich sofort, daß mit meinem Bruder etwas nicht in Ordnung war. Wäre es nur Krankheit gewesen, so würde dies Poljakow einfach mitgeteilt haben. Es kamen nun Tage furchtbarer Bangigkeit für mich. Alexander mußte verhaftet worden und ich mußte die Ursache davon sein! Das Leben hatte auf einmal alle Bedeutung für mich verloren. Meine körperlichen Übungen, meine Arbeiten, alles wurde mir gleichgültig. Den ganzen Tag ging ich rastlos in meiner Zelle auf und nieder und dachte an nichts als an Alexanders Verhaftung. Für mich als einzelnen Mann bedeutete die Einkerkerung nur persönliche Beeinträchtigung; aber er war verheiratet, er liebte seine Frau leidenschaftlich, und sie hatten jetzt einen Knaben, auf den sie alle Liebe, die sie für ihre ersten beiden Kinder empfunden hatten, vereinigten.

Am allerschlimmsten war die Ungewißheit. Was konnte er getan haben? Aus welchem Grunde war er verhaftet worden? Was hatte man mit ihm vor? Monate vergingen; meine Besorgnis wurde immer größer, aber es kam keine Nachricht, bis ich schließlich auf Umwegen erfuhr, er sei wegen eines an P. L. Lawrow gerichteten Briefes verhaftet worden.

Erst viel später wurde mir das Nähere bekannt. Nach seiner letzten Zusammenkunft mit mir schrieb er an seinen alten Freund, der damals in London eine sozialistische Wochenschrift ›Vorwärts‹ herausgab. In diesem Briefe gab er seinen Befürchtungen wegen meiner Gesundheit Ausdruck, erwähnte die zahlreichen Verhaftungen, die damals in Rußland vorgenommen wurden, und machte aus seinem Haß gegen den Despotismus kein Hehl. Der Brief wurde auf der Post von der Dritten Abteilung abgefangen, worauf sie am Weihnachtsabend bei ihm Haussuchung hielten. Hierbei verfuhren sie noch roher als gewöhnlich. Nach Mitternacht drang ein halbes Dutzend Gendarmen in seine Wohnung und durchstöberte alles. Sogar die Wände wurden untersucht; das arme Kind riß man von seinem Krankenlager weg, um Betten und Matratzen zu durchschnüffeln. Aber sie fanden nichts und konnten auch gar nichts finden.

Mein Bruder war über diese Haussuchung höchst entrüstet. Mit seinem gewöhnlichen Freimut sagte er zu dem Gendarmerieoffizier, unter dessen Leitung sie erfolgte: »Gegen Sie, Hauptmann, empfinde ich keinen Groll. Sie besitzen nur eine geringe Bildung und wissen kaum, was Sie tun. Aber Sie, mein Herr,« fuhr er, gegen den Staatsanwalt gewendet, fort: »Sie wissen, welche Rolle Sie hierbei spielen. Sie haben akademische Bildung genossen. Sie kennen auch das Gesetz und wissen, daß Sie alles Recht mit Füßen treten und das ungesetzliche Vorgehen dieser Leute durch Ihre Gegenwart decken; Sie sind einfach ein Schuft.«

Man schwor ihm Rache und hielt ihn in der Dritten Abteilung bis zum Mai eingekerkert. Sein Kind, ein reizender Knabe, den seine Krankheit noch liebevoller und aufgeweckter erscheinen ließ, lag totkrank an der Schwindsucht und hatte nach dem Ausspruch der Ärzte nur noch ein paar Tage zu leben. Alexander, der seine Feinde noch niemals um irgendeine Gunst ersucht hatte, kam diesmal um die Erlaubnis ein, sein Kind zum letztenmal zu sehen. Er bat, gegen sein Ehrenwort oder unter Bedeckung auf eine Stunde nach Hause gehen zu dürfen. Sie schlugen es ab; sie konnten sich diese Rache nicht versagen.

Das Kind starb, und seine Mutter wurde noch einmal fast zum Wahnsinn gebracht, als man meinem Bruder ankündigte, er würde nach Ostsibirien in die kleine Stadt Minusinsk transportiert. Er sollte auf einem Karren zwischen zwei Gendarmen dorthin gebracht werden, seine Frau dürfte nicht mit ihm reisen, könnte ihm aber später folgen.

