Friede H. Kraze
Amey
Friede H. Kraze

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Natürlich war zu anderen Zeiten die Stadt lebendig und aufgeschlossen. Um die Mittagsstunde, wenn die Straßen schäumten von Schulkindern, Gewerbetreibenden, Ladenverkäufern und Beamten. Dann stürmten die elektrischen Bahnen gefährlich durch die Enge der überfüllten Gassen, und wenn ein Auto zwischen den spitzgiebligen Häuschen mit den Ausluchten und Erkern aufgellte, so sah es aus, als sei ein Rhinozeros in eine Spielzeugschachtel geraten. Aber eine lange Zeit wagte Amey sich nicht wieder hinein. – – – –

Vielleicht, wenn man sich wieder in die alten Tagebücher Onkel Rhabans flüchtete! Aber Amey tat es nicht mehr mit der Freiheit der ersten Wochen. Zwischen all diesen feinen und reifen Gedanken über Bücher, Menschen und Leben und Kunst, zwischen mystischen Verbundenheiten und der Zärtlichkeit, die ein einziges Ziel kannte, suchte Amey immer noch ein Besonderes.

»Der Puppenfranz hat meiner Amey einen glühenden Liebesbrief geschrieben.« – War es das, was sie erwartet hatte? Die feingezeichneten dunkeln Brauen, die in eine zarte altgoldene Spitze ausliefen, zogen sich zusammen. Aber dann wagte es Amey. Sie las weiter. Und sie empfand leise, gleitende und süße Schauder, als ob sie verbotene Früchte äße. –

Draußen ging ein Unwetter nieder mit Hagel und Sturm. Warum hatte Onkel Rhaban niemals später davon zu ihr gesprochen? Er, die Güte in Person, sollte diesem heißen und genialen Jungen nicht in das richtige Fahrwasser geholfen haben? Es gab ja die Ferne. Wenn das notwendig gewesen wäre. Amey fühlte die Glut im Nacken. »Nein«, sagte sie heftig, und obwohl jener einzige Blick Onkel Rhabans damals im Walde vor ihr stand. »Nicht durch seine Schuld! Jemanden im Stich lassen, der ganz allein auf ihn angewiesen war? Onkel Rhaban? Niemals.« Und sie fing an mit einer andern Freiheit als vorher, und suchte fieberhaft. –

Sie fand auch, was sie suchte. »Meine arme Amey« – stand ein paar Seiten weiterhin, »sie leidet heldenmütig. Als der Puppenfranz nach der Krankheit zu ihr kam, war er ihr ein Fremder geworden. Jetzt, da er ihr endgültig fern rückte, sieht sie nur den Freund der verflossenen Jahre. Wer soll mit mir die Stücke spielen? Sie grollte. Ich schlug vor, Kinder aus der Stadt einzuladen. Andere Kinder? Sie sah mich an. Weißt du nicht mehr Helenchen Hacke? Unser Knecht Ruprecht – oh – wenn der Puppenfranz ihn vor dem Jesuskind in die Welt schickte! Aber sie hat ihn aufgegessen, bis auf die Stöckchen in seinem Leibe. – Verächtlich zog sie die Mundwinkel herunter. – Und der Franz? – Der Franz? – Ein weiter Blick trat in ihre Augen. Wenn ich Andromeda war, tötete er den Drachen. Und er verzweifelte, wenn ich den Löwen des Zirkus vorgeworfen wurde. Wie kühn er war als St. Jürgen! – Sieh meinen silbernen Ring. Er schenkte ihn mir am Fest des heiligen Franz, der alle so sehr liebte, die Menschen und die Fische. Weil ich keinen eigenen Namenstag habe, schenkte er mir zu seinem den Ring! – –

Amey stützte den Kopf in die Hand. Jawohl. Ein winzig schmaler silberner Reif lag auf dem Grunde ihres Erinnerungskastens. –

Aber ihre Gedanken waren schon zu einem Tage gegangen, als sie sich bei Onkel Rhaban beklagte, warum sie nicht im Kalender stünde mit einem eigenen Fest.

