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Dreizehntes Kapitel.

Kampf zwischen Anarchismus und Sozialdemokratie. – Ausweisung aus Belgien. – Aufenthalt in Paris. – Wiederaufleben des Sozialismus in Frankreich. – Bekanntschaft mit Turgenjew. – Turgenjews Bedeutung für das junge Rußland. – Sein Verhältnis zum Nihilismus. – Basarow in ›Väter und Söhne‹.

 

Zwei Kongresse wurden im Herbst 1877 in Belgien abgehalten, einer von der Internationalen Arbeiterassociation in Verviers, der andere als ›Internationaler Sozialistenkongreß‹ in Gent. Der letztere war von besonderer Wichtigkeit, weil auf ihm, wie man wußte, die deutschen Sozialdemokraten einen Versuch machen wollten, die ganze europäische Arbeiterbewegung in einer Organisation zusammenzufassen, an deren Spitze ein Zentralausschuß, der alte Generalrat der Internationale unter neuem Namen, stehen sollte. Es war daher notwendig, die Autonomie der Arbeiterorganisationen in den romanischen Ländern zu wahren, und wir taten unser möglichstes, für gute Vertretung auf diesem Kongreß zu sorgen. Ich begab mich unter dem Namen Lewaschow nach Gent. Zwei Deutsche, der Setzer Werner und der Maschinist Rinke, legten fast die ganze Strecke von Basel nach Belgien zu Fuß zurück. Obwohl wir auf dem Kongreß nur neun Anarchisten waren, gelang es uns doch, die Durchführung des zentralistischen Planes zu vereiteln.

Seitdem sind vierundzwanzig Jahre vergangen; es hat inzwischen eine Anzahl internationaler Sozialistenkongresse stattgefunden, und auf jedem hat sich derselbe Kampf erneuert, d. h. die Sozialdemokraten versuchten, die gesamte an der sozialistischen Bewegung teilnehmende Arbeiterschaft Europas um ihr Banner zu scharen und unter ihre Kontrolle zu bringen, und die Anarchisten widersetzten sich dem und verhinderten es. Welche gegenseitige Erbitterung, welche Kraftvergeudung, welche Zersplitterung! Und das nur, weil die Anhänger der Formel ›Eroberung der Macht innerhalb der bestehenden Staatsordnungen‹ nicht einsehen, daß ein derart beschränktes Programm nicht die ganze Bewegung erschöpfen kann.

Von Anfang an entwickelte sich der Sozialismus in drei voneinander unabhängigen Richtungen, die durch Saint-Simon, Fourier und Robert Owen ihre besondere Ausprägung erhielten. Aus dem Saint-Simonismus ging die Sozialdemokratie hervor und aus dem Fourierismus der Anarchismus, während der in England und Amerika sich zum Trade-Unionismus, zur Kooperation und dem sogenannten munizipalen Sozialismus entwickelnde Owenismus dem sozialdemokratischen Staatssozialismus feindlich gegenübersteht, aber viele Berührungspunkte mit dem Anarchismus aufweist. Anstatt aber anzuerkennen, daß diese drei Richtungen verschiedene Wege zu einem gemeinsamen Ziele darstellen, und daß die beiden letzteren in ihrer Weise einen wertvollen Beitrag zum Fortschritt des Menschengeschlechts bieten, hat man ein Vierteljahrhundert lang die nicht zu verwirklichende Utopie einer einzigen nach sozialdemokratischem Muster zugeschnittenen Arbeiterbewegung ins Leben zu setzen gesucht.

 

Für mich endete der Genter Kongreß in unerwarteter Weise. Drei oder vier Tage nach seiner Eröffnung erfuhr die belgische Polizei, wer Lewaschow sei, und gab den Befehl, mich wegen Übertretung einer Polizeivorschrift, die ich durch Angabe eines falschen Namens im Hotel begangen hätte, zu verhaften. Meine belgischen Freunde warnten mich; sie behaupteten, das damals im Amte befindliche klerikale Ministerium sei imstande, mich an Rußland auszuliefern, und sie beharrten darauf, ich sollte den Kongreß sofort verlassen. Ins Hotel zurückzukehren erlaubten sie mir nicht; Guillaume versperrte mir den Weg und erklärte, ich müßte Gewalt gegen ihn gebrauchen, wenn ich dorthin zurückkehren wollte. Ich mußte mit ein paar Genter Genossen gehen, und sobald ich unter ihnen war und auf einen dunkeln von Arbeitergruppen besetzten Platz kam, ließen sich aus allen Ecken gedämpfte Rufe und Pfeifen hören. Alles hatte einen schrecklich geheimnisvollen Anstrich. Nach längerem Geflüster und leisem Gepfeife brachte mich schließlich eine Gruppe von Genossen unter sicherer Bedeckung zu einem sozialdemokratischen Arbeiter, bei dem ich die Nacht zubringen mußte, und der mich, trotz meiner Eigenschaft als Anarchist, in der rührendsten Weise wie ein Bruder aufnahm. Am nächsten Morgen fuhr ich auf einem Dampfer zum zweitenmale nach England, wobei ich auf den Gesichtern einiger englischer Zollbeamten, denen ich mein Reisegepäck zeigen sollte, ein gutmütiges Lächeln hervorrief, als ich ihnen nichts als eine kleine Handtasche vorzuweisen hatte.

