Friede H. Kraze
Amey
Friede H. Kraze

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Amey hatte eigentlich nicht zu Tisch gehen wollen an diesem Abend. Sie empfand Schwindel und Übelkeit. Nachher hatte sie sich gezwungen. Eine Weile hatte sie es ertragen. Hernach war das Gespräch auf den Mord an dem Kommerzienrat Gerber gekommen. Ein früherer Angestellter von ihm, der ihn mehrmals betrogen hatte, krönte seine Verschuldungen zuletzt damit, daß er, aus dem Gefängnis entlassen, seinen ehemaligen Brotherrn erschoß. – Amey wußte nicht, ob und was darüber von den andern oder von ihr gesagt worden war. Sie hatte den Tisch mit einem plötzlichen Unwohlsein verlassen müssen. Fräulein Fink erbot sich liebevollst, in Ameys Wohnzimmer zu schlafen . . . Oh, danke. Nein. Nein. – Dürfte die Frau Generalin denn kommen? Oder Frau von Wickede? Es tat doch allen so sehr leid. – Ach, bitte, nur allein lassen.

Die Generalin wiegte bekümmert den Kopf auf dem kurzen fleischigen Halse. Dabei zog sie die Augenbrauen vielsagend und in hohen Bogen über die Puppenaugen. Ob da am Ende doch etwas gespielt hatte mit diesem zuerst so scharmanten jungen Doktor? – Die Generalin beglückwünschte sich herzlich: Besser bewahrt als beklagt! – Sie hatte Amey behütet. Aber das arme Kind! So ohne festen Halt aufgewachsen! Jedenfalls – sie ließ sich zwei Weingläser voll frischen Wassers bringen und tat aus winzigen Fläschchen ein paar Tropfen hinein . . . Die Baronesse möchte abwechselnd einen Schluck nehmen alle Stunden. Ohne eine kleine homöopathische Apotheke reiste die Generalin niemals.

Frau von Wickede setzte sich auf einen niedrigen Stuhl, senkte den hellgelben kunstvoll frisierten Kopf, und mit ihren seltsamen Augen, die wie ein Spektrum wirkten, betrachtete sie angelegentlich die Mitte ihres hageren Leibes. Dieses Mittel der Konzentration hatte sie der Jahrtausende alten Erfahrung indischer Yoghis entlehnt. Sie wollte so lange und so intensiv an Amey denken, bis diese von ihrem Bette aufstand und wie eine ergebene Somnambule bei Frau von Wickede anklopfte, um durch sie von den Unruhen des Selbst erlöst und in aller letzten Weisheit kühle Urgründe eingeführt zu werden. Aber ob Frau von Wickede zu sehr in den Triumphmomenten einer solchen Bekehrung schwelgte, oder ob sie zu stark mit der Anordnung der dunkelgelb und violett gebatikten Kreppfalten über ihres Leibes Mitte beschäftigt war – genug – Amey wurde in keiner Weise von jenen konzentrierten Wünschen beeinflußt. Amey warf ihre seidene Daunendecke, die sie auf Reisen mitzunehmen pflegte, heftig herunter. Sie hatte die Empfindung, als ob ein Turm über ihr wuchte. War sie krank? Ihre Haut war trocken und heiß. »Es wird das Fieber sein«, dachte Amey. »Mein getreuer Freund. – Aber, was tut ein wenig Fieber?« Ihre Mundwinkel zogen sich geringschätzig herunter. Es gab wirklich anderes zu bedenken.

Sie öffnete die Augen. Ein matter Lichtschein strähnte durch die Gardinen. Er legte sich wie eine geflochtene Matte auf den Teppich. Aber auf dieser feinen gelblichen Matte lagen schwer und dunkel zwei Kreuzbalken übereinander. Zu Häupten dieses Kreuzes stand er plötzlich.