»Amey!« Hörte sie nicht den fernen zärtlichen Träumerton? – »Das ist dasselbe, wie Ameie, und ist amie und aimée: ›Die geliebt wird.‹ Du weißt wohl. Meine Ameie! Brauchst du denn ein besonderes Fest? Feierst du nicht jeden Tag im Jahr deinen Namen?« –

Jeden Tag eines Menschen Ameie! . . . Ja – – konnte man denn leben, ohne so sehr geliebt zu werden? . . .

Dann zwang sich Amey. »Wir denken soviel über Rasse«, las sie weiter. »Als ob wir allein sie gepachtet hätten. Nun kommt dieser tolle Junge und macht einen glatten Strich durch die Rechnung. Die Pension in Wolfenbüttel war ordentlich. Der Gymnasialdirektor mit seinen jungen, enthusiastischen Augen schien mir auch ganz der Mann. Er hätte für diesen aufkeimenden Menschen und das Geniale in ihm Verständnis gehabt. Gymnasium, Studium und etwas zu einer Italienreise hinterher – alles war geordnet und festgelegt. Jetzt schreibt mir der Franz höflich und bündig, er sei mir sehr dankbar, aber er wolle nicht von meinen Gnaden etwas werden, sondern von sich selber. Denn Amey« – – –

Hier brach der Satz ab. Am Rande der Seite, mit anderer Tinte und neuer Schrift stand: »Meine Amey. – Sie wird noch manchem Ameie sein. Jeden Tag im Jahr!« –

Es dunkelte draußen. Erdmann kam. Er drehte das Licht an und zog die Vorhänge zusammen. Das Fenster über dem Schreibtisch blieb unverhüllt. Es war dies immer der Brauch. Man sah von hier den Mond über der Libanonzeder heraufsteigen. Der Himmel erschien obsidianschwarz im Fensterrahmen. Das Thermometer war nach dem Hagelsturm tief gesunken. Die Sterne klirrten wie in Nächten nach Epiphanias.

Amey zog fröstelnd die Schultern zusammen. Dann kehrte sie zu dem Tagebuch zurück. Es ließ sie nicht los.

»Nun ist dieser törichte liebe Junge in die Welt gegangen. Meine Gedanken sind durch ihn in Bahnen gezogen, die sie sonst lieber vermeiden. Man soll nichts halb tun. Einen werdenden Menschen aus einer Kaste in eine andere hineinleben lassen, ohne ihn ganz zu verpflanzen, ist Schuld. Überhaupt das Soziale. Von dem Theoretischen halte ich nicht viel. Der Kernpunkt liegt anderswo. Sie wollen mit uns aufräumen, und damit alle Hemmungen für ihre eigene Entwicklung beseitigen. Aber das ist schließlich doch immer nur das Äußerliche. Mit den innerlichen Gebundenheiten rechnen sie nicht. Sie wollen die Welt in eine neue Form gießen. Aber nicht nach einem idealen, wie sie sich einreden, sondern, wie mir scheint, nach einem sehr platten Zweckprinzip. Sie sagen »Kultur« und haben doch nur Zivilisation im Sinne, und zwar den äußersten Zipfel davon, der schon ein wenig auf der Erde schleifte und durchaus nicht mehr sauber ist. Kultur macht man nicht. Sie kommt auch nicht über Nacht, wenn nur die äußeren Mittel dazu da sind. Aufgepfropftes wird niemals dasselbe wie wurzelecht. Dieses von Innenherauswachsen hätte ich dem Jungen erleichtern wollen. Aber wenn er es selber schafft – tant mieux. Und sollte vielleicht unsere ganze abendländische Kultur auf dem Aussterbeetat stehen? Ist es das, was die andern dunkel im Bewußtsein tragen? Darum wollen sie ganz und gar mit ihr aufräumen? Und von vorn anfangen auf ihre Weise? – Denn kann man noch von Kultur eines Volkes sprechen, wenn sie nur einer ganz geringen Zahl noch verständlich ist, und wenn das, was man so nennt, nicht mehr das zusammenschließende, sondern das trennende Moment bedeutet? Sollte vielleicht eine Zeit im Anzuge sein, in der wir lernen müssen, unsern Kulturglauben als den letzten Wahn eines unbewußten langsamen Sterbens anzusehen? – – Oder aber ist der Puppenfranz einer von einer neuen »Elite«, die sich aus allen Volksschichten rekrutieren und vielleicht einmal die neue Kultur bilden wird?