»So sagt mir wenigstens, welches Verbrechen ich begangen habe!« fragte er; es lag aber, von dem Briefe abgesehen, keinerlei Anklage gegen ihn vor. Sein Transport erschien so willkürlich, so sehr eine Tat bloßer Rache seitens der Dritten Abteilung, daß keiner von unsern Verwandten es für möglich hielt, die Verbannung würde länger als ein paar Monate dauern. Mein Bruder reichte beim Ministerium des Innern eine Beschwerde ein. Es wurde ihm der Bescheid, der Minister könnte gegen den Willen des Gendarmeriechefs nichts tun. Ebenso vergeblich war eine zweite Beschwerde beim Senat.

Ein paar Jahre später richtete unsere Schwester Helene aus eigenem Antriebe eine Bittschrift an den Zaren. Unser Vetter Dmitri, Generalgouverneur von Charkow, Adjutant des Kaisers und Liebling des Hofes, der ebenfalls über das Verfahren gegen meinen Bruder erbittert war, händigte dem Zaren persönlich die Bittschrift ein und fügte ein paar Worte zu ihrer Unterstützung hinzu. Aber die Rachsucht, dieser Familienzug der Romanows, war bei Alexander II. zu stark entwickelt. Er schrieb auf die Bittschrift ›Pust posidit‹ (Mag noch eine Weile bleiben). Mein Bruder blieb zwölf Jahre in Sibirien und kehrte niemals nach Rußland zurück.

 

Infolge der zahllosen Verhaftungen, die im Sommer 1874 stattfanden, und der ernstlichen Verfolgungen, die unser Kreis von der Polizei zu erdulden hatte, trat eine tiefgehende Änderung in den Ansichten der russischen Jugend ein. Bis dahin war der vorherrschende Gedanke gewesen, aus der Reihe der Arbeiter und schließlich auch der Bauern eine Anzahl von Männern auszusuchen, die zu sozialistischen Agitatoren ausgebildet werden könnten. Aber in den Fabriken wimmelte es von Spitzeln, und es war offenbar, daß die Sendboten wie die Arbeiter, mochten sie es anstellen, wie sie wollten, der Verhaftung und lebenslänglichen Verbannung nach Sibirien nicht entgehen konnten. Da begann eine gewaltige Bewegung ›zum Volke‹ in einer neuen Form: Hunderte von jungen Leuten beiderlei Geschlechts eilten unter Mißachtung jeder bis dahin beobachteten Vorsicht aufs Land, wanderten durch die Städte und Dörfer, teilten fast offen Flugschriften, Lieder, Aufrufe aus und suchten die Massen zur Revolution anzutreiben. ›Das tolle Jahr‹ nannten wir in unsern Kreisen dieses Sommer.

Die Gendarmen verloren den Kopf. Sie hatten nicht genug Hände zum Verhaften und nicht genug Augen, den Spuren jedes Agitators zu folgen. Doch wurden bei dieser Hetze nicht weniger als fünfzehnhundert Personen verhaftet und die Hälfte von ihnen jahrelang im Gefängnis behalten.

Eines Tages im Sommer 1875 hörte ich in der Zelle unmittelbar neben mir deutlich leichte Schritte von gewöhnlichen Stiefeln, und nach ein paar Minuten fing ich auch Brocken einer Unterhaltung auf. Eine Frauenstimme ließ sich aus der Zelle vernehmen, und eine tiefe Baßstimme – offenbar die der Schildwache – knurrte etwas als Erwiderung darauf. Dann unterschied ich den Klang der Sporen des Obersten, hörte, wie er rasch näher kam und die Schildwache anfuhr und wie sich der Schlüssel im Schloß drehte. Er sprach etwas, und die Frauenstimme antwortete laut: »Wir haben nicht gesprochen; ich habe ihn nur gebeten, den Unteroffizier zu rufen.« Dann wurde die Tür wieder verschlossen, und der Oberst fluchte, wie ich vernehmen konnte, leise auf die Schildwache los.