In London blieb ich nicht lange. Mit Hilfe der bewunderungswürdigen Sammlungen des Britischen Museums studierte ich die ersten Stadien der französischen Revolution – im Hinblick auf die Frage, wie Revolutionen zum Ausbruch kommen; aber es verlangte mich nach größerer Tätigkeit, und ich ging bald nach Paris. Dort fing nach der erbarmungslosen Unterdrückung der Kommune die Arbeiterbewegung wieder an aufzuleben. Unter Mitwirkung des Italieners Costa und der wenigen anarchistischen Freunde, die wir unter den Pariser Arbeitern hatten, sowie Jules Guesdes und seiner Kollegen, die damals noch keine strammen Sozialdemokraten waren, richteten wir von neuem die ersten sozialistischen Gruppen ein.

Unser Anfang war lächerlich unbedeutend. Wir trafen uns in der Stärke von einem halben Dutzend in einem Café, und wenn wir bei einer Versammlung hundert Zuhörer hatten, waren wir froh. Niemand hätte damals geahnt, daß die Bewegung nach zwei Jahren in vollem Schwunge sein würde. Aber in Frankreich entwickeln sich die Dinge in eigener Weise. Hat die Reaktion die Oberhand gewonnen, so verschwinden alle sichtbaren Spuren einer Bewegung, und nur wenige schwimmen gegen den Strom. Aber in irgendeiner verborgenen Weise, indem die Ideen sozusagen unsichtbar durchsickern, wird die Reaktion untergraben; es setzt eine neue Strömung ein, und dann stellt sich mit einemmal heraus, daß die totgeglaubte Idee die ganze Zeit hindurch latent war und an Ausdehnung und Umfang noch zugenommen hat. Sobald nur eine öffentliche Agitation möglich wird, erscheinen Tausende von Anhängern, deren Existenz niemand vermutet, auf der Bildfläche. »In Paris,« pflegte der alte Blanqui zu sagen, »gibt es fünfzigtausend Menschen, die sich niemals zu einer Versammlung oder zu einer Demonstration einfinden, aber in dem Augenblick, wo sie fühlen, man könnte in den Straßen seiner Meinung unzweideutigen Ausdruck geben, sind sie zur Stelle und nehmen die Position im Sturm.« So ging es auch damals. Wir waren unser zur Einleitung der Bewegung nicht zwanzig; nicht zweihundert traten offen dafür ein; bei der ersten Gedenkfeier der Kommune, im März 1878, zählten wir sicher nicht zweihundert. Aber nach zwei Jahren ging das Amnestiegesetz für die Kommunarden durch, und die Pariser Arbeiterbevölkerung füllte die Straßen, den Begnadigten bei der Heimkehr zuzujubeln. Tausende strömten zu den Begrüßungsversammlungen, und die sozialistische Bewegung nahm dann mit einem Ruck einen solchen Aufschwung, daß sie die Radikalen mit sich riß.

Aber noch war die Zeit für dieses kraftvolle Wiederaufleben nicht gekommen. An einem Aprilabend 1878 wurde Costa und ein französischer Genosse verhaftet, und das Polizeigericht verurteilte sie als Internationalisten zu achtzehn Monaten Gefängnis. Ich entging der Verhaftung nur infolge eines Mißverständnisses. Die Polizei wollte Lewaschow greifen und nahm statt seiner einen russischen Studenten fest, dessen Name sehr ähnlich klang. Ich hatte meinen rechten Namen angegeben und blieb auch weiter unter diesem noch einen Monat in Paris. Dann rief man mich nach der Schweiz.