Ich glaube nicht daran. Aber ich bin der letzte meines Geschlechts. Wer an den großen Müdigkeiten trägt . . . .

Aus sich selber kann dieses Europa sich nicht mehr erlösen. Es sei denn, irgendeine Weltkatastrophe, ein ungeheures Muspili käme ihm zu Hilfe und schaffte das Ende der alten und die Urform für eine neue Erde, die jeder in der eigenen Brust trägt. Siehe – das Reich Gottes ist in euch.« –

Amey legte die Hand auf das Geschriebene. –

– Die neue Elite! – Die neue Erde! Sie sah sich im Zimmer um. Als erblickte sie alle Dinge zum erstenmal. –

Warum hatte Onkel Rhaban ihr kaum je über diese Dinge gesprochen? Er konnte nicht glauben. Er war zu müde. Er wollte sie nicht anstecken mit der großen Verneinung! Ihr Herz schwoll über von banger Zärtlichkeit. Plötzlich sprang sie auf. Ihr Atem setzte aus. Ihre Hände wurden kalt: Der Puppenfranz war dennoch zugrunde gegangen!?

Aber die neue Elite? Die neue Erde? – – – Sie geriet außer sich. – – – – – – – – – –

 

Der nächste Morgen war eine einzige verweinte und schmeichelnde Bitte um Vergebung für das Gestern. Amey trieb es ins Dorf. Sie nahm das Körbchen mit der homöopathischen Apotheke, Himbeersaft und vor allen Dingen von den kleinen süßen Biskuitkuchen.

Die alte Ariane wunderte sich. »Wer ist denn krank, Amey? Ich weiß, die Heiligen seien gepriesen, von keinem einzigen.«

Nein, niemand war krank. Aber es tat so gut, ein wenig unter den hohen Nußbäumen vor den Haustüren zu sitzen. Die getigerten Katzen legten sich einem auf die Füße wie ein Fell. Die alten Mütterchen und die Großväter brauchten nur eine Kleinigkeit zur Seite zu rücken. Sie erzählten, wie sie jung waren, und vom Kriege und von der Cholera und wie der feurige Reiter sich zum letzten Male gezeigt hatte. Aber auch ganz einfache tägliche Dinge wurden durchgenommen. Der Schafstall zum Beispiel, in den der Blitz eingeschlagen hatte. Oder was für ein übles Zeichen es wäre, daß die Störche dies Jahr nicht auf Butendieks Scheune gebaut hätten! Karl Hückedahl brauchte einen Abendmahlsrock und die krumme Miele . . . Aber ehe Großvater noch die Schnupftabaksdose aufgeklappt hatte, denn er dachte, ein Prieschen sollte ihm da hinaus helfen . . . dem gnädigen Fräulein Amey erzählte man doch wohl nicht geradezu, wenn ein Mädchen sich mit dem Mannsvolk eingelassen hatte, – gerade da erspähte ein Flachsköpfchen auf dem Anger Ameys langen, flatternden Schal.

Amey wählte mit Vorliebe eine Zeit, wenn jede Arbeitshand, die sich regen konnte, noch draußen auf dem Felde war. Sie hatte so gern die Kinder ein bißchen für sich allein. Sie standen auch schnell genug mit offenen Mäulchen, an ihre Knie gedrückt. Und das gnädige Fräulein Amey hatte immer ein paar weiche, braungebrannte Kinderärmchen um sich her, wenn sie anfing: »Einmal aber sagte die Mutter zum Rotkäppchen . . .«

