Friede H. Kraze
Amey
Friede H. Kraze

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Lydia hatte ihr Atelier nicht in ihrer Wohnung, sondern in einem der belebtesten Teile der Königstadt. Es schien, als habe sie eine Lage gewählt, wo eines Menschen Tun und Treiben am wenigsten der Beobachtung ausgesetzt wäre. Es war eines jener alten Berliner Häuser unverwischbaren Zaubers, wie sie in der Nähe der französischen Kirche um anderthalb Jahrhundert rückwärts führen. Es war nur zwei Stockwerke hoch. Mit messingnem Türklopfer, weitem, hohem Flur mit stuckierter Decke und einer breit ausladenden, zurückhaltend gewundenen dunklen Eichentreppe.

Um Lydias Dienerin war etwas Unheimliches. Ihr Blick war ergeben und stumpf wie der eines Tieres, vom Menschen unterjocht, aber um ihre Mundwinkel geisterte ein kleines, listiges Lächeln. Sie beantwortete die Frage Ameys mit einer Verneigung. Sie trug nicht die übliche schwarze Tracht der Hausmädchen. Ein raffiniert altmodisches Kostüm unterstrich grell ihre groteske Häßlichkeit. Sie wirkte wie eines jener unglücklichen Wesen, die frühere Jahrhunderte Herrschaftshöfen zuerteilten, zur Übung der Launen der Gebieterin. Übrigens hatte sich ihr Geist verwirrt, als der Mann, von dem sie sich geliebt glaubte, ihr eine Zeitung schickte, in der seine Heirat mit einer andern angezeigt war. Ein Zufall hatte sie mit Lydias Vorliebe für das Monströse und Unheimliche in Berührung gebracht. Die Stumme hielt sich für die Sklavin Lydias und diente ihr bis zur Entwürdigung. Wenn sie lichte Augenblicke hatte, rächte sie sich. Dann zerschnitt sie kostbare Kleider oder zerbrach Vasen. – – – Ein wunderliches Funkeln trat in Lydias gelbe Augen, während sie sorglos und mit kleinen amüsanten Zwischenbemerkungen dies alles vortrug.

»Um Gottes willen!« dachte Amey. »Ob die Unglückliche nur auch taub ist?« Sie hatte fortwährend das kleine King-Charles-Hündchen vor Augen mit dem roten Fleck unter dem silbrigen Ohr.

Als die Stumme die Tassen bot, fiel eine um. Knapp vor dem Knie Lydias floß der kochende Tee.

»Infam!« Lydia machte eine jähe Bewegung. Aber ebenso jäh riß sie sich zurück. »Warte!« Sie stieß das Wort wie eine Nadel heraus. Dann lachte sie böse und grell.

Amey sah sich ratlos um. Eine Übelkeit machte ihre Knie schwach. Zugleich hatte sie die Empfindung, daß viele Augen sie ansahen. –

»Ich möchte Lydia eine Tortur zufügen!« dachte Amey. Der Atem versetzte sich ihr. Zugleich mußte sie der Stummen zusehen, die auf der Erde hockte und die Scherben zusammenlas. Ihre Hände hatten etwas Bläuliches und schlugen wie im Frost. – »Ich möchte neben ihr niederknien und ihr helfen.« Amey weinte fast. »Ich möchte ihr über dieses arme elende Gesicht streichen!« Wie Amey so dachte, hatte sie plötzlich eine sonderbare Vorstellung: wie mit Fischschuppen bespritzt, kam sie sich vor. Wie Dinge an sich, wie Fischschuppen hafteten die Blicke der Anwesenden an ihr. Auf ihrem Gesicht, ihrem Nacken, auf ihrer leicht erhobenen Hand. –

Sie ließ die Hand sinken. –

»Sie hat ihren bösen Tag.« Lydia lachte hoch und spitz und zornig. »Ich kann nicht mein ganzes Service aufs Spiel setzen. Herr von Thorius, bitte.«

Ein blonder, dünner Herr von unbestimmbarem Alter, nach dem letzten Modejournal gekleidet, dessen grelles Parfüm seltsam mit seinen stilisierten Bewegungen kontrastierte, trat an den Teetisch. Als er Amey ihre Tasse reichte, stieß er fast zusammen mit einem Kuchenkorb. Ein Herr, von Lydia mit Xaver angeredet, bot ihn Amey.