So war ich nicht mehr allein; ich hatte eine Nachbarin, die sofort die strenge Disziplin, die bisher unter den Soldaten geherrscht hatte, erfolgreich durchbrach. Von diesem Tage fingen die Mauern nach fünfzehn Monate langem Stummsein sich zu beleben an. Von allen Seiten hörte ich Schläge mit dem Fuße gegen den Boden: ein, zwei, drei, vier … elf Schläge, danach fünfundzwanzig und dann fünfzehn Schläge. Hierauf kam eine Pause, auf die drei und endlich in langer Folge dreiunddreißig Schläge folgten. Diese Schläge wiederholten sich immer und immer wieder in der gleichen Reihenfolge, bis der Nachbar merkte, daß sie bedeuten sollten: »Kto vy?« (Wer bist du?); der Buchstabe K nimmt nämlich die elfte Stelle im russischen Alphabet ein, V die dritte u. s. f. Damit war bald die Unterhaltung eingeleitet und wurde gewöhnlich nach dem gekürzten Alphabet geführt, das heißt, das A B C wird in sechs Reihen von je fünf Buchstaben geteilt und jeder Buchstabe nach seiner Reihe und seiner Stellung in derselben gekennzeichnet.

Zu meiner großen Freude fand ich, daß ich zur Linken meinen Freund Serdukow hatte, mit dem ich mich bald über alles unterhalten konnte, zumal bei Anwendung des abgekürzten Klopfverfahrens. Aber die erneuten Beziehungen zu Menschen brachten zu ihren Freuden auch ihre Leiden. Unterhalb meiner Zelle war ein Bauer untergebracht, den Serdukow kannte. Er verständigte sich mit ihm durch Schläge, und auch gegen meinen Willen folgte ich während meiner Arbeit oft unbewußt ihrem Gespräche. Auch ich unterhielt mich mit ihm. Wenn nun die Einzelhaft ohne irgendwelche Beschäftigung für gebildete Menschen schwer zu ertragen ist, so ist sie für einen an physische Arbeit gewöhnten und in keiner Weise zu andauerndem Lesen vorbereiteten Bauer noch unendlich viel schwerer. Unser bäuerlicher Freund fühlte sich recht elend, und da er vor seiner Verbringung in die Festung fast zwei Jahre in einem andern Gefängnisse gewesen war – sein Verbrechen bestand darin, daß er den Reden der Sozialisten zugehört hatte – so war er schon, als er in die Peter-Pauls-Festung kam, ein gebrochener Mann. Bald merkte ich zu meinem Schrecken, daß er manchmal nicht bei Sinnen war. Allmählich wurden seine Gedanken immer verwirrter, und wir beide mußten wahrnehmen, wie sein Verstand Schritt für Schritt und Tag für Tag immer mehr von ihm wich, bis seine Reden schließlich die eines Wahnsinnigen wurden. Schreckliche Geräusche und wildes Geschrei tönte dann von unten herauf; unser Nachbar war toll geworden, wurde aber noch ein paar Monate in der Kasematte behalten, ehe man ihn in einem Irrenhaus unterbrachte, das er nie wieder verließ. Unter solchen Umständen Zeuge zu sein, wie der Geist eines Menschen zu Grunde geht, war schrecklich. Sicher hat dieses furchtbare Erlebnis dazu beigetragen, die nervöse Erregbarkeit meines guten und treuen Freundes Serdukow zu erhöhen. Als er nach vierjähriger Kerkerhaft durch richterliches Erkenntnis freigesprochen und entlassen wurde, erschoß er sich.

 

Eines Tages erhielt ich einen unerwarteten Besuch. Der Großfürst Nikolaus, Alexanders II. Bruder, betrat bei Gelegenheit einer Inspektion der Festung, nur von seinem Adjutanten begleitet, meine Zelle. Nachdem sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, näherte er sich mir mit schnellen Schritten und sagte: »Guten Tag, Krapotkin.« Er kannte mich persönlich und sprach in vertrautem, gemütlichem Tone wie zu einem alten Bekannten. »Wie ist es möglich, Krapotkin, daß Sie, ein Kammerpage und Sergeant des Pagenkorps, in dergleichen verwickelt sind und sich nun hier in dieser schauderhaften Kasematte befinden?«

»Jeder hat seine eigenen Ansichten,« lautete meine Antwort.