Wenn es dann in der Ferne zwischen einer ratternden Staubwolke silbern aufblinkte und die bunten Kopftücher der Frauen und Mädchen feierlich wie Gebetsteppiche über dem Erntewagen schwebten, der das Brot des künftigen Jahres hereinbrachte, ja, wenn es so weit war, wechselte Amey ihre Geschichte wohl zu Genoveva oder zur kleinen Seejungfrau hinüber. Wie Scheherezade um ihr Leben spann sie einen Faden, der nicht abriß: Treue und Mord, Sage und Legende, die alten eisernen Ritter aus Sachsenland und die ewig, ewig süße Liebe. – Ab und zu trat jemand aus dem Kranz und ging, den Staub und Schweiß des Tages abzuspülen, oder nach dem Rechten zu sehen. Und es fing an, verheißungsvoll zu duften nach Holzfeuer und brodelndem Fett. Es dauerte auch gar nicht lange, bis jemand mit einem Teller voll dampfendem Krausgebackenem herauskam, goldig braun und splitternd wie Glas, wenn man hineinbiß. Und Amey, die alle ihre prachtvollen Ställe voll Kühe hatte, trank diese lauwarme, schaumige Milch mit einem so beglückten Ausdruck und in so kleinen, genießerischen Schlucken. daß jeder wissen mußte, etwas so Köstliches hatte sie schon lange nicht mehr geschmeckt.

Und nachdem sie so vielmal gedankt hatte und für jeden ein besonderes Wort zum Abschied gehabt – und eines der Kleinsten durchaus nicht von ihrem Schoß heruntergewollt – »ja,« – dachte sie, wie sie sich auf den Heimweg begab, »hat nur eines von allen auch einmal nach mir gefragt?« Sie strich verloren eine Haarsträhne aus der Stirn. Dann schritt sie durch die lauschenden Wiesen und das Abendgold zurück in die hallende Leere ihres weißen und herrlichen Schlosses. – – – – – – – – – –

 

Hernach kamen Tage, da die Burschen die Opfergabe in die Erntefeuer warfen und mit ihren Mädchen darübersprangen. Und wieder sangen sie die Lieder, die so überrinnend süß und traurig sind. Von der Wohld her zogen die Rudel Hirsche über die gemähten Wiesen, während der Fuchs braute, und die abgeernteten Äcker lagen von einem ganz leichten Nebel bedeckt wie unendliche silberweiße Wasser unter einem kühlen, spukigen Mond. Die Haide wurde braun. Die Birken putzten sich mit lauter hellgelben Metallplättchen, und die heimlichen Wunder redeten jeden Tag vernehmlicher.

In dieser Zeit kam ein Brief von Lolo Bethun: Ihr Mann und Guntram Walmoden waren auf Zeylon in ein Buddhistisches Kloster eingetreten. – – –

Amey ging auf den Wunschberg. Es war Schnee gefallen über Nacht. Die Störche und Schwalben hatten recht behalten. Die Kraniche schwebten lange wie eine Eins über dem Walde, als ob sie sich diesmal wirklich nicht trennen könnten. Aber zuletzt waren sie doch über die Wiesen hinaus, und alles stand um einen Schein dunkler, als man sie nicht mehr erblicken konnte. Nun würden bald in einer Nacht die Wildgänse durch peitschende Wolkenseen schiffen und hart und aufgeregt gegeneinander schreien.

Die Bäume, die noch ihr volles Laub hielten, brannten wie bengalische Flammen, und zwischen ihnen stand ergreifend und mädchenjung das Grün der Fliederbüsche. Aber alle waren sie wie Kronleuchter mit Glasprismen behängt. Die läuteten hoch und spitz und elfisch, wenn der Wind sie schaukelte.

Als Amey auf den Wunschberg kam, fiel ihr Auge auf die großen Quittensträucher. Der Frost hatte ganze Büschel von schmalen blutroten Blättern zusammengesträhnt in das Herz von Kristalldrusen verkapselt. Diese versteinten Schmerzen, die Wildgänse, die Kraniche und das Land, darüber zu schnell der Winter gekommen war, erschütterten Amey. Wie im Taumel trat sie über die Schwelle. War es nicht, als ob ein Mensch, der noch nicht voll geblüht hatte und in Reife gestanden, plötzlich in den Sarg gelegt würde? Die Ewigkeit brauste über ihm, aber er dachte immer an die vielen Berge und Städte, die er noch nie gesehen hatte und an das große, goldne Geheimnis, das irgendwo zu lösen war. – – An diesem Tage öffnete Amey noch einmal das verborgene Geschiebe im Schreibtisch der Yolanthe. Sie nahm den Brief heraus, den Onkel Rhaban dort für sie verwahrte. »Wann werde ich dich öffnen?« dachte sie. »Werde ich dich jemals öffnen dürfen?«