»Wie ist es möglich, daß ich hierher kam?« dachte Amey. »Wie ist es denkbar, daß zwischen diesen Menschen und mir auch nur die Möglichkeit eines Wortes besteht?«

Sie nahm das ihr Dargebotene. Die Form war ihr so Natur, daß die Anmut ihres Dankes über ihre Empfindungen den Mantel deckte.

»Vielleicht«, sagte sie mit ihrem verlornen, zärtlichen Lächeln. Sie sagte dieses »Vielleicht« zu Herrn von Thorius, der leise und eindringlich fragte, ob nicht eine Geste für kostbarer gelten könne als eine Erfüllung der Leidenschaft.

»Vielleicht«, sagte Amey. »Ich kann nicht entscheiden« . . . Sie wußte kaum, was sie sagte. Sie sah wie hypnotisiert zu Lydia hinüber.

Lydia trug ein Kleid aus einem porzellanblauen Stoff mit etwas grün und fleischfarben darüber Spiegelndem. Sie sah aus wie eine patinierte Schlange.

»Doktor Vernow konnte nicht kommen«, sagte sie plötzlich. Ihre gelben Augen flackerten.

»Darum Lydias Stimmung«, dachte Amey. »Also darum.« Nun – solange es die Höflichkeit verlangte, mußte man aushalten. Sie würde so etwas schwerlich zum zweitenmal erleben. Sie sah sich um. Die Männeraugen, die an ihr hingen, störten sie nicht als solche. Sie hätten es nicht gewagt, Amey zu entkleiden, wie sie es taten, wenn sie an Lydias Schlangenhaut hafteten, die den Körper so seltsam betonte. Ameys weicher, grauer Rembrandthut beschattete ihre Stirn und den oberen Teil der Wangen. In ihrem grauen Chiffon über silbergrauem Atlas und dem weichen bauschigen Haar wirkte sie wie eine jener Nebelfrauen, die in ihrer Heimat zu Hause sind. In ihrer zarten Unkörperlichkeit brachte sie eine wunderbar starke Note und einen Duft von Keuschheit und Morgenkühle in diesen überhitzten erotischen Raum.

»Wie wunderbar«, dachte Amey. »Diese Menschen wirken wie Symbole oder vielmehr wie Karikaturen einer bestimmten Zeitrichtung! Einer erinnerte an einen Hecht. Grau, ganz schmal, mit rundem, geöffnetem Mund und einem spitzen, hohen Kopf. Er sah niemandem ins Gesicht. »Auf der Hirndecke jedes Menschen sieht er dessen Urtyp materialisiert«, sagte jemand.

Amey hob unwillkürlich die Hand, als sie den Hecht auf ihren Hut starren sah. »Durch den Sammet hindurch?« dachte sie, »wie peinlich.« Sie zog nervös und wie frierend die Schultern in die Höhe. »Was mag er bei mir sehen?« Sie wendete den schlanken Hals hin und wieder, als wolle sie damit die Materialisation des Urtyps über dem Sammethut in Verwirrung bringen.