»Ansichten! So gingen Ihre Ansichten also dahin, daß Sie eine Revolution erregen müßten?«

Was sollte ich antworten? Ja? Dann würde man, überlegte ich mir, sofort den Schluß ziehen, ich hätte zwar den Gendarmen jede Antwort verweigert, aber vor dem Bruder des Zaren ›alles gestanden‹. Er sprach zu mir etwa, wie der Kommandant einer militärischen Anstalt, der von einem Kadetten ›Geständnisse‹ zu erlangen sucht. Dennoch konnte ich nicht ›Nein‹ sagen, es wäre eine Lüge gewesen. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte, und stand wortlos da.

»Sie sehen! Sie schämen sich jetzt –«

Diese Bemerkung brachte mein Blut in Wallung, und ich versetzte sofort ziemlich scharf: »Ich habe dem Beamten beim Verhör meine Antworten gegeben und habe nichts weiter hinzuzufügen.«

»Aber, bitte, verstehen Sie doch, Krapotkin,« sagte er hierauf in seinem vertrautesten Tone, »ich spreche zu Ihnen nicht als Beamter, der ein Verhör anstellen will, sondern ganz als Privatperson – ganz als Privatmann,« wiederholte er mit leiserer Stimme.

Gedanken wirbelten mir durch den Kopf. Sollte ich die Rolle eines Marquis Posa spielen? Sollte ich durch den Mund des Großfürsten zu dem Kaiser von Rußlands Verödung, vom Ruin der Bauernschaft, der Willkürherrschaft der Beamten, dem drohenden Gespenst der Hungersnot reden? Sollte ich ihm sagen, wir wollten den Bauern aus ihrer trostlosen Lage helfen und sie wieder aufrichten – und sollte ich damit den Versuch machen, auf Alexander II. einen Einfluß auszuüben? Reißend schnell jagten diese Gedanken einander, bis ich mir schließlich sagte: »Niemals! Unsinn! Das ist ihnen alles bekannt. Sie sind Feinde des Volkes, und solche Worte würden sie nicht ändern.«

Ich erwiderte, er bleibe immer eine offizielle Persönlichkeit, und ich könnte ihn nicht als Privatmann betrachten.

Nachdem er mich hierauf nach gleichgültigen Dingen gefragt hatte, sagte er: »Sind Sie nicht in Sibirien im Umgang mit den Dezembristen auf solche Gedanken gekommen?«

»Nein, ich habe nur einen Dezembristen gekannt und mit ihm überhaupt kein erwähnenswertes Gespräch geführt.«

»So haben Sie sie in Petersburg gefaßt?«

»Ich bin immer derselbe gewesen.«

»Wie, so waren Sie schon im Pagenkorps so?« fragte er entsetzt.

»Im Korps war ich ein Knabe, und was einem in der Jugend unklar vorschwebt, gewinnt im Mannesalter bestimmte Formen.«

Er stellte noch einige ähnliche Fragen, und nun erkannte ich deutlich, worauf es abgesehen war. Er machte den Versuch, Geständnisse zu erlangen, und meine Einbildungskraft malte sich lebhaft aus, wie er zu seinem Bruder sagte: »Diese Untersuchungsbeamten sind sämtlich Dummköpfe. Ihnen hat er keine Antwort gegeben, aber ich habe nur zehn Minuten mit ihm gesprochen, und er hat mir alles gesagt.« Das verdroß mich, und als er sich in dem Sinne äußerte: »Wie konnten Sie sich mit allem diesem Volk, Bauern und Leuten ohne Namen, einlassen?« wandte ich mich scharf gegen ihn und sagte: »Ich habe Ihnen schon erklärt, daß ich dem Untersuchungsbeamten meine Antworten gegeben habe.« Da verließ er plötzlich die Zelle.

Später machten die wachthabenden Soldaten aus diesem Besuche eine ganze Legende. Die Person, die bei meiner Flucht mit dem Wagen vorfuhr, in dem ich entweichen sollte, trug eine Militärmütze und besaß mit ihrem blonden Backenbart eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Großfürsten Nikolaus. So entstand unter den Soldaten der Petersburger Garnison die Überlieferung, der Großfürst selbst sei zu meiner Rettung gekommen und habe mich entführt.

*


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