Sie wog den Brief in der Hand. Dann legte sie ihn einen Augenblick an ihre Wange. Aber Lolo Bethun! Mein Gott! Amey hörte plötzlich Guntram Walmodens verschleierte Stimme. Schließlich – er stand allein. Aber ein Mann wie Bethun! Fort von der Frau, die ihn liebte. Fort von Frau und Kind und Werk! – Amey geriet außer sich. – –

Ihr Blick fiel auf den Venetianer Spiegel.

Ja, wie die Lady von Shalott! Wie im Spiegel! Ihr Blick wurde fern. Ob es leichter wäre, einem nie gelebten Leben zu entsagen? Sie legte die Hand an die Wange. Wie laut war ihr Blut! Sie saß eine lange Weile unbeweglich. »Blut«, dachte sie dann. »Was braucht mich zu ängstigen? Ist es nicht das Herz, das es immer neu austreibt und ihm bereit steht zur Heimat? Das Herz hat das letzte Wort.« –

Sie sann vor sich hin. Bei der Frau wenigstens. Bei der Frau sind Blut und Herz das untrennbar Eine!

»Woher weiß ich es?« staunte sie.

Vielleicht, wenn sie allein eine Hellberg gewesen wäre, so hätte sie sich an das Fenster gesetzt hier auf dem Wunschberg. Sie hätte über das Land geschaut und weiter gewartet, ob das Wunder einmal zu ihr treten würde. Aber der Tropfen Blut von der Urahne. Das Primitive! Wie Guntram Walmoden es einmal genannt hatte. Sie lächelte, träumerisch. Plötzlich ging es wie ein Ruck durch ihre Gestalt. Ihre Augen öffneten sich weit. Aber sie sah nichts von ihrer Umgebung. Jenen fernen Morgen mußte sie wieder leben. Als etwas so laut aus dem Walde rief und sie ihre neunundzwanzig Geburtstagskerzen vor sich erblickte. Wie ein feiner kühler Luftzug hatte es sie gestreift. Ein Gedanke. Nein, kein Gedanke. Irgendein geheimes Wissen des Blutes: Alles hat sein Auf und Nieder. – Es gibt einen Gipfel – und dann kommt der Abstieg. Einmal wird die Höhe überschritten. Auch im Leben der Frau! –

 

In den Tagen, als die scharfen Ostwinde den Bäumen ihre Lust und ihre Last abrissen und das Geschrei der Krähen und Dohlen in der Ruine sich kaum noch ertragen ließ, war die alte Ariane wie ein armer verwünschter Geist fortwährend unterwegs. Von ihrer kleinen traulichen Stube, in der Weihrauch, Bratäpfel, Mottenpulver und Fensterblumen um die Herrschaft stritten, mußte sie zu der Bibliothek, wo Amey saß und, den schmalen silbernen Kopf Blanchefloors auf den Knien, ins Feuer starrte. Damals kam Philipp Marschall.

Er war noch scheuer, noch ritterlich demütiger und zugleich noch glühender als im Frühling. Er saß drei Abende Amey am Kaminfeuer gegenüber, als sei er der Sprache beraubt und harre des himmlischen Zaubers, der ihn entbannen könnte. Am dritten Abend erbarmte Amey sich seiner. Auf ein Wort von ihr brach er los. Er hatte seine Kamphausen in die Fremdenstuben hängen lassen, desgleichen die Werner und den Schutzengel von Plockhorst. Auch die Zeitungsmappen, die mit geschnitztem Lorbeer und Eichenlaub eine auf rotem Plüsch gestickte 1870/71 einrahmten. Und was sonst noch wäre, was Amey verletzen könnte, etwa der von Tante Adele über der Politur mit Öllandschaften geschmückte Gewehrschrank oder so – alles das sollte gleichfalls den erwähnten Fremdenstuben zu Schmuck und Zier dienen. Wenn Amey nur kommen wollte. Wenn sie nur diese gereinigten Räume seines Hauses mit ihm teilen wollte.