»Wie sonderbar!« Amey wunderte sich gar nicht, daß er dort an ihrem Schreibtisch stand und mit diesem kleinen, höhnenden Lächeln zu ihr hinsah. Sie dachte nur: »Die Frau war es doch und die Kinder? An diese habe ich zuletzt doch fortwährend gedacht. Und nun steht er dort an meinem Schreibtisch!« Aber während sie noch so staunte, war der Stubenmaler mit seinem kurzgeschnittenen Sträflingshaar, den Amey niemals im Leben erblickt hatte, bereits wieder verschwunden, und nun drang der Schweiß in kleinen und eiskalten Tropfen Amey aus der Nackenhaut. Denn wiewohl niemand mehr im Zimmer stand, sah sie noch immer dieses rätselhafte und leise höhnende Lächeln. »Wenn er mich beschimpft hätte«, dachte Amey plötzlich verzweifelt. Und wie ein böser Schemen, durchsichtig und zugleich zuckend von Leben war plötzlich der rote Peter im Zimmer, um ebenso schnell und rätselhaft wieder zu verschwinden. »Thomas!« schrie Amey. Aber Thomas Vernow kam ihr nicht zu Hilfe. Im nächsten Augenblick hatte sie ihn wie den roten Peter schon wieder vergessen. »Ich weiß nicht, warum er mich beschimpfen sollte«, dachte sie. »Aber ich glaube, ich hätte es leichter ertragen als dieses Lächeln!« Sie ballte ihre feinen schmalen Hände. Und wie sie sie in die Augen preßte: so sehr viele Stimmen redeten plötzlich durcheinander. War es Herr von Odebrecht oder der eben angekommene Präsident des Reichsgerichts, oder war es der Oberhofprediger? Alle beschäftigten sich mit dem unglücklichen Opfer. Und plötzlich empfand Amey unzählige Augen hart auf sich gerichtet.

Amey fing an zu zittern. Sie sah ein erblichenes Frauengesicht. Sie sah zwei kleine Köpfchen mit geschlossenen Augen und bläulichen Lippen. – »Sie werden für ihn bitten«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Liebe hat helle Augen.« – – Sie flammte. »Eine geringe Summe – der Kommerzienrat brauchte soviel an einem Abend, um sich zu unterhalten . . . Und wenn dann jemandes Frau und Kinder am Verhungern sind . . . Böhm hatte doch den Verstand verloren vor Verzweiflung! Er hat sie ehrlich wiedergeben wollen, die paar hundert Mark. Aber . . . es scheint länger zu dauern, kleine Summen zu erübrigen als große zu gewinnen. Bitte.« Amey saß kerzengerade auf in ihrem Bett. »Was sagen Sie? Hätte nicht dieser Fabrikherr nachforschen müssen, wie die Dinge liegen? Wie leicht wäre es ihm gewesen, hier alles ins Gleis zu bringen. Er hätte eine ganze Familie errettet. Nicht nur zum Leben, zum Guten und zum Glück hätte er sie errettet!« – Amey konnte nicht länger in ihrem bequemen Bett bleiben. Sie mußte all diesen Menschen, deren Stimmen und Gesichter um sie her waren, nachdrücklicher kommen. Auf dem weichen Teppich ihres Zimmers, in der milden Wärme, die Tag und Nacht durch die Zentralheizung die gleiche blieb, ging sie hastig auf und nieder in ihrem Nachtkleid aus Spinnweb, das wie eine feine Wolke hinter ihr herzog. »Nun aber, was geschieht«, rief sie außer sich. »All die Jahre hinter den hohen Mauern kommt diesem gefangenen Bösewicht nicht einmal nur der Gedanke: der andre hat Schuld!«

»Der Kommerzienrat?« staunten die Stimmen. »Der Ermordete?«

»Ach so«, sagte Amey. »Der Ermordete! – Allerdings.« – Sie schwieg. Aber in diesem Augenblick mußte sie sich an den Kleiderschrank klammern. Ihr ganzer Körper flog. »Natürlich sorgen wir für unsere Leute. Wir sorgen doch auch für unsere Pferde«, rief jemand dazwischen. – »Oh,« bat Amey, »oh!« Ihre Stimme war wie eine ganz kleine gepeinigte Kinderstimme. – Aber wie sie sich noch quälte, wer das gesagt haben konnte, sah sie auf einmal das Gesicht Onkel Rhabans. Es sah beunruhigt aus und ein wenig gezogen und unglücklich, als ob man verlange, daß er ein übles Medikament verschlucken sollte. – Das derbe, sichere, rotbraune Verwaltergesicht stand daneben, – und jemand in der Ferne, ein Fremder, ein Arbeiter? – Amey sah nur einen Rücken. Ein gekrümmter Rücken schob sich die Stallmauer entlang dem Hofausgang zu. »Vorbestraft, gnädiger Herr, um Gotteswillen . . .«