»Kariert«, klagte in diesem Augenblick eine erschöpfte Stimme. »Ich konnte nicht lesen bei Wellhöfers. Eine der Anwesenden trug eine karierte Toilette. Es ist fast ebenso peinlich, wie wenn sich Damen durch andersfarbene Blusen in zwei feindliche Hälften zerlegen. Stimmung ist wie der Flaum auf Früchten . . . Außerdem müssen Sie bedenken, eine Psyche, die sich der vita contemplativa ergab. Nehmen Sie Stephan George . . .«

»Wer erlaubt sich, diesen Namen hier zu mißbrauchen?« erzürnte sich Amey. Sie wendete sich um, aber sie fuhr hastig zurück. War sie in eine Schreckensschau geraten? Dicht hinter ihr auf einem Tisch, der wie ein Altar wirkte, stand eine Auslese von Scheueln und Greueln. Es waren Götzenbilder primitiver Völkerschaften. –

»Was werde ich heute noch erleben?« dachte Amey staunend. Aber schon mußte sie wieder auf die erschöpfte Stimme hören. »Dergleichen wirkt auf mich, als müßte ich auf Schwamm beißen. – Abgestimmtes Violett . . . Wer nur einen Begriff von Lyrik hat . . .« – – – Die Stimme machte plötzlich drei Punkte und mehrere Gedankenstriche. »Grau, perlmutterndes Grau«, sagte sie dann bebend vor Ergriffenheit – »vernebelnde Baumsinfonien – verwolkte Aspekte . . .« Es folgte kein weiteres Bild nach den erneuten drei Punkten. Jemand seufzte. Von einer Lustempfindung über allen Ausdruck dahingebrochen.

»Daß ich um Gotteswillen nicht lache«, dachte Amey. »Der violett Abgestimmte könnte einen Herzkollaps davontragen.« – Sie sah nicht, wie er mit befremdlicher Energie den Hecht beiseite schob und von seinem neuen, dazu besser geeigneten Standort Amey nicht aus den Augen ließ.

Niemand hatte bemerkt, daß eine kleine sonderbare Dame eingetreten war und, ohne Lydia zu begrüßen, planmäßig nach einer bestimmten Ecke des Zimmers gesteuert. Die kleine Dame, gebrechlich und winzig wie ein Porzellanfigürchen, hatte Pagenlocken, eine lahme Hüfte und trug eine sonderbare Bluse aus dickem grünen Stoff mit roten Papageien. Es war etwas Hilfloses und zugleich Unbeirrbares um sie her. Die Stellung ihrer Mundwinkel konnte sogar eine ganz feine Geringschätzung bedeuten.

Als man die kleine Bronklava später bemerkte, war niemand erstaunt. Jeder schien zu wissen: von Zeit zu Zeit mußte sie kommen, um Lydias Buddha zu betrachten.

Amey sah sich um in dem Atelier. Diskret. Sowohl aus Schicklichkeit als aus Furcht, neuen Monstrositäten zu begegnen. Es war eine Mischung von westlichem Raffinement und orientalischer Phantastik, von echter Kunst, Barbarischem, Spitzfindigkeiten und Philiströsem. Es war das Abbild eines Charakters, der Kultur nicht im Blut mitgebracht hat. –Unter den Bildern fesselten einige in der Vollendung jenes Impressionismus, die scheinbar durch nichts mehr überboten werden kann. Eine letzte Möglichkeit der Kunstentwicklung nach dieser Richtung hin, die anbetungswürdig ist und übertaut von der großen Wehmut, die über allem liegt, das an seine Grenzlinie geriet.

Dann waren da Zeichnungen: Köpfe. Wie bestäubt mit Rötel oder Kohle. Der Kontur heftig, hart. Amey trat erschreckt einen Schritt zurück. Ein Schwein? – Oder ein Mensch? – Sie kniff die Augenlider ein wenig zusammen. Sie sah angestrengt. – Dies war ein Schimpanse. Oh, welches uralte Trauergesicht! Dem Menschen so ähnlich, und doch nicht Mensch, und darum so qualvoll in seiner Unerlöstheit. – Und dies! Mein Gott!

