Friede H. Kraze
Amey
Friede H. Kraze

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Nelli ruhte auf der Terrasse. Wie immer um diese Stunde. Sie wußte, gleich würde Don Lund zu ihr kommen. Sie faltete die Hände über der noch knospenden und schon eingesunkenen Brust.

In diesem Augenblick stieg Don Lund mit Amey die Stufen herauf. Amey sah Nelli. »Ihr Wunder!« dachte sie. »Nellis Wunder!« Und als der schwere und leidenschaftliche Atem der Myrten und Orangen zu ihr kam, die von allen gesteigerten Stunden im Leben der Frau angenommen haben, trat Amey zu den Büschen. Sie brach zwei blühende Zweige und bog sie ineinander. Dieses Krönlein aus Myrte und Orangen setzte Amey auf die matte gelbliche Krankenstirn. Nelli erkannte die Blüten. Sie sah Amey. Sie sah Don Lund. Sie lächelte. Sie schien zu zerschmelzen in diesem Lächeln.

»Ganz nah«, bat Nelli. Sie streckte die erkalteten durchsichtigen Hände nach ihnen aus. Sie faßten sie in ihre Wärme. Sie setzten sich dicht an den Liegestuhl. – Nelli fing an zu erzählen. Sie flüsterte. Ab und zu klopfte der harte Knöchel des Hustens dazwischen. Von jenem Abend flüsterte sie. Als sie ihn traf. »Weißt du noch? – Geliebter, du weißt?« – Jeden Blick lebte sie wieder. Jede Güte. Jeden Atemzug.

»Muß ich nicht gehen?« dachte Amey. »Darf in dieses Geheimnis ein Drittes hineinsehen?« Aber Nelli verflocht ihre Hand fester in die Hand Ameys. Ihr Lächeln war wie vergoldet. Da begriff Amey: – Es gab keine zwei mehr und keine drei. Die tiefe, geweihte Wiege des Ureinen schaukelte diese Stunde. – »Küßt mich«, sagte die kleine Nelli. »Küsse mich, du mein Geliebter!« – Sie wendete ihr verklärtes Gesicht Don Lund entgegen. Er wollte, wie er gewohnt war, ihre Stirn berühren. Aber in diesen Augen war ein letzter Glaube. Da küßte Don Lund den blassen, sehnsüchtigen Mund. –

Nelli schloß die Augen. Zwei Tränen drängten aus den bebenden Wimpern. Vielleicht empfand sie kaum noch den Kuß Ameys. Glück! Glück! –

Die kleine Gestalt streckte sich. Sie lag wie entschwungen. Don Lund und Amey blieben wortlos nah.

Plötzlich öffnete Nelli ihre Augen weit und strahlend. Sie stand schon erhöht. Sie schmeckte schon die Verheißung. Da dachte Amey an den Augenblick als – dieses – auf der Terrasse gestanden hatte – dieses Ferne, Verhüllte. Sie kniete nieder. Und wie beim Gehen derselbe Rhythmus Don Lund und Amey ineinander verschmiedete, so gehorchten sie auch jetzt dem gleichen Gesetz. Auch Don Lund beugte ein Knie an der anderen Seite des weißen Lagers.

«Schönste Zwei! Liebste Zwei!« Nur wie ein Hauch kam es. Mit einer mühseligen Bewegung verflocht eine scheidende Hand zwei warme Hände des Lebens. Die kleine Nelli sah von Don Lund zu Amey. Opfer und Empfängnis wurden eins im Mysterium. Tod und Leben hielten seltsam hohe und süße Feier. Dies war die Vermählung der kleinen Nelli.

Die Sonne sank. »Zeigt mir noch einmal die Sonne!« Don Lund und Amey richteten den vergehenden Leib in die Höhe und stützten ihn mit ihren Armen und ihren Schultern. So sah die kleine Nelli zum letztenmal die Sonne untergehen. Hinter einem wogenden Ährenfeld.

 

Wochen voll lastender Mittagsdünste, flammender Beete, Samenflüge und der süßen Herbheit des Schnittes standen zwischen der kleinen Nelli Himmelfahrt und dem goldnen Wandel der Herbsttage.

Der rote Peter hatte die große Wanderschaft angetreten. Sein Herz war gekerbt wie mit einem glühend gemachten Nagel. Wenn erst die Kerbe vernarbt war – alsdann . . .

Muff und Würste, sorgsam geschieden, trug er mit sich im Ränzel.