»Onkel Rhaban wußte nicht, was das bedeutet«, sagte Amey leise. Ihre zitternde Stimme versuchte zu verteidigen. – »Auch ich – auch ich . . . Was wissen wir denn?« – Und nun waren plötzlich alle die jungen aufrührerischen Künstler, der Kreis der Bronklava um sie her. Wie gute, mitleidige Tiere sahen sie sie an, das fremde verirrte Königskind. Aber des roten Peters unbändiger Zorn überschäumte sie wie eine wilde Woge. »Ja«, sagte Amey leise. Sie kreuzte die Arme über der Brust, ihr Kopf duckte sich wie unter Schlägen. »Alles ist morsch«, wiederholte sie die Worte des roten Peter. Ihr Muff flog am Wagenfenster vorüber, und die schiefen Häuser wankten und verkrümmten sich wie Trunkene. –

In diesem Augenblick tat es einen dumpfen Fall. Gleichzeitig öffnete sich die Tür Ameys. Jemand glitt herein. Eine kleine, dürftige Gestalt im schwarzen Kleid mit weißem Schürzchen und Häubchen. Sie überströmte die Hände Ameys mit ihren Tränen, und mit den harten, verarbeiteten Fingern, die beim Servieren weiße Baumwollhandschuhe trugen, rieb sie diese ganz schmalen, weißen, eiskalten Füße. Und auch über diesen Füßen, die wie fremde Kostbarkeiten aus Alabaster aussahen, weinte das kleine Hausmädchen in Schmerz und Liebe und Glück, und es fehlte nicht viel, sie hätte sie mit ihren Haaren getrocknet, wie andere Füße dereinst betränt und getrocknet worden waren. »Ach«, sagte dabei fortwährend die kleine Lina. »Ach, ach.«

Wie eine russische Leibeigene hatte sie auf einem Fußteppich vor Ameys Zimmertür gelegen, seit das Haus schwieg und die Lampen verlöschten. War sie nicht bei der Käthchen gewesen? Die Baronesse, der alle Dienstboten fanatisch anhingen? Und davon wurde sie krank. Aber demutsvolle Dankbarkeit und hingebende Liebe schaffen Helden und Riesen. So mochte es auch diesem halben Kinde gelingen, das unterernährt war und bleichsüchtig wie alle Großstadtkinder ihrer Klasse: Zuletzt lag der leichte, reglose und kühle Körper Ameys auf dem Bett. Erst dann schlich die kleine Lina hinüber und weckte Fräulein Fink. – – – – – – – – – –

 

Amey ging immer und staunte, daß es so hier war. Nein, das hatte sie doch wirklich niemals gewußt. Als die alte Ariane am Morgen mit dem heißen Wasser in ihr Zimmer trat, schlug sie drei Kreuze. »Jesus Maria!« – Amey hatte bereits selber Fenster und Läden weit geöffnet. Sie stand – Ende März – in ihrem Nachtkleid aus Nebel und Spitzen vor dem offenen Fenster und bürstete ihr Haar. Dabei tat sie, als ob ein köstliches Naschwerk auf ihren Lippen zerginge. Und während ihre alte Kindermuhme ängstlich die dampfenden Zinnkrüge niedersetzte und auf ihren zitternden Beinen, so schnell sie konnte, dem Fenster zustrebte, warf Amey die kostbare Bürste aus Silber in die Höhe wie einen Gummiball: »Die Luft,« sagte sie, »oh, Ariane, diese Luft!« während sie mit beiden Händen zum Fenster hinausgriff. – »Goldne Amey – wo du doch in dem Berlin eben erst so sehr krank gewesen bist!« entsetzte sich Ariane.

»Ach was, krank!« Amey zog die Augenbrauen zu kleinen, spitzen Winkeln. Sie stand nachdenklich und verwirrt, als versuchte sie, Stücke eines zerflatternden Traumes ineinanderzupassen. Aber plötzlich schüttelte sie ungeduldig und abweisend den Kopf. – Jedenfalls – sie lachte befreit und streichelte den schwarzen Tuchärmel der alten Getreuen – diese Luft war kostbar genug für Gesunde und Kranke.

Alle Pferde mußten begrüßt und geliebt werden. Und die Hunde wurden toll. Aber vorläufig verlangte Amey weder auszufahren noch auszureiten. Und Blanchefloor, das schlanke, silbergraue Windspiel, das allein Amey überallhin begleiten durfte, erregte die tobende Eifersucht der Meute, die im Zwinger verschlossen blieb.