»Das bin ich«, sagte Lydia. Gerade als Amey selber diese schreckliche Entdeckung machte. Dieses Porträt erinnerte an kein bestimmtes Tier. Es war ähnlich zum Verblüffen und zugleich hatte es durch geringe Unterstreichung einzelner Partien etwas von einem archaistischen Götzenbild. Stirn und Kopf waren reptilienflach. Der Unterkiefer stark wie über Raubzähnen. In der stulpigen Nase hing ein Ring. Amey sah Lydia ratlos an. Lydia lachte. »Du staunst über den Ring«, sagte sie. »Er wollte nicht anders. Er soll nicht Schmuck sein. Dieses dünne, blanke Ding, mit dem man greulich weh tun kann, sei notwendig, behauptete er. – Es ist eine Ehre, von ihm gemalt zu werden.«

»Er malt nur die Seele«, sagte ein Individuum, das immer die Zähne zeigte. Es hatte sich Amey als »der bewußte Kappel« vorgestellt, welche Bedeutsamkeit dennoch für sie wesenlos blieb. Dem bewußten Kappel hingen an fahrigen Armen seltsam brutale Hände. »Wenn mir nur nicht einmal diese Hände einfallen!« dachte Amey. »Im Dämmer. Bei der Ruine!« Aber sie war fast froh, von dem heimlichen Grauen, das ihr diese Bilder einflößten, durch ein Wirkliches erlöst zu werden. In diesem Augenblick sah sie die wunderliche Papageienbluse. Aber das Lächeln, mit dem Amey sie registrierte, wurde sehr schnell behutsam. Sie hatte die hohe Hüfte unter den Papageien entdeckt. »Was ist in dem Erker, vor dem sie in Adoration steht?« dachte Amey.

»Sie müßten sich von ihm malen lassen, Gnädigste«, sagte der bewußte Kappel. Er wies auf die Bilder, denen Amey zu entrinnen strebte.

»Ich werde mich hüten.« Ameys zärtliche Stimme hatte eine feine stählerne Hochmütigkeit, wie sie einen Schritt zurücktrat. Wie ein schmaler blauer Dolch, der seit vielen hundert Jahren in seiner ziselierten Scheide schlief, und der seine Herkunft aus Damaskus und die vielen Blutstropfen, die ihn beblühten, noch nicht vergaß. »Wir aus den alten Geschlechtern sind nicht so schlechtweg auf eine Formel zu bringen«, sagte Amey. »Ausgenommen er malte einfach den Elch, das Wappentier der Hellbergs. Vielleicht aber gibt er mir etwas von meinem Urahn, der die armen drei Hexen verbrennen ließ. Oder von dem Kardinal Karl Maria, der, wie es heißt, mit den Borgias gute Tage hatte. Nun – es gab auch eine Yolanthe Hellberg, deren Wappen zerschnitten wurde!« Sie sah den bewußten Kappel an. Mit leicht herabgezogenen Mundwinkeln schien sie von unendlicher Höhe auf ihn herunterzusehen. Dann kehrte sie sich um, als hätte sie zwischen sich und ihm eine Tür zugemacht.

»Ich möchte sehen dürfen, was Sie so lange und so tief hingenommen hat?« Sie war schnell zu der Dame in der Papageienjacke getreten. Ihr war, als ob sie in diesem Raum, der ganz voll Aufgereiztheit, Nerven und Sinne war, eine stille Verborgenheit und eine reine Luft erspäht hätte.

Die Bronklava sah Amey ins Gesicht. Wie ein Kind sah sie Amey an, groß, fragend, auf den Grund. Dann verinnigte sich ihr Ausdruck. Mit einer fast scheuen Geste deutete sie in den Erker. Auf einem Sockel aus grünem Malachit thronte ein Buddha.

Die Bronklava schien Amey wieder zu vergessen. Sie kreuzte die Hände über der Brust wie bei einem Ritus. Ihr Kopf mit den Pagenlocken glich jetzt zum Verwechseln einem jener Botticellischen Köpfe, die etwas Geschlechtloses um sich haben, ob ihre Körper in Frauenkleidern die Flora begleiten, oder wie himmlische Pagen um die Königin und Gottesmutter herstehen.