 

Während meines Aufenthaltes in Paris machte ich meine erste persönliche Bekanntschaft mit Turgenjew. Er hatte unserm gemeinsamen Freunde P. L. Lawrow gegenüber den Wunsch ausgedrückt, mich kennen zu lernen und als echter Russe mein Entkommen durch ein kleines freundschaftliches Mahl zu feiern. Als ich über die Schwelle seines Zimmers trat, fühlte ich mich fast von dem Gefühle religiöser Verehrung erfüllt. Hatte er Rußland schon durch sein ›Tagebuch eines Jägers‹ einen unermeßlichen Dienst erwiesen, indem er zeigte, wie hassenswert die Leibeigenschaft sei (damals wußte ich noch nicht, daß ihm an Herzens einflußreicher ›Glocke‹ ein maßgebender Anteil zukam), so hat er sich durch seine späteren Romane kein geringeres Verdienst erworben. Er hat uns gezeigt, was eine Russin ist, was für Schätze des Gemütes und Herzens ihr eigen sind, was sie durch Begeisterung des Mannes vermag; er hat uns auch gelehrt, wie wahrhaft bedeutende Männer das Weib anschauen, wie sie lieben. Auf mich und Tausende meiner Zeitgenossen hat er gerade in dieser Beziehung einen unauslöschlichen Eindruck gemacht, der weit mächtiger war als die besten Abhandlungen über Frauenrechte.

Seine äußere Erscheinung ist bekannt. Von hohem, starkem Wuchs und im Schmucke seines reichen, seidenen grauen Haares war er sicher ein schöner Mann; aus seinen Augen leuchtete Intelligenz nicht ohne Zutat von Schalkhaftigkeit, und sein ganzes Auftreten bezeugte die Einfachheit und Ungezwungenheit, die den besten russischen Schriftstellern eigen sind. Seinem schönen Kopfe sah man die mächtige Entwicklung der Denkkraft an, und als er starb und Paul Bert unter Beihilfe von Paul Reclus (dem Chirurgen) sein Gehirn wog, übertraf es mit einem Gewicht von mehr als zweitausend Gramm das schwerste damals bekannte Gehirn, nämlich das Cuviers, so sehr, daß sie glaubten, die Wage sei nicht in Ordnung, und mit einer andern das Ergebnis nachprüften.

Besonders auffallend war seine Redeweise, die an Bilderreichtum seinem Stil nicht nachstand. Wollte er einen Gedanken entwickeln, so tat er dies nicht durch eine allgemeine Begründung, obwohl er ein Meister in der philosophischen Diskussion war, sondern er erläuterte den Gedanken durch ein in so schöner Form gebotenes Bild, daß es einem seiner Romane entnommen zu sein schien.

»Sie müssen bei Ihrem Aufenthalte unter Franzosen, Deutschen und andern Völkern viele Erfahrungen gesammelt haben,« sagte er einmal zu mir. »Haben Sie nicht bemerkt, daß zwischen ihren Anschauungen und unsern russischen Ansichten über denselben Gegenstand häufig eine unüberbrückbare Kluft gähnt, so daß eine Einigung unmöglich scheint?«

Ich erwiderte ihm, ich hätte davon nichts bemerkt.

»Doch, es gibt solche Gegenstände. Ich führe ein Beispiel an. Eines Abends wohnten wir der ersten Aufführung eines neuen Stückes bei. Ich war mit Flaubert, Daudet, Zola … in einer Loge. (Ich bin nicht ganz sicher, ob er beide, Daudet und Zola, nannte, aber einen von ihnen gewiß.) Es waren lauter fortschrittlich gesinnte Männer. Folgendes war der Inhalt des Stückes: Eine Frau hatte sich von ihrem Gatten getrennt. Sie wurde zum zweitenmal von Liebe ergriffen und lebte mit dem andern Manne zusammen. Dieser Mann wurde in dem Stücke als ein ausgezeichneter Mensch dargestellt. Jahrelang waren sie zusammen glücklich gewesen. Die beiden Kinder der Frau – ein Mädchen und ein Knabe – waren, als sie sich von dem ersten Manne trennte, ganz klein; jetzt waren sie herangewachsen und hatten während der ganzen Zeit den Mann als ihren wirklichen Vater angesehen. Das junge Mädchen war etwa achtzehn, der junge Mensch etwa siebzehn Jahre alt. Der Mann behandelte sie ganz wie ein Vater, sie liebten ihn, und er liebte sie. Auf der Bühne wurde die Familie beim Frühstück dargestellt. Das Mädchen kommt herein, nähert sich ihrem vermeintlichen Vater, und er will sie küssen – da stürzt der Bruder, der irgendwie erfahren hat, daß sie nicht seine Kinder sind, auf ihn zu und schreit: ›N'osez pas!‹ (Wagen Sie es nicht.)