Kaum gefrühstückt, war Amey hinausgelaufen. Jeden Tag machte sie es so. Giacomo hatte harte Arbeit mit dem Gong vor den Mahlzeiten. Amey konnte sich niemals draußen ersättigen. Ihr war, als erlebe sie diese Landschaft zum ersten Male. Aber jeden Abend, wenn die Lerche, die vor den himmlischen Heerscharen sich verströmt hatte, wieder für eine Nacht aus dem Himmel fiel, sank Amey in ihr Bett hinter den seidnen Baldachinen. Sie war doch noch matter, als sie wahrhaben wollte.

Dies war so wunderbar: Amey war doch oft genug mit Onkel Rhaban lange von hier fort gewesen. Aber diesmal . . . Nicht daß der Winter schon vollkommen überwunden war. Auf dem Burggraben steckte das Schilf am Rande noch im Eise fest. Aber in der Mitte war das Wasser wie dunkler Bernstein, als ob es die Schneeschmelze schon Wochen hinter sich habe. Wenn man frühzeitig durch den Park ging, der Sonne entgegen, die hinter den hohen, kahlen und doch schon so seltsam lebendigen Baumkronen stand, so flocht sie aus dem Nebel breite, weiße, durchsichtige Strahlenbänder, wie sie von dem Stern ausgehen über der Krippe auf Weihnachtsbildern. Amey raffte plötzlich ihren Rock in die Höhe. Was würde Ariane sagen! Dabei bemerkte sie mit Genugtuung, wie ein blanker und schwärzlicher Belag wie lackiertes Leder sich um ihre braunen Stiefel gelegt hatte: Das Bruch trug nicht mehr. – Vor den Ellern und Birken am Rande stand ein Schnepfhahn stolz auf gespreizten und festen Ständern. Sein Halsgefieder sträubte sich kostbar wie eine spanische Tellerkrause über den gestreckten Flügeln. Man wußte nicht, spielte er mit der Sonne oder erwartete er eine Braut. Amey bückte sich. Brodelte es nicht im Grunde? Zwischen Porst und safrangelbem Milzkraut drängte der Aaronstab. Amey pflückte ein paar dieser kühlen, saftgefüllten Blätter und legte sie an ihre Wange. Verrieten sie ihr nicht die Geheimnisse des Moors? Alle diese Wunder von Wachsen und Werden und Vergehen und wieder Wachsen und Werden?

Auf den Äckern hier und da lag der seine grüne Schimmer der Wintersaat. Es waren Herrschaftsäcker, weit und gedehnt. Das Bauernland drängte nach Süden in einer stumpfen Spitze in sie hinein. Die Leute waren auf dem Felde und pflügten. Es war Zuckerrübenboden. Die aufgerissenen Furchen dampften hinter dem Pfluge her. Die Schollen funkelten wie blaue und gelbe Metallblöcke. Scharen von Krähen stritten sich um Engerlinge und Regenwürmer. Plötzlich tauchte strahlend eine weiße, fremde Schar am Himmel auf. Zuerst glaubte man es nicht und rieb sich die Augen. Dann erkannte man: Möwen. – Das Meer schickte zuweilen auf Meilen hinaus solche geheime Sendboten. – Zuerst wütete der Brotneid der Krähen. Dann ergaben sie sich der Mehrheit. Wie schwarze und weiße Mönche zog es jetzt dem Pflug hinterdrein, den Zehnten einsammelnd von allem Gut. Dem Pflüger hing schief eine Pfeife im Munde. Die heimelnde Mischung von Weichselholz und Tabak kam bis zu Amey hinüber. Dieser Geruch brachte die süße Herbheit der Luft doppelt stark ins Bewußtsein. »Berlin«, dachte Amey plötzlich. Aber sie dachte es, wie man denkt: Babylon oder Karthago. – Es versank sogleich wieder. Es lag allzu fern. Amey fing an zu laufen. Sie winkte grüßend hin zum Bauern, der bedachtsam die Kappe vor ihr gerückt hatte und bedachtsam, ohne den Mund zu verziehen, nur in den klugen Augen ein freundliches Erkennen, hinter ihr drein sah. Sie mußte immer laufen jetzt. »Bin ich ein Vogel,« dachte sie, »oder bin ich ein Baum? Ich möchte fliegen, aber ich möchte auch wurzeln und Blätter treiben und Blüten.« »Erde,« sagte etwas in ihr, »Heimat!« – – »Leben!« rief sie laut und lief.