Daß nur die Schwester vom roten Peter dieserhalb nicht zu kurz kam! Ameys Augen wurden weit und voll Glanz. War nicht auch die rote Hedwig ein Nächstes? Sie sah noch nicht deutlich in welcher Weise. Aber Fernen rückten nah. Räume schienen sich zu dehnen. Wände zu schmelzen. Oder war es auch ihr Herz, das wuchs und schmolz? Die Friedrichstraße stand vor Amey. Würden Zeiten kommen – dereinst – da auch diesen Schmerzen eine Heilung erfunden wurde? – »Schwestern«, sagte Amey still. Ihre Hände rundeten sich sanft wie zu einer Liebkosung. »Sie kennen nicht Sonne und Wind. Und kennen nicht Erde und Keim. Sie irren auf falschen Straßen. Aber was suchen sie anders als ein wenig Glück?« –

In der Burg war es still geworden. Elisabeth Ewald – oh, – so verändert – ganz erfüllt und durchblutet mit Luft und Schein und hoher Zeit, rosig und fast ein klein wenig rund, vertraute sich dem Ahorn an in dem fernen Hofe, um die Stunde, wenn die Wolken wie die Brustfedern der Tauben perlmuttern werden mit grünen und rosenroten Scheinen. Was bedeutete ein Winter voll »eins und, zwei und«, wenn doch jedes Jahr ein Sommer über die Welt kam?

Fräulein Bronklava hatte mit einem leichten Herzspann beim Abschiede feststellen müssen, daß sie der großen Endruhe um noch ein gut Stück ferner gerückt war. Aber sie ging fast ein wenig leichtfertig um mit diesem Gedanken. Doktor Gutenberg, ihr Freund, hatte nicht »die Burg« gekannt, als er nach Japan ging! Damals. Ehe Japan sich an den Fiebern des alten Europa ansteckte. Ein Unerwartetes hatte ihn wieder dorthin gerufen. Aber wenn er zurückkehrte, im nächsten Frühling – nun, es würde mancherlei Diskussionen geben über diese weiten Wälder, in denen das lieblich schlanke, geheiligte Eichhorn immer noch den Eschenstamm herunterglitt, Kunde bringend vom Urvater. Ja, hatte nicht Wotan, der sein eigenes Auge hingab um einen Becher Weisheit, hatte er nicht selber befohlen, hinfort dem weißen Christ Gefolgschaft zu leisten, weil aller Weisheit letzte Fülle die Liebe ist?

Auch die jungen Künstler waren nach Berlin zurückgekehrt. Sie hielten die Ernte des Sommers gegen den zuckenden Atem der Zeit. Was war geschehen an ihrem Schaffen? Woher kam ihnen Erwittern der Dinge, die vorher ihr Hirn nicht erklügeln und erquälen gekonnt? Wissendes Wollen war ihnen entsunken. Wie Samen hatten sie sich eingedrängt nach Quell und Urmitte hin. –

Wer so mit dem ersten Hahnenschrei – der die bösen Geister fortscheucht – aufsteht, Woche um Woche! Wer die hingeblauten Weiten erlebte, die aufglühenden Tage, den sanften Tau und die übersternten Nächte! Wer der großen Stille begegnete, wie sie in den Wäldern spazieren ging und über sich selber erschrak . . . Ja, und gab es auch noch ein anderes, das sie gelehrt hatte? – War es das zutrauliche Herrgottsvöglein, die Schwalbe? Deren Nest heilig war an Scheuer und Haus? Oder die klugen Häher und Spechte, die einen Wagen oder ein Pferd ansagten, lange, lange ehe das stumpfe Menschenohr darum gewahrte? Waren es die überstürmten Himmel, der dunkelgelbe Sommermond, die Pferdeköpfe an den Dachfirsten, oder die Lieder, die die Burschen und Mädchen sangen, wenn sie durch die Erntefeuer sprangen, und die so überrinnend voll von Süßigkeit und Trauer sind?

Es mag dies alles gewesen sein. Aber vielleicht waren diese Lieder dennoch der tiefste Grund. – Sie hatten sie mitgesungen: Marsyas, der Professor, der kleine Feldmann, alle. Und hatten sich mitgeschwungen und waren vor ihres Blutes schwerem Brausen erschrocken. War nicht in ihr Leben das Ungeheure getreten? Der Rausch und die letzte Stille? War nicht die reine Frau in ihr Leben getreten? Und die süße, süße Liebe? Und die Schmerzen der Liebe und ihre Heiligung? Ja – so hatte sich in ihnen letztes Lösen und Wandlung vollzogen. Wie im Sakrament. Der nie zuvor erschrieene Gott hatte sich schweigend in ihnen verleibt. – – –

Auf der Burg war es still geworden. Auf eine Zeit. Gegen Abend, wenn die Fenster anfingen von der Sonne zu leuchten und die Käthchen schon schlief in ihrem kleinen weißen Bett, öffnete Amey zuweilen den Flügel im Saal. Oder sie zog die vergoldete Harfe zwischen die Knie. Irgendeine alte Weise spielte sie: Ein Air, eine Sarabande.