»Dieser Ausruf versetzte das Haus in Aufruhr und brachte einen Beifallssturm zum Ausbruch, bei dem auch Flaubert und die andern mitmachten. Ich war empört. ›Wie,‹ sagte ich, ›diese Familie war glücklich; der Mann war gegen die Kinder ein besserer Vater als ihr Erzeuger … ihre Mutter liebte ihn und fühlte sich bei ihm glücklich … Dieser nichtsnutzige, verkehrte Bursche verdiente einfach Prügel für seine Handlungsweise …‹ Es war umsonst. Stundenlang habe ich nachher mit ihnen darüber gesprochen, keiner von ihnen konnte mich verstehen.«

Ich stimmte natürlich Turgenjews Urteil völlig bei. Doch bemerkte ich, seine Bekannten gehörten hauptsächlich dem Mittelstande an. Da bestehe allerdings zwischen den einzelnen Völkern ein unermeßlicher Unterschied. Dagegen seien meine Bekannten ausschließlich Arbeiter, und diese, besonders die Bauern, seien einander bei allen Völkern außerordentlich ähnlich.

Was ich sagte, war aber ganz unrichtig. Als ich mit französischen Arbeitern besser bekannt geworden war, dachte ich oft, wie zutreffend Turgenjews Bemerkung gewesen sei. Es liegt in der Tat ein Abgrund zwischen der in Rußland vorherrschenden Auffassung von der Ehe und der, die man zumeist in Frankreich bei den Arbeitern wie bei den Mittelklassen antrifft, und eine ähnliche Kluft besteht in vielen anderen Beziehungen zwischen den russischen Ansichten und denen anderer Völker.

Nach Turgenjews Tode habe ich irgendwo gelesen, er habe sich mit der Absicht getragen, über dieses Thema einen Roman zu schreiben. Hat er das Werk angefangen, so muß sich die obenerwähnte Szene in seinem Manuskript finden. Wie schade, daß er den Roman nicht geschrieben hat! Er, der in seiner Art zu denken durchaus ein Occidentale war, hätte außerordentlich tiefsinnige Gedanken über ein Thema, das ihn persönlich während seines ganzen Lebens so nah berührte, zum Ausdruck gebracht.

 

Von allen Romandichtern des neunzehnten Jahrhunderts ist Turgenjew sicher der künstlerisch vollendetste, und seine Prosa klingt für das russische Ohr wie Musik – Musik, nicht weniger tief als Beethovens. Seine Hauptwerke, ›Dmitri Rudin‹, ›Ein adliges Nest‹, ›Am Vorabend‹, ›Väter und Söhne‹, ›Rauch‹ und ›Neuland‹, stellen uns die Typen der gebildeten Klassen Rußlands dar, wie sie nach 1848 in schneller Folge zur Entwicklung kamen; sie sind sämtlich aus einer so reichen philosophischen Auffassung und einem so vollen menschlichen Verständnisse heraus entworfen und dabei von solcher künstlerischen Schönheit, daß sie in keiner anderen Literatur ihresgleichen finden. Doch nahm die russische Jugend, ›Väter und Söhne‹, den Roman, den der Verfasser mit Recht für sein tiefstes Werk hielt, mit einem lauten Protest auf. In den Augen unserer ›Jungen‹ war der Nihilist Basarow kein rechter Vertreter der Nihilisten; viele erklärten ihn sogar für eine Karikatur. Dieses Mißverständnis ging Turgenjew sehr nahe, und wenn auch später, nach dem Erscheinen seines ›Neuland‹, zwischen ihm und der jungen Generation eine Versöhnung zu stande kam, so heilte doch die Wunde, die ihm jene Angriffe geschlagen hatten, niemals.