Einen Augenblick zauderte Amey. War es das, wovon die Wildgänse geredet hatten? Was im Frühling aufgeblutet war? – Sie verträumte sich: Es war April. Wolkengewoge. Brausen in den Bäumen. Ging sie durch den Garten? Ein Kolüt flötete. Die gelb geblümte Wiese schwemmte bis an die Mauer. Einzelne Beete lagen schon zart gesternt. Aber die meisten standen noch braun und warteten. Demütig und heiß und aufgebrochen warteten sie. Ja, und dann streckte Amey die Hand aus. Sie liebte es so, diese Erde zu berühren, die ganz voll war von Keimen und Kraft und künftigem Blühen. »Mein guter Philipp« sagte Amey versonnen lächelnd. Sie merkte es nicht, daß sein Kopf unter der leichten und kostbaren Last ihrer Hand tiefer sank. Tief genug, bis er auf ihren Knien ruhte. Es waren immer noch Mittagswiesen und heiße, braune, keimende Beete um sie her – auch als zwei junge Arme Mut faßten. –

Gerade da trat Ariane, die das Wandern nicht lassen konnte, und wie zu einem Fetisch zu ihrer blassen Herrin gezogen wurde, in die Bibliothek. Der Apriltag war zerstoben. Philipp Marschall sprang auf. Denn kein Wort von Amey klärte die Situation. –

Einen Tag gingen sie miteinander, und wieder kam der Zauber der Verstummung über ihn. Er schien immer zu horchen und zu warten. Aber er war gläubig geworden. Seine blaue Dragoneruniform schwärmte wie Frühlingsfanfaren durch den November. –

Amey schien zu vergessen, was sich in der Bibliothek zugetragen hatte. Flügel waren in den Wäldern ihrer Augen. Eine Frage in eine umwölkte Ferne hin. Zuletzt, als Philipp Marschall es nicht mehr aushielt, und, um nur etwas zu reden, er anfing, von Pastors zu erzählen, wurde das Lächeln um Ameys Mund mit einemmal bewußt. Es erschien zärtlicher als je, wie sie ihren Vetter ansah.

»Ist das nicht der Pastor, der seine Konfirmanden lehrt, daß sie im Himmel mit Gesangbüchern sitzen würden?« sagte Amey. »Die weiblichen Wesen rechts, und die Männer auf der linken Seite?« Ihre Stimme klang unendlich mütterlich. Philipp errötete. Er wußte wieder einmal nicht: scherzte Amey? Er erinnerte sich nicht, daß er von seinem ausgezeichneten Pfarrer Schulz etwas dergleichen erzählt hatte. – Was geschah denn nur? Wie in einem Boot auf einem weiten Wasser sah er Amey. Sie handhabte lächelnd die Ruder. Er stand am Ufer. Und im heißen Drang, sie irgendwie festzuhalten, fing er aufs neue an. Auf das Geratewohl. Was ihm in den Sinn kam: Die Pfarre und das Schloß hätten Lichtbilderabende veranstaltet für das Dorf. Es gäbe kleine Theateraufführungen.

Amey hörte plötzlich die alten Lieder, wenn die Burschen und Mädchen sich um die Tanzlinde schwangen. Es waren keine Reigen, die sie jemand gelehrt hatte. Sie lagen ihnen im Blut. Von immerher. »Philipp«, sagte sie zusammenhanglos, »glaubst du, daß wir richtig für unsere Leute sorgen?« Ihre Augenbrauen hoben sich leicht. Sie hatte sich noch nie darüber Gedanken gemacht. Aber welche Groteske: die Schäfertochter oder Mali Gutenbrink im Empirekittel und Schutenhut! Ober-Ammergau! Ja. – Die Spiele von Rothenburg! – Alles Gewachsene! – Aber dies?