Aber wenn sie auch spielte, etwas schwieg immer in ihr und träumte fern und sehr selig. Wie hinter all diesen Melodien immer noch ein fernes, seliges Schweigen stand.

»Vertrautes Gut!« dachte Amey, wenn sie, einen stillen Glanz in den Augen, die Stiege herauf schritt. Durch die hallenden Gänge und Zimmerfluchten voll preisloser Schätze.

»Vertrautes Gut!« dachte sie, wenn sie auf Fallada und begleitet von Blanchefloor durch die Wälder ritt. Oder durch das Land, umglüht von mattem Gold. –

In den Fichtenschonungen und an Gräben und Rainen spannten sich die Herbstfäden wie Netze. Ihr zartes Gewebe konnte am Morgen den starken Tau kaum tragen. Die Eichen standen noch voll im Laub. Aber in den Buchen war keine Schwere mehr, und von den Birken raubte jeder Wind einen Regen kleiner gelber Münzen. Hagebuttensträucher warteten korallengeschmückt am Wege. Der wilde Wein lief wie Feuer an Mauern und Toren in die Höhe. Und in den Gärten war das große Verschwenden angebrochen. – Ja, die Tage mit den ganz hohen Himmeln waren gekommen. Die Tage, die lodern und bereits verklärt sind.

Don Lund war auf dem Wege zur Burg. Gestern abend noch war er in einem jener Kaffeehäuser, durchfiebert vom Puls dieser überholten Tage. Die Luft war schwer von Zigarettenqualm und von unendlichen, verschütteten Keimen, denen kein dunkler Erdschoß bereit stand. Sie war bitter von verächtlich heruntergezogenen Mundwinkeln, und süßlich von Wunden, die man anderswo verbarg, und die hier kostbar und öffentlich bluteten, wie Schmucksteine in das welke Gold der großen Müdigkeit eingelassen.

Aber es war auch Klirren in dieser verbrauchten Luft. Anhebendes Brausen. Fanfaren. Denn nie und nirgend vielleicht schlugen Stirnen so hart an das erzene Tor, wie um diese Zeitwende. Umdrängte orphisches Stammeln von Rebellen und Gottsuchern kühner und brünstiger den Vorhang und den Rand der Schwelle.

»Wie Jakob im Traum!« dachte Don Lund, als er einer duftverhängten Landschaft und einem Morgen wunderbaren Glanzes entgegenfuhr. »Wie zu Bethel, da er sich die Hüfte verrenkte um den Herrn!« Ja, manchem Pilgersmann würde er die Burg weisen als Rastziel auf dem Wege zur Ewigkeit!

Er schloß die Augen sekundenlang. Wie der Bäume Blut war sein vergangenes Sein in die Frucht gestiegen. Jetzt wollte sie sich lösen vom Stamm. Etwas schloß ab. Ein Neues begann. Ein Höher hinauf. Ein geliebter Name war auf seinen verschlossenen Lippen. Streifte nicht eine Hand seine Stirn wie Fittich? Mancherlei Garn würde er ihr zu entwirren bringen! Er dachte an Zeiten, da Worte wieder erlöst wurden zu ihrer Wirklichkeit, und der Hader der Gedanken zur Ruhe kam. Denn worum ging es in all diesen Ekstasen und schrillen Visionen? Um die Erlösung aus der Haft der Hirne und den dumpfen Wellenschlägen irren Blutes. Um die neue Reinheit zerrangen sie sich. Um die neue Erde und den neuen Gott! –

Don Lund sprang aus dem Zuge. Amey erwartete ihn erst morgen. Aber er hatte viele Nächte durchwacht und durcharbeitet um den Erwerb dieses einen Tages. –

Don Lund ließ sein Gepäck auf der Bahn für den Milchwagen oder für einen Boten. Vielleicht war es gut, daß kein Wagen für ihn bereit stand. Er nahm sich nicht Zeit, einen zu mieten. Eine Strecke Weg zwischen den Beinen war gut. Der Rhythmus des Schreitens war gut, wenn das Blut brauste.

Horizontweit dehnte sich diese geliebte Landschaft. Ferner Wald schmolz violett in den Himmel. Wie ein Flug weißer Tauben lag die Sonne auf einem herzlich gerundeten Kirchturm.