Vor dem Dorf traf sie die Schafherde. Der alte Butendiek in seinem langen blauen Rock stand wie immer mit dem Strickstrumpf; der Spitz kläffte wie ein Rasender im Kreise und rief etwaige mit einem vagabundierenden Trieb Beschwerte wieder zu Regel und unabänderlichem Schafgesetz in die bestimmten Kreise. Die kleinen jungen Lämmer blökten, gruben sich frierend in den mütterlichen Pelz und zerrten als gierige Nimmersätter an den geduldigen und strotzenden mütterlichen Eutern. – Wieviel hundert Jahre war das nun schon so, daß so ein Butendiek hier gestanden hatte und gestrickt – und der Spitz wurde verrückt, und die kleinen nackten Lämmchen unternahmen ihren ersten Ausflug! – »Morgen auch! Schön Wetter, Butendiek. Wie geiht dat?« Ameys Dialektwörterschatz war eng umrandet. Sie empfand es plötzlich als Schande. »Dat geiht all god, bet op de Knaken, gnä Frölen, de sün morsch.« »Morgen bring ich Tabak«, rief Amey. – »Ja, ja.«– Sie hörte das kleine, greisenhafte und kichernde Lachen hinter sich drein. Seit sie in Wadstrümpfen ging, waren Butendieks Knaken morsch, und sie hatte ihm seinen Tabak gebracht und dieses kleine, kichernde und greisenhafte Lachen gehört.

Hinter den kahlen Pappeln tauchten die ersten Dachfirste auf mit Wotans Pferdeköpfen, die samtig roten Backsteinhäuser mit den moosbewachsenen Reeddächern, die sie wie Schlafmützen bis an die Augen herunterzogen, und auf denen die Störche viel lieber nisteten als auf den herrischen und neumodischen Ziegeldächern. An den Häusern wurde hier und da ausgebessert, frisches Reed eingeflickt, Türen und Zäune neu gestrichen. Es roch nach Ölfarbe und nach verbranntem Kräutig. Der Winter wurde ausgeräuchert und gründlich. – Amey nickte den Häusern zu, wie liebsten Freunden. Aber sie konnte sich noch nicht entschließen, ins Dorf zu gehn. Alles war noch so wunderbar fern. – – –

Und dann – als eines Tages lauter flammende Bänder durch den Garten sich schlangen! Das waren die kleinen feuerroten Duc van Tholl-Tulpen, die niemals die Zeit abwarten konnten. Und pflücken durfte man von allem, selber pflücken. So viel man wollte. Einmal, als Amey Narzissen trug, ging ein grübelnder Ausdruck über ihr Gesicht. Stand nicht ein Mädchen am Wege? In einer alten geflickten Jacke, mit einem breiten gutmütigen Gesicht? In den erfrorenen Händen hielt sie matte Blumen und Zweige, die irgendwo im Süden gewachsen waren, und an denen sie sich freute, ohne sie zu besitzen. – Amey war öfter zu ihr gegangen. Jede Woche hatte sie ihre armen Blumen gekauft. – Sie stand still. Der Geruch dieser frisch gepflückten Narzissen, die anders rochen als alle, die man kaufte, kam zu ihr herauf. »Elisabeth«, sagte sie plötzlich. »Für Elisabeth habe ich niemals Südblumen genommen!« Sie schien jemand zärtlich zuzunicken. Aber das Gesicht der kleinen Musiklehrerin, das sie so grüßte, war schon wieder versunken. Alles, was sie in Berlin gelebt hatte, schien durch die Krankheit wie durch einen Nebel von ihr getrennt. Sie lauschte. Oh! – Die Tränen stürzten ihr plötzlich aus den Augen vor Glück. Sie lauschte wieder. Jawohl, es waren Kraniche! Ihre Kette, wie eine langgezogene Eins, schwang sich über den Söder Forst nach Norden zu. Sie trompeteten, wie zu Königs Einzug. »Frühling«, sagte Amey glückselig. »Leben«, sagte sie. Sie bekam Augen wie die Toten auf alten Bildern, wenn ihnen unter Posaunen Engel zwischen den zertrümmerten Grabplatten heraushelfen.