»Wieso?« sagte Philipp Marschall. »Natürlich sorgen wir für unsere Leute. Was meinst du damit? Wir sorgen doch auch für unsere Pferde!«

Amey bog sich vor. Sie sah verwirrt aus. Was war geschehen? Ein Nebel schien sich zu verschieben, aus dem Nebel schlich fremde Landschaft. Wie für unsere Pferde? Vertieren oder vermenschen? – Was war es, was sie so peinigte? »Philipp« sagte sie aber nur. »Oh Philipp!« – Sie wußte, ein Wort von ihr hätte alles über ihn vermocht. Aber wie konnte sie das Wort sprechen, ohne daß man es sie selber gelehrt hätte? »Nein, mein armer Junge.«

Er begriff dieses »Nein« für seine Person. Weltteile trennten ihn von dem, was es für Amey bedeutete.

»Ich kann dir das jetzt nicht erklären«, ihre Hand strich leicht über das auf den Millimeter geschorene blonde Haar, das eigentlich Neigung gehabt hatte, sich zu ringeln, als Philipp Marschalls Kopf noch einmal auf ihren Knien lag. Dieser baumstarke Körper war nicht mehr umblaut von Frühlingsfanfaren. Er trug ganz einfach die kleidsame Uniform der Pasewalker Dragoner, die keinen Bürgerlichen in ihrem Regiment duldeten. Er bebte in einem unterdrückten Schluchzen. Wie ein großer, schamhafter und unglücklicher Junge schluchzt.

Amey lächelte. Dann war nicht alles verloren. »Später einmal, Phil,« sagte sie. »Ich sehe ja selbst noch nicht deutlich. Aber dein Weg und mein Weg müssen nicht zusammengehen.

Hör,« sagte sie, »hör jetzt genau zu: Du wirst sehr, sehr und sehr glücklich werden. Und zwar ganz bald. Mit der Richtigen – Jawohl!« Sie nahm ihn leicht bei den Ohren, als er in trotziger Abwehr den Kopf schüttelte. »Wenn Ihr den Schutzengel wieder über dem Klavier hängen habt, ladet ihr mich ein. Ich werde alles so sehr bezaubernd finden! Und bitte, gebt Fürst Pückler zum Nachtisch!«

Aber das war die wunderbare Macht von Amey, daß Philipp Marschall nach diesem Gespräch nicht sofort abzureisen brauchte. Sondern selig, unselig, gemartert und getröstet in einem, diente er ihr alle die nächsten Tage, wie ihr Knecht und ihr Ritter. – – – – – – –

 

Der Rechtsanwalt mußte aus der Stadt kommen. Es erschien unglaublich, was seit Onkel Rhabans Tod alles über Amey herfiel, und was zu erledigen sie immer noch hinausgeschoben hatte. Stöße von Briefen lagen da mit Ankaufs- und Verkaufsangeboten, Empfehlungen von Bankhäusern, Hotels, Pensionen, Unternehmern, Antiquaren, Gesellschafterinnen, Automobilfabriken, Badedirektionen und Altertumshändlern. Ganz ungerechnet die Briefe, in denen ein Bechsteinflügel von ihr verlangt wurde oder eine Aussteuer, »weil das Mädchen sonst wirklich ehrlich wäre«. Der Gedanke, daß Besitz Verantwortung auferlegte, stellte sich zum erstenmal vor Amey. – – – – – –

 

Der Schnee lag in dichten Kissen, als Amey bereit war zu reisen. »Goldne Amey!« Die alte Ariane sah ihre Herrin verstört an. »Zu meinen Verwandten? – Wenn du mich nicht mitnehmen willst, wenn ich wirklich nicht bei dir bleiben darf, soll ich dann nicht hierbleiben? Wo doch überall ein Stückchen von dir ist. Wo könnt ich denn sonst beten für dich? – Und dann, Amey, wohin sollte ich gehen, Goldne? Ich kenne niemanden mehr von meinen Leuten. Keinen einzigen kenne ich!«

Da schien es Amey, als ob die fremde Landschaft greller aus dem Nebel herausstünde. Sie streichelte das runzlige Gesicht mit den Augen, die an ihr hingen, wie an ihrem letzten Richter: »Alles geben sie für uns,« dachte Amey, »ihre Familie, ihre Heimat, alle ihre Gedanken. Ja, ihren Gott heften sie an uns. Und was geben wir ihnen zurück?« Sollte sie sie doch mitnehmen nach Berlin? Aber es ging nicht! Diesmal ging es nicht. Wer sich hinauswagen wollte, um das Letzte zu erfragen, der mußte allein gehen. – So sollte sie in der Burg bleiben, diese Getreueste. Sie sollte sich eine gute, warme Zeit machen. Und jede Woche würde sie einen Brief bekommen. Auch zur Köchin ging Amey und band ihr die alte Ariane auf die Seele mit allen Mahlzeiten und kleinen Liebhabereien.