Durch Lawrow wußte er, daß ich ein begeisterter Verehrer seiner Schriften war. So fragte er mich eines Tages, als wir von einem Besuche in Antokolskys Künstlerwerkstatt zurückfuhren, was ich von Basarow dächte. Ich erwiderte ihm offen: »Basarow ist ein bewunderungswürdiges Porträt eines Nihilisten, aber man fühlt, daß Sie ihn nicht liebten wie Ihre andere Helden.« »Im Gegenteil, ich liebte ihn, ich liebte ihn sehr,« versetzte Turgenjew mit überraschender Lebhaftigkeit. »Wenn wir heimkommen, will ich Ihnen mein Tagebuch zeigen, in dem Sie nachlesen können, wieviel Tränen ich vergoß, als ich den Roman mit Basarows Tode enden ließ.«

Gewiß liebte Turgenjew Basarow in intellektueller Beziehung. Er vertiefte sich selbst so sehr in die nihilistische Philosophie seines Helden, daß er sogar ein Tagebuch unter seinem Namen führte, in dem er die laufenden Ereignisse von Basarows Gesichtspunkte beurteilte. Aber mir scheint es, er schenkte ihm mehr Bewunderung als Liebe. In einem glänzenden Vortrag über Hamlet und Don Quijote teilte er einmal die für die Geschichte der Menschheit bedeutenden Männer in zwei durch jene beiden Gestalten gekennzeichnete Gruppen. »Vor allem Zergliederung, sodann Eigenliebe und darum kein Glaube – ein selbstischer Mensch kann nicht einmal an sich glauben –« so charakterisierte er Hamlet. »Infolgedessen ist er Skeptiker und wird nie etwas vollbringen. Dagegen ist Don Quijote, der gegen Windmühlen kämpft, und der ein Barbierbecken für Mambrins Zauberhelm hält (wer von uns hätte nicht schon denselben Irrtum begangen?) ein Führer der Volksmassen, weil die Massen immer denen folgen, die ungeachtet des Spottes der Menschheit oder selbst der Verfolgungen geradeaus gehen, die Augen auf ein Ziel heftend, das sie vielleicht nur allein sehen. Sie streben ihm nach, sie fallen, aber sie erheben sich wieder und erreichen es auch und das mit Recht. Jedoch, wenn Hamlet auch ein Skeptiker ist und nicht an das Gute glaubt, so zweifelt er nicht am Bösen. Er haßt es. Bosheit und Betrug sind seine Feinde; und sein Skepticismus ist nicht Gleichgültigkeit, sondern nur Verneinung und Zweifel, die schließlich seinen Willen aufzehren.«

Diese Gedanken Turgenjews liefern uns, denke ich, den wahren Schlüssel zum Verständnis seines Verhältnisses zu seinem Helden. Er selbst und mehrere seiner besten Freunde gehörten mehr oder weniger zur Hamletgruppe. Er liebte Hamlet, und er bewunderte Don Quijote. So bewunderte er auch Basarow. Er stellte seinen hohen geistigen Standpunkt sehr gut dar, er erfaßte voll den tragischen Charakter seiner isolierten Stellung; aber er konnte ihn nicht mit jener zarten, poetischen Liebe umkleiden, die er, wie einem kranken Freunde, seinem Helden angedeihen ließ, wenn er sich dem Hamlettypus näherte. Das hätte auch zu dieser Gestalt nicht gepaßt.

 

»Haben Sie Myschkin gekannt?« fragte er mich einmal im Jahre 1878. Bei den Strafprozessen gegen Mitglieder unserer Kreise erwies sich Myschkin als die machtvollste Persönlichkeit. »Ich möchte alles von ihm wissen,« fuhr er fort. »Das ist ein Mann; keine Spur von einem Hamlet.« Und dabei versank er offenbar in Nachsinnen über diesen neuen Typus in der russischen Bewegung, der in dem Stadium, das Turgenjew in ›Neuland‹ beschrieben hat, noch nicht vorhanden war, sondern erst zwei Jahre später erscheinen sollte.

Das letztemal sah ich den Dichter im Herbste des Jahres 1881. Er war schwer krank; dabei plagte ihn der Gedanke, es sei seine Pflicht, an Alexander III., der eben auf den Thron gestiegen war, und noch in der Wahl seiner Politik schwankte, zu schreiben, ihn zur Gewährung einer Verfassung aufzufordern und mit zweifellosen Argumenten die Notwendigkeit dieses Schrittes darzulegen. Mit sichtlicher Bekümmernis sagte er zu mir: »Ich fühle, ich muß es tun, aber ich fühle auch, ich werde nicht dazu imstande sein.« In der Tat litt er bereits fürchterliche Schmerzen durch einen Rückenmarkskrebs und vermochte kaum ein paar Minuten aufrecht zu sitzen und sich zu unterhalten. Er kam damals nicht zum Schreiben, und nach ein paar Wochen hätte es keinen Wert mehr gehabt. Alexander III. hatte in einem Manifest seine Absicht kundgegeben, unumschränkter Beherrscher Rußlands zu bleiben.

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