Don Lund stand plötzlich still. Er preßte die Hände auf die Brust. Etwas in ihm wurde allzu groß: »Amey«, stammelte Don Lund. – – – – – – – –

 

Zuerst besuchten sie Nellis Grab. Bereits gesunken und ganz überdeckt von Spätrosen und weißen und blauen Astern. »Sie war glücklich!« Ameys Hand glitt abschiednehmend über die Blumen wie über einen Kinderscheitel. »Wie könnte ich anders in das Tor dieser Stunde treten?« dachte sie. – Denn Don Lund hatte seinen Arm unter den ihren geschoben. Wie der Herr die Dame seines Herzens führt.

Sie kamen am Gärtnergarten vorüber. Die Donnerschläge in die Blüte hatten recht behalten. Die Luft war süß von der Reife der Frucht. Gartenwilhelm kam durch den Mittelweg, auf steifen Armen eine Strohtrage, bereits ausgelegt für den Herrschaftstisch: lederbraune Birnen, samtene Pfirsiche und Nektarinen, große gelbrote Eierpflaumen, Reineclauden und Trauben. Er hatte Weinlaub, Büschel rahmweißer Japananemonen und Herbstveilchen auf die Trage gelegt. Bienen umsurrten sie.

Don Lund und Amey nickten hinüber. Ein Apfel löste sich irgendwo. Fiel ihnen zu Füßen. Er zersprang in zwei Hälften. Sie bückten sich gleichzeitig. Jeder gab dem andern seine Hälfte. Sie war wie aus Wachs mit rötlichen Flammen. Im Herzen die Kerne waren dunkel und reif. Sie sammelten sorgfältig die Kerne, wie sie den Apfel aßen. Sie sahen sich in die Augen. Leuchtend. »Von einer Reife zur andern!« –

Auf den Kartoffeläckern gingen die roten und weißen Kopftücher der Frauen wie große Vögel die Furchen entlang. Hier und da wuchs ein Rauchwölkchen in den Himmel. Kerzengrade und schlank. Wie vom Opfer Abels. Die Dreschmaschine brummte. Wie ein altes, gutmütiges Riesentier, dem Menschen zum Dienst. Auf andern Äckern gingen bereits Pferde und Pflug. Neues schmerzhaftes Aufreißen, neuer Same, neue Hoffnung – Kampf – Sieg – immer neuer Kampf – zu immer neuen Siegen! –

Don Lund und Amey kamen an der Tanzlinde vorüber. Die Kuppel drückte nicht mehr dunkelsamten auf den Wald der steinernen Säulen. Goldne Gelöstheit spielte zwischen den Zweigen. Blaue Quellen. –

Heute war Sankt Gereon. Dies war der Tag, an dem sie zum letztenmal im Jahre um die Linde tanzen durften!

Amey sah sich um. Hatte ihr jemand gewinkt? Die letzte der Hellbergschen Frauen? – Oder die erste? Die die Linde pflanzte? –

»Amey, darf ich eine Geschichte erzählen?« sagte Don Lund in diesem Augenblick. Amey nickte. Sie waren in den Wald gebogen.

Es war derselbe Wald, durch den Amey mit Thomas gegangen war. Aber die Beunruhigung der Frühlingstage hatte ihn verlassen und das schwere Schweigen des Sommers. Nur der Geruch des Terpentins, den der Sommer aus den Fichten und Tannen kochte, zog wie ein Strom durch den herbstlichen Duft der feuchten und gilbenden Blätter, der Gräser und Moose. »Ein Mann lebte auf einer Hallig«, sagte Don Lund. »Er war Prediger. Außer dem seinen war dort nur noch ein einziges Haus. – Er hatte allerdings zwei weitere Inseln zu betreuen. Aber das Meer schließt dort oben den Leuten den Mund. Ihre Seelen sind sehr tief versteckt. – Der Pfarrer hatte einen starken, lebendigen Geist, gesunde Sinne und ein glühendes Herz. Seine Frau hatte ihm ein sieches Kind geboren, und von der großen Einsamkeit rundum verwirrte sich ihr Verstand. Der Pfarrer lebte zehn Jahre lang mit der verworrenen Frau und dem Kind, das nicht sprechen konnte und sich nicht bewegen lernte. Dann starb das Kind. Die Frau fing an, mit Puppen zu spielen. Flut und Ebbe waren die einzigen, die kamen und gingen um die Hallig.« –