»Er ist nicht aus Indien«, dachte Amey. Die Greuel und Scheuel fielen ihr ein, die sie noch eben entsetzt hatten. – Ein Volk, das einmal so stark mit seinen Sinnen und übermäßigen Phantasien rang, konnte nicht eine Gestalt gebildet haben von so ergreifender Schlichtheit und Innigkeit des Gefühls. Zudem trug dieser schlafende Buddha japanische Züge.

»Japan wurde für Indien die gestaltende Künstlerhand«, sagte in diesem Augenblick träumerisch die Bronklava. »Wer selbst ganz spirituell wurde, kann kein Kunstwerk mehr hervorbringen!«

»Sie meinen, der Schaffende darf nicht an den Schleiern der Gottheit gerührt haben?«

»Ja«, sagte die Bronklava. »Der Philosoph wird dem Künstler immer im Wege stehen. Alle Empfängnis vollzieht sich im Dämmern.«

»Es wäre noch mancherlei zu sagen über all dieses.« Amey sah weit hin. »Aber nicht hier.«

»Nein, nicht hier!« Die Bronklava schüttelte sanft lächelnd die Pagenfrisur. Als Amey sagte: »Ich muß jetzt fort«, verabschiedete sie sich gleichfalls, wie selbstverständlich.

»Dennoch Indien!« sagte die Bronklava draußen. Amey hatte die Empfindung, als ob weite Perspektiven sich auftäten. Sie hörte das Klirren der Becken. Sie sah goldüberflutete Wasser, hohe Bobäume und Scharen von Jüngern zu Füßen des Erhabenen.

»Sie kennen die vier heiligen Wahrheiten, die der Buddha seinen Jüngern einprägte?«

»Nein.« Ameys Stimme zögerte. Sie dachte daran, daß Onkel Rhaban dieses Thema mit ihr immer vermieden hatte.

»Die vier heiligen Wahrheiten vom Leiden beginnen mit dem Zartesten und Gewaltigsten, was der Mensch kennt«, sagte die Bronklava. »Mit der Liebe beginnen sie. Sie allein ist der Grund, daß das Leiden nicht enden kann. Solange Leben ist, solange Leiden!« Amey wollte etwas sagen. Aber schon war die Bronklava fortgefahren, eindringlich und dennoch so leise, als ob sie mit sich selber redete. »Alle Formen des Anhangens sind Leiden.« So verkündete der Buddha. »Durch Anhangen gelangen wir zu immer neuem Entstehen. Durch Entstehen zu unendlich neuen Formen des Erleidens.«

»Die ewige Wiederkehr!« sagte Amey, als die Bronklava einen Augenblick wie versunken stand und schwieg. »Wie sie mich entzückt, die Lehre über immer neue Daseinsmöglichkeiten! Es gibt so unendlich viel, das zu vollenden bleibt. So viele Wege gingen im Zickzack und wenn nun plötzlich alles zu Ende ist, und das Ziel lag noch in so weiter Ferne?«

Die Bronklava lächelte mild. »Das Ziel? Nebel und Wolken verbargen es ihm lange. Aber der Erlöste wird es plötzlich aufleuchten sehn, sobald er des Willens zum Leben enträt. Alles Werk ist gewirkt. Der Strom darf im großen Meer sich verlieren und zum Frieden kommen.« –

Sie gingen die Straße hinunter. Die Laternen hingen im Dunst wie Schnüre gelber und rauchiger Augen. Das böse Tier, die große Stadt lag geduckt unter dem Abend und knurrte vor Gier und Lust.

Ein Schauer überschlich Amey. Trotzdem war etwas in ihr jubelnd und wach. Sie wußte nicht, warum ein kühnes Gesicht plötzlich vor ihr vorüber ging. Sie wußte kaum, wo sie es gesehen hatte.

»Wer den Werdedurst in sich verschüttete – heil ihm! – Nicht Mensch, noch Götter, selbst die Natur können ihm noch etwas anhaben!« Amey ertrug es nicht länger.

»Werdedurst?« sagte sie. »Das ist es gewiß, was die Leute immer das Primitive an mir heißen. Gott weiß es