Nur zuletzt, als Amey im Zuge saß, hatte sie immer das verstörte Gesicht ihrer alten Kindermuhme vor sich und die tränenlosen, aber rotgeränderten Augen, die eindringlicher und ergreifender redeten, als es Tränenströme vermocht hätten. –

Ja, es war eine Gnade, geliebt zu werden. Dieses letzte: »Die Heiligen mögen dich mir gnädig zurückbringen, goldene Amey«, war um sie her wie ein warmes Tuch. Nur das war das Wunderbare: es hielt die Schultern warm. Aber bis zu dem tiefsten Herzenspunkt drang diese Wärme, die von andern ausging, nicht. Wie seltsam war das doch, daß Geliebt werden das eigene Herz so unruhvoll ließ!

Amey lehnte sich zurück in die weichen roten Polster. Draußen im Gang bewegte es sich hin und wieder. In ihrem Frauenabteil I. Klasse war sie allein wie an dem Tischchen vor den überblühten Oleandern in der Domschenke.

Nachher, als die blaue Linie schon längst überschritten war, als die heimatlichen Wälder und Bergzüge ferner rückten, und vom Netz der Telegraphendrähte eingefangene, durcheinanderstürzende Dörfer, vergilbte Hecken, entblößte Alleen, Mühlen und Wasser und glitzernde Äcker vorüberflogen, erschien es Amey plötzlich, als stünden die Gesichter von Onkel Rhaban und vom Puppenfranz ihr gegenüber. Und während sie innerlich ihnen zuwinkte und lächelte und mit sehnsüchtigen Händen sie zu bannen versuchte, verschmolzen sie unmerklich zu einer neuen und fremden Kühnheit. –

»Die neue Elite!« Amey sah sich um. Hatte jemand, während sie zum Fenster hinaussah, ihr Abteil betreten? – – Nein. Im Gang wanderte ruhelos immer derselbe Offizier. Ein junges Mädchen und ein ebenso junger Mann standen wie zusammengehörig am Fenster. Ein breiter Herr in kariertem Anzug überschüttete einen schmalen Fröstelnden wichtig und lebensgefährlich mit irgendeiner Patentsache. Da entsann sich Amey zum erstenmal wieder des Namens: Don Lund. Ihr Blick weitete sich. Sie empfand diese seltsame Spannung, obwohl ihre Unterlippe sich ein wenig vorschob und ihr seiner Kopf auf dem schlanken Hals sich leicht abwehrend hin und her bewegte.

Sie verträumte sich. Sie bemerkte weder die asthmatische korpulente Dame, die einstieg, noch daß der kleine Kellner des Speisewagens zum Mittagessen eingeladen hatte. Als sie viel später wieder hinaussah, schien sich der Horizont verdunkelt zu haben. Die Schienenstränge vervielfachten sich. Sie verwirrten sich ineinander und glitten dennoch wie Adern und nach bestimmten Gesetzen in kunstvoller Regelung alle dem einen und noch verborgenen Ziel entgegen. Züge stürzten sich vorüber wie ausgestoßenes dunkles Blut, und andre versuchten den Zug Ameys zu überrasen, hingesaugt von dem gleichen unersättlichen Munde. Amey fühlte ein leises Frösteln. Zugleich zuckte ihr Puls. Sie stand auf. Und wie sie gegen einen wütenden Zugwind in der Fahrtrichtung aus dem Fenster sah, erblickte sie ein Ungeheures, wie es sich am befleckten Horizont auftürmte, wie eine Bedrohung und ein Locken zugleich: Berlin. –


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