Amey lief in die Halle und ordnete ihre Zweige und Blumen in großen und kleinen Schalen aus Bronze und Ton und Kristall, wie jede Blume sie braucht. Dann lief sie wieder hinaus. Der erste Flor der Pfirsichbäume zog hinter ihr drein wie der Schleier der Liebesgöttin. Schwarz und goldene Bienen fielen wie Edelsteine aus den Baumkronen in die Tulpenbeete, und wo die Arabis schäumte und der Frühlingsphlox. »Wer ist da, wen sah ich?« Amey hielt jäh inne. Mitten im Garten unter dem eben erblühenden Kirschbaum stand doch jemand? Erkannte sie nicht die Gestalt und die jubelnden Augen? Aber niemand war zu sehen, als sie näher kam. Sie faltete die Hände vor der Brust. »Es war der Frühling,« dachte Amey, »der unter dem Kirschbaum stand!« »Aber dieses Gesicht?«

Der Gärtnerbursche kniete vor einem Hyazinthenbeet. Sein kleiner grüner Hut saß ihm verwegen auf der linken Seite. Als er sich aufrichtete und den Korb mit all diesen zartgefärbten, porzellanartigen und durchsichtigen Blüten aufhob, fing er an zu singen: »Morgenrot, Morgenrot . . .«

Ja, so war das hier: Wenn sie am glücklichsten waren, sangen sie die traurigsten Lieder. Amey bog in einen Seitenweg. Sie kam über die Wiese. Die Kiebitze! Nein! Sie stand still. Zwei Kiebitze führten ihre Liebestänze auf. Sie umkreisten sich, sie beschrieben seltsame Kurven und Linien, sie entflohen, um ereilt zu werden. »Dies?« dachte Amey, »dies?« Sie ging auf den Zehen, um sie nicht zu scheuchen. Der Tag fiel ihr ein, als sie über dieselbe Wiese zum Gärtnergarten gegangen war, dem Schmetterling hinterdrein. Sie errötete. Vom Nacken aus überquoll die rote See ihr ganzes Gesicht, nach der Krankheit und nach Berlin noch eindringlicher an das Weiß der Akazienblüten erinnernd. Hatte sie daran gedacht? Hatte sie solche Vorstellungen gehabt, wenn sie mit Thomas zusammen war? – Sie stand still. Dann schüttelte sie bestimmt und staunend den Kopf. Was war mit ihr? Wie war das seltsam! Ihr Hafen lag vor ihr, aber ihr Schiff zog noch auf hoher Flut!

Sie ging weiter. Sie sah sich um, als erlebe sie die Landschaft zum erstenmal: diese dunkelvioletten, geheimnisvollen Schatten, dieses schwere und zugleich fließende Grün der Wiesen, alle diese tief gestillten Farben, die dennoch aus einem eigenen und innerlichen Feuer heraus glühten, die abgründig waren, und doch durchsichtig, als seien Lasuren über Lasuren gelegt, diese aus lauter Zartheiten zusammengeraffte, vom April überflimmerte und fortwährend veränderte Pracht, in der immer noch ein Verborgenes war und ein verhüllter und unerhörter Reichtum: – dieses war ihre Landschaft. – Hier wurzelte sie. Auch in ihrer eigenen Zartheit waren verborgene Feuer und Abgründigkeiten.

Vielleicht wußte das niemand. Alle, die ihr von Liebe gesprochen hatten bisher, hatten sie nicht nur die eine Seite ihres Wesens geliebt, die licht war und durchsichtig? Thomas auch? – Ja, auch Thomas. Ein mütterliches Lächeln ging um ihren Mund. Auch er wollte sich erlösen in eine große Helligkeit hinein. Sie stand wieder und staunte. Wußte sie im vorigen Frühling, daß ein solches Geheimnisvollstes in ihr war? Sie schüttelte den Kopf. Nein. Dies wurde ihr erst gesagt! – So war sie dennoch der blauen Linie näher gekommen in diesem Berlin? Sie sah in die Weite. Der Kolüt flötete. Eine Wolke legte einen breiten dunklen Streifen hinter ihr nieder. Vor dieser Dunkelheit stand Amey wie auf Goldgrund gemalt. »Ich bin auf dem Wege.« Etwas in ihr regte sich, wie frohe Flügel. »Irgendwo wartet es auf mich!« Sie hatte dieses Berlin schon wieder vergessen, und ebenso, daß sie die Braut von Thomas Vernow war. – –