Amey zog die Schultern zusammen. Sie sah nicht das rote Gold, das von einem wilden Kirschbaum tropfte, und die zarte schwefelgelbe Flamme eines Feldahorns zwischen die bräunlichen Buchen verirrt. Sie hörte nicht das Knistern ihrer Schritte die goldne Gasse entlang von violetten Schatten überspielt. In ihren Ohren war das Donnern der Flut. Sie sah gläserne Wasserberge kommen und gehen. Sie sah das Watt aufgedeckt liegen, schlammig, grauschwarz. Schafe rupften das harte Gras. Lummen und Möwen schrien. Aber auch die unsäglich rührende Schönheit der blühenden Hallig griff ihr ans Herz. Dazwischen war der einsame Mann mit der kindischen Frau und dem kleinen grünen Hügel auf der Warft. – Amey drängte sich näher an Don Lund. Er hatte den Kopf zurückgeworfen. Er witterte Meerwind. Sein Atem stieß.

»Sie kam aus dem Osten.« Don Lunds Stimme war plötzlich ganz zart. Er bückte sich zu Amey. Er führte sie, als ob er sie trüge. »Sie war eines deutschen Geistlichen Tochter. Aber sie war in Rußland geboren. Die Ebene hatte sie großgesäugt. Die Weite der Natur, und die fromme Einfalt von Menschen, wie Tolstoi sie schildert. Sie kam in das Haus auf der Hallig als Krankenpflegerin.«

Don Lund blieb stehen. Er sah Amey an. Ohne daß sie darum gewahr wurden, hatte der Wald sie hinaufgenommen. Sie waren auf der Höhe des Wunschbergs. Vor ihnen lag das graue, einstöckige Haus mit dem gebrochenen Dach. Wie aus Nebel gebaut.

»Bin ich nicht schon einmal so hier gestanden und jemand hat mich so angesehen, und ich habe mein Herz gehört?« dachte Amey flüchtig. »Irgendwann. Irgendwann?« . . . Und wieder, als sie Don Lunds Blick zurückgab, dachte sie: »Wir kannten uns. Immer schon. Wie das Allernächste.« – Dann wartete sie.

»Ehe wir hineingehn.« – Don Lund ergriff Ameys Hände am Gelenk. Zart umfaßte er sie. »Dort oben sind die Hellbergs.« Seine Worte tropften schwer. »Alles ist dort festgefügt und Tradition und Gebundenheit. Das, was ich zu sagen habe, ist jenseit aller Umgrenzungen. Der Mensch siehet, was vor Augen ist. – Nur die ganz wenigen können Himmel und Erde voneinander sondern. Und dies war ganz Himmel. Amey – die Ehe mit der schwachsinnigen Frau, an der ein Mensch zugrunde ging, konnte nicht geschieden werden.

Amey, – eine Frau – ganz Frömmigkeit, ganz keusch und ganz Liebe wagte den Sprung. Sie dachte nicht einmal an sich selber. Sie opferte lächelnd und selig, alles was ihr Leben gestützt und geführt hatte.« Don Lunds Stimme brach. –

»Was geschieht?« dachte Amey. War es nicht wie damals, als sie zu zweit durch die abendliche Allee gingen? Als ihr war, als zuckte ein Blitz vor ihr nieder? – Spät war ihre Stunde gekommen. – Sie wollte sprechen. Ein Wort. Das eine Wort.

Aber Don Lund bat: »Sogleich.« – Er riß sich zusammen. »Das letzte, Amey.« Seine Stimme wurde stark. »Ich bin der Sohn dieser Frau. In der Heide bin ich geboren. Meine Mutter gab ihr Leben für das meine. Ich hatte vor dem Gesetz keinen Vatersnamen bei meiner Geburt.« –

Don Lund schwieg. Er gab Ameys Hände frei. Seine Augen brannten von jenseitigen Feuern.

»Was geht zu sterben?« dachte Amey. Oh – aber es war süß. Wie die reife Frucht dieses verklärten Herbstes löste sie sich von ihrer Vergangenheit auf der andern Seite der blauen Linie. Die letzte Hellberg starb. – Was sagte doch jemand? Die neue Elite? Und Blut erlöst Blut? Stand nicht der Frühling unter dem blühenden Kirschbaum?

Aber all dies währte nur sekundenlang. »Das Wunder!« sagte Amey. Ihre Stimme taumelte. Wo zog sie hin? Goldner Kahn – goldner Kahn? . . – Zerschmolz ihre Seele, wie ihr Blut erglomm? Zerschmolz ins All? – Sie hob die Hände. Sie hob ihr Gesicht zu dem Gesicht Don Lunds. Sie sah aus wie aus Licht gemacht. – Im nächsten Augenblick sank sie ohne Laut vornüber. –

Als Amey wieder zu sich kam, saß sie auf dem Empirestuhl mit den schnäbelnden Tauben. Aber um sie her war die leidenschaftliche Zärtlichkeit zweier lebendiger Arme. In ihrer linken Hand, die ihr im Schoße lag wie eine Schale aus Perlmutter, ruhte ein Mund. Er ruhte auf dem blauen W dieser Hand. Amey fühlte den feurigen Strom, der sie durchrieselte von diesem Munde her, und ihres eigenen Blutes Wellen weckte und trug. –

Sie saßen versunken. –

Nachher hob Don Lund seinen Kopf von den Händen Ameys. Er küßte ihr Herz. »Die Flamme deines Herzens«, sagte Don Lund. – »Wir brennen ineinander. Aber nichts sengt. Nur wie es leuchtet! Oh, wie wir leuchten und wärmen wollen!« Er richtete sich auf zu ihrem Munde. »Mein Du!«

»Wann küßten wir uns zum letztenmal?« flüsterte er. »War es, als wir vor den wandernden Gletschern zogen? Von den Fjorden südwärts?«

»Es wird damals gewesen sein.« Amey lachte wie ein Vogel im Mai. »Eigentlich wollten wir gleich hier bleiben. Die Landschaft lockte uns so sehr. Aber erst mußte noch Rom erobert werden! Weißt du, wie du vorauf rittest, das Elchfell um die Schultern? Sie hingen alle an deinem Mund und an deinem Auge.« – »Aber wenn wir rasteten, dann gehörte mein Mund und mein Auge einer einzigen süßen Frau!« –

»Ja«, sagte Amey. Ihre Hand glitt träumerisch Don Lund übers Haar. »Es kann auch auf einer goldnen Trauminsel gewesen sein. Wir lebten von Früchten, und alle Tiere waren uns Gespiel, und unsre Liebe war Frühling und Sommer in einem. Aber sah ich dich nicht einmal am Strande stehn, und du schautest in die Weite? – Was liegt dahinter?« fragte ich dich.

»Wirst du auch dort bei mir sein, wenn dieser Traum ausgeträumt ist, und wenn ich dort Werk schaffe? Habe ich dir nicht solche Antwort gegeben?« fragte Don Lund. »Damals? Komm, deine Küsse schmecken süßer, jedesmal wenn wir einander begegnen. – Aber erinnerst du dich auch noch an das Meer?« fuhr er fort. »Als wir zwei winzige silberne Fischlein waren? Und an die Blume, schön wie ein blauer Stern, und wir schliefen Gold an Gold in ihrem schimmernden Schoß? Wer ist Ich, wer ist Du? Wer wird es jemals ermessen? Weißt du noch, als wir das Ureine waren? Das süße Ungeschiedene?«

»Sind wir nicht wieder das Ureine?« flüsterte Amey an seinem Halse. »Wo ist noch Scheidung und Gegenüber?« Aber dann dachte sie – irgendein Glied fehlt uns in der Kette. Irgend etwas, was noch zu suchen bleibt!« – Aber es war keine Angst damit verbunden. Nur eine geheime Spannung. »Yolanthe Hellberg«, rief Amey plötzlich. »Sie sagen, ich gliche ihr.« –

Sie gingen zu dem Bilde, und wie jedesmal, wenn Amey davor stand, empfand sie Vertrautsein und Abwehr. Ihr Blick suchte.

»Dein Mantel ist krokusblau wie der Schal Ameys. Und dein Mund ist verführerisch wie Ameys Mund.« – Don Lund verglich. »Aber Ameys Herz?«

»Vielleicht.« . . . Ameys Augen weiteten sich. Irgend etwas zog herauf – wollte sie berühren, – wie damals. In jener Nacht. Ein Ungeheuerliches. – Amey warf sich gegen Don Lund, wie sie sich damals gegen die Tür geworfen hatte.

Er umfing sie. »Goldne! Was war!« – Es war nichts mehr. Amey lachte befreit. Zugleich suchte sie in seinen Augen. Hatte er nichts gespürt?