Als sie am folgenden Morgen an der Mühle vorüber kam, stand die Müllerin mit ihrem sechs Wochen alten Kindchen im Arm an der Hoftür. Das kurze grüne Gras war mit lauter beweglichen und dottergelben Kugeln besät. »Das ist ein gutes Frühjahr«, sagte die Müllerin stolz und stützte das kleine zahnlose Köpfchen mit ihrer breiten mütterlichen Hand. »Das Fohlen ist schwarz mit einem Stern, und gestern hat die Kuh gekalbt.« Sie lachte mit großen, unversehrten, gelblichen Zähnen. »Und das Kleinchen?« sagte Amey. Irgendein Fremdes, Neues in ihr horchte auf. Sie streichelte verloren das kahle Köpfchen. »Das wird 'n Strammer!« sagte die Müllerin stolz. »Zwölf Pfund! Zuerst hat er gepiepelt, aber seit er draußen ist, das bekommt ihm zu schön.« »Sie nähren ihn selber«, fragte Amey. »Ich hab immer genug Milch für meine Kinder«, sagte die Müllerin. »Dasmal kam die böse Brust dazwischen, aber bloß acht Tage.« Amey stand noch eine Weile und ließ sich erzählen. »Früher haben sie mir nie von so etwas gesagt«, dachte sie. »Spürt sie ein Schwesterliches?« Aber wie Amey dann durch den Wald, den auf Meilen hin kein Fremder betrat, nach Hause ging – oh Gott – was wehte zwischen den Bäumen? – Nun, es war schon vorüber. Vorüber. – Aber Amey hatte ganz deutlich ein verlöschendes Frauengesicht gesehen, umdrängt von drei Kinderköpfchen – und dann – dieses seltsame Lächeln um einen Mund, den sie ebenfalls niemals erblickt hatte? Sie blieb stehn. Ihre Augen wurden starr. – Berlin! Berlin! Der Vorhang, den die Krankheit zwischen ihr Heute und Gestern gehängt hatte, zerriß plötzlich. »Thomas,« bat sie wie in jener Nacht, »Thomas!« Aber der Name hatte keine Macht. – Sie mußte sie über sich ergehen lassen, diese Züge von Bildern: das Mädchen, das ihren Muff zurückwarf, der rote Peter, der sie beschimpfte! Der Kreuzberg erhöhte sich unter ihr . . . – Und wie sie noch einmal mit stammelnden Lippen nach Thomas verlangte, – oh – wie wunderbar: Wieder sah sie die Gestalt, die vorhin unter dem blühenden Kirschbaum stand. Ihre beengte Brust atmete freier. Ihre Schultern drückten sich zurück. Sie sah der Gestalt entgegen, wie sie über die Wiesen auf sie zuschritt. Wie ein goldner Strom brauste es ihr entgegen, der spielend alle schweren Frachten trug. Ameys Augen, weit geöffnet und leuchtend, hingen an dem kühnen Gesicht, das sich ihr näherte.

Da machte Amey eine wunderbare Handbewegung: als risse sie einen schweren Mantel, der sie zu Boden gezerrt hatte, von den Schultern. Sie schwang ihn in der Hand jubelnd wie ein Panier, das zum Siege führt, und das vom Atem Gottes erfaßt wird.

In demselben Augenblick war die Gestalt verschwunden. Amey wußte es plötzlich: Es war nicht der Frühling gewesen, der ihr zu Hilfe kam – es war Don Lund! – Da überlief es Amey wie eine heiße selige Welle vom Nacken bis zur Fußspitze. Sie ging langsam und versonnen in die Burg zurück. Um ihren Mund war das Giocondalächeln. Aber sie wußte es nicht. – Sie glich der Frau im krokusblauen Mantel wie ein Zwilling. – – –

 

Thomas schrieb täglich: »Wann? Amey? – Wann? –« Ihr schien, als sänke er von ihr fort, während sein Verlangen nach ihr wuchs nach dem Gesetz der Fallzeiten. Hundert Briefe schrieb Amey. Jeder sollte die Verheißung werden. Aber sie hatte so viel andres zu sagen: vom Frühling, vom Blühen. Der Bogen war jedesmal gefüllt, ehe sie zu dem Wort gelangte, das allein er bringen sollte. »Erst muß ich alles fertig machen«, dachte Amey. »Wenn Thomas bei mir ist, wird er mich zu nichts kommen lassen.« Und sie fing an mit der alten Ariane und Mamsell und der kleinen schwarzen Marie.

Alle Truhen wurden aufgesperrt, von der Art wie die böse Stiefmutter den Deckel auf das zarte Hälschen des Bruders vom Marleneken fallen ließ, und Schränke, gewaltig wie Burgen, mit den zwölf Aposteln, oder Judith, die das Haupt des Holofernes greulich am Schopf hielt, auf den Türen. Die weiten Gänge und Kammern rochen tagelang wie Rosengärten und Lavendelbüsche, wenn Amey die Leinenschätze von Hellbergschen Frauen und Mägden, aus Hellbergschem Flachs gesponnen und gewebt und seit Jahrzehnten sorgfältig übereinander gestapelt, ein wenig verwühlte. Von der feinen, weißen, kühlen Leinwand rieselten seine kühle Schauer in die Fingerspitzen, die sie berührten.

»Im weißen Schnee, im grünen Klee . . .«

»Willst du auch alles verschenken?« Die alte Ariane wiegte bedächtig den Kopf. »Denkst du nicht an deine eigene Hochzeit, Amey?« Da erschrak Amey. Das Lied der Sehnsucht hatte sie soeben gehört, aber an Thomas hatte sie nicht dabei gedacht. – Sie lachte. »Wieviel Schränke und Truhen haben wir noch voll Linnenzeug, Ariane! Sei ganz ruhig! Jeden Tag könnte ich Hochzeit halten, wenn mir das so in den Sinn käme.« »Hochzeit?« dachte sie erstaunt. Aber dann ließ sie sich von Mamsell das Schlüsselbund aushändigen, an dem man wahrhaftig schleppen konnte. Sie vergaß alles, was nicht mit diesem Schlüsselbund zusammenhing.

Es ging her über die Schinken und Würste und schwarzen Pumpernickel, denen diese goldgelben Butterwecken, jeder einzelne mit dem Hellbergschen Elch vor allen andern Butterwecken ausgesondert, so entzückend kleideten! Und die riesigen Steintöpfe mit Honig und Eingemachtem, die Blechtonnen mit Quittenbrot und Ingwerkuchen und Glaskuchen und braunen Gewürzkuchen mochten wohl staunen, für welche verhungerten Horden ihre Schätze preisgegeben wurden! Allerdings das wurden dann auch Kisten und Körbe! Elisabeth Ewald, die Bronklava und ihre Schar, das Käthchen und seine Pflegemutter, Fräulein Winkler, das Blumenmädchen vom Leipziger Platz und Fräulein Fink waren bedacht worden. Jedem einzelnen aber hatte Amey in einer Schachtel zwischen feuchtem Moos und Seidenpapier einen Gruß aus dem Garten hinzugefügt. Und jedem die Verheißung: bald wird das große schmiedeeiserne Tor am Eingang der Schloßallee für einen lieben Gast seine Flügel wie gute Arme voneinanderbreiten.

Wie Amey hier draußen alle gesund und glücklich lieben wollte! Sie hatte in ihrem Kalender ganz genau den Sommer eingeteilt, und die jungen Verschwörer bei der Bronklava waren wahrhaftig nicht vergessen. Arbeiten hatte sie sich ausgedacht für jeden von ihnen, wenn sie vielleicht . . . Sie errötete. Nun, sie wußte das doch jetzt. So war das Leben anderswo. Wenn man Bilderkisten als feudale Bettstätten bezeichnete und zehn Verbeugungen oder eine Messerspitze gestoßener Eierschale als Frühstück genoß . . . Vielleicht, wenn sie die obere Galerie neu ausmalen ließe – davon könnten ein paar Menschen gewiß mehr als einen Winter leben, und im Sommer wären sie hier draußen. Der rote Peter mit seinem ungebärdigen Haarschopf und den wilden, flackrigen Augen stand vor ihr. Würde nicht die große Stille und Weite und die Schönheit dieses Landes ihn einhüllen? Wie ein guter Mantel und eine reine sternenhelle Nacht den Wanderer einhüllen, der an heißen Tagen schwere Wege ging? Würden sie nicht hier draußen alle begreifen, daß jeder Aufschrei und alle Empörungen und alles Vernichten und Verneinen nur dann im Recht ist, wenn es die Vorstufe bildet zu den neuen Harmonien und höheren Bejahungen? Amey lächelte glücklich und ein wenig beschämt. Sie wußte, wenn sie sie erst hier hatte, würde ihr Sieg kein großes Verdienst mehr bedeuten. Zu viele Verbündete hatte sie hier. Übrigens der Dichter, bei dem der rote Peter in der Kiste logierte, mußte entschieden seinen Freund begleiten. Und plötzlich schlug es Amey aufs Herz: den roten Peter sah sie als ihren Gast, und seine Hand war es, die . . . »Thomas«, dachte Amey. »Was ist mit mir? Ich verstehe mich nicht. Vergib mir, mein armer Liebster!« An diesem Abend schrieb Amey den Brief, auf den Thomas Vernow seit einem Monat wartete. – – –

 


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