»Es war ihr Abschied«, sagte Amey schnell. Sie schauderte leicht, dann atmete sie tief und glücklich. –

»Ich glaube, jetzt hat sie Ruh – ich habe Ruh. Wir!« Sie schmiegte sich ganz hinein in Don Lund. »Dies ist das Glied, das noch fehlte!« sagte etwas in ihr. – »Erinnerst du dich nicht mehr daran?« Sie flüsterte: »Hieß ich nicht auch einmal Yolanthe Hellberg?«

»Du spürst tiefer«, sagte Don Lund. »Deine Sinne sind seiner. Wie es auch war, ich war immer mit dir!« Er streichelte ihr Haar und herzte sie. Die Sonne stand zwischen den zwei gelb flammenden Ahornen. Als ihr gebrochenes Licht über das Gesicht von Yolanthe Hellberg hintastete, schien es zu schmelzen. –

Amey hob den Kopf von seiner Brust. »Einmal stand Schuld zwischen uns?«

»Wer will es sagen? Vielleicht mußte einmal Schuld zwischen uns sein.« Er küßte ihr aufgehobenes Gesicht. »Alles sind Stufen.«

»Eros«, murmelte Amey. – »Thanatos! Und er bedeutet Vollendung!« Ihre Augen schwammen. »Vielleicht kommt mir aus fernen, gelebten Zeiten solches Erfühlen«, dachte sie. Die Friedrichstraße stand vor ihr. Wie sie sie geschmerzt hatte!

»Wie ich sühnen will!« rief sie. »Immer nur schenken Gar nichts mehr begehren! –

Aber du? Aber dich?« – Sie richtete sich schnell in die Höhe. Ihre Hände nahmen Don Lunds Gesicht.

»Gehöre ich nicht dir? Was solltest du begehren, was dir gehört hat von Anfang an? Durch Unschuld und Schuld? Wenn es so wäre. – Sieh, jetzt ist die Zeit unserer zweiten Unschuld. Sie ist kostbarer als die erste«, flüsterte er. Der träge, tote Teich stand plötzlich vor ihm. Jene Nacht. Vielleicht mußte er so fest umschmiedet vom Harnisch gehen, weil er ihn in einer früheren Gestalt abgelegt hatte, ohne Dürfen. Vielleicht mußte das eine sein und das andere, wenn ein Mensch die ganz hohe Schau antreten sollte, und das Verborgene sehen, klar wie das Aufgedeckte. Daß er das Dürfen aus Gott von dem ungezähmten Trieb zu scheiden lerne, und daß er erlösen lernte ohne Schuld, aus der tiefen Güte eines wissenden Herzens. – »Nelli!« dachte Don Lund! – »Mutter!« dachte er plötzlich. »Vater!« Er stand wieder vor ihm. Der ihm der Höchste war in der Welt, der Untadeligste bekannte sich schuldig vor seinem Sohn. Er sah diese türmende Gestalt ein wenig gebückt. Die luftgebräunten Hände ineinander verschmiedet, daß die Adern wie Baumwurzeln herausdrängten. Er sah die Lippen wie für ewig verschlossen nach dem letzten Wort, und die lichtlosen Augen.

Die Erschütterung von damals stieg ihm in die Kehle wie ein Würgen.

»Wann werden wir zu deinem Vater reisen?« fragte in dem Augenblick Amey. »Und zu deiner holden Mutter Grab?«

Da schluchzte Don Lund. – – –

»Es weint sich süß in deinem Schoß«, flüsterte Don Lund hernach. »Ich weiß nicht, daß ich je in meinem Leben geweint hätte. Außer – damals.« Seine Augen waren noch naß, aber ihr Leuchten war stark. »Fast hinter seinem Rücken mußte ich meinen lieben, alten Herrn kurieren.« Er lächelte zart. »Er wollte keinen Arzt fragen. Er nahm seine Erblindung von Gott. Er war in bezug auf sich ganz alttestamentarisch. Schuld verlangte Strafe.«

»Darum mußtest du Augenarzt werden!« jubelte Amey.

»Oh du! Damit der neue Bund über den alten triumphierte!«

Sie sahen sich an, verklärt. –

Nachher gingen sie zurück zu dem Schreibtisch aus rötlichem Holz, mit dem verborgenen Geschiebe. Amey entnahm ihm Onkel Rhabans Brief. »Er gehört dir. Wenn wir ihn zusammen lesen, wird er ganz nah bei uns sein! – Er liebte dich im voraus, und er erahnte dich für mich.« Wie sie standen, aneinandergelegt, klangen Schritte auf dem Vorplatz. Don Lund trat zurück von Amey. Es klopfte. Als Amey »herein« rief, verbreitete sich sogleich ein neuer köstlicher Geruch im Zimmer. Die junge, allerliebste Frau Försterin stand in der Tür und knixte. Fast zum Unheil eines Tabletts in ihren Händen. Kaffee – sie verwahrte immer eine besondere Büchse mit Herrschaftskaffee – duftete so überaus köstlich und anheimelnd. Und frisch gebackner Zwetschenkuchen. Und Rosen! –

Aber die Tassen der Kaiserin? – Die rote See überflutete vom Nacken her ganz und gar das Gesicht Ameys. Die zarten Täßchen, Alt-Wien, seine Girlanden um Namenszug und Krone, waren ein Hochzeitsgeschenk von Maria Theresia an eine Ahnfrau Ameys, die mit Marie-Antoinette gespielt hatte. Sie standen in einer Vitrine auf dem Wunschberg. Immer nur hatten Hellbergsche Brautleute daraus getrunken, wenn sie zum erstenmal den Wunschberg besuchten. Ahnte die kleine Frau etwas? –

Vielleicht war es auch nur der Wunsch zu erfreuen. Sie war ganz jung verheiratet. Vielleicht kannte sie die Bedeutung der Tassen noch gar nicht.

Wie dem auch sein mochte. – »So sehr vielen Dank!«

Amey und Don Lund tranken Kaffee aus den Brauttassen. War es nicht, als seien sie schon für immer zusammen? So sehr hold war dieses erste festliche Mahl mit dem Wissen um ihr Glück.

Amey schenkte den Rahm, dick wie geschlagen, aus einem alten silbernen Kännchen, das schon den Fuggern gedient hatte. Aber nach dem Zucker. Sonst gab es einen streitsüchtigen Mann in dieser Ehe! Der Zucker, großkörnige Kristallwürfel, war Hellbergsches Gewächs.

Don Lund sah den Zucker an und die silberne Renaissanceschale, in der er lag. Er sah die Brauttassen Alt-Wien mit der kaiserlichen Krone, und alle die Dinge ringsum. »Weißt du auch,« sagte Don Lund, »wen der Teufel zu Fall bringen will, dem gibt er einen Schatz!«

»Es gibt auch dumme Teufel!« Amey legte mit leisem Lachen einen frischen duftenden Zwetschenstreif auf Don Lunds Teller.

»Und kluge Liebsten! Gib!« Und er meinte die Hand selber. »Als die guten Haushalter der mancherlei Gabe Gottes!« Don Lunds Stimme klang stark und voll Jubel.

»Vertrautes Gut!« sagte Amey. Sie sah sich um und ließ ihre Hand im Kreise wandern. Sie lachte und weinte in einem.

Nachher traten sie heraus auf die Terrasse. Herbstblumen brannten in hellen und dunkeln Feuern die Rabatten entlang: Calendula, wie Sonne und Mond, purpurbraune und flammende gelbe Helianten, letzter Phlox, weinrot und violett, glühende Dahlien, Astern aller Größen und Farben und Töne, Anemonen von Caen und die schlanken, gesternten Speere der Gladiolen.

Wellen von Resedageruch und Herbstveilchen überfluteten die Terrassen. Das Laub des edlen Weines war dunkel durchblutet, und die steinernen Götter standen wie im Rausch. Die Sonne zwischen den flammenden Ahornen liebte sie zurück in Jugend und Schönheit und Unschuld.

»Deine Augen sind wie Weinbeeren«, sagte Don Lund. »Der Gott spielt in Beere und Auge!« Er pflückte Amey von den Trauben, und ihre Augen küßte er. »So küß ich Gott!« sagte er stark. »Der sich wiederum der Frau schenkt. Und von ihr geboren wird: Die neue Liebe!« – – –

Sie gingen hin und wieder. Der Herbstgeruch, die Feuer der Blumen und Bäume, die tiefe Stille rundum, der verklärte Himmel, die Sonne und ihre Herzen, alles schien das eine und das gleiche.

»Vielleicht steht noch ein Ungeheueres dazwischen«, sagte Don Lund. »Denkst du an die Weissagung von der Hallig? Und an die alte Ariane und die vielen Haselnüsse?« Er lächelte, als er Amey näher zu sich nahm. »Es sind auch noch andere Zeichen dafür. Und das Maß der Zeit ist voll.« –

Er spürte ihr bebendes Herz. Aber er sah auch den Blick ihrer Augen. Sie hing an seinem Leuchten. Wie an einem Banner.

»Amey,« sagte Don Lund, »was auch kommen mag – die Menschheit drängt über den Rand. Neuer Höhe entgegen. Neue Erde will grünen. Wir sind ihr Anfang. Alle Liebenden sind neuer Anfang und Urbeginn!«

Sie standen auf dem Podest unter dem schmalen Balkon. Sie standen verschmiedet wie die zwei W über ihnen. Sie standen im Gold des Abends und des Herbstes wie in einem Rahmen aus Feuer. Dann schritten sie die Stufen hinunter. Neuen Frühlingen zu. Und neuen Reifen. Auf der neuen Erde. –

 
Ende
 


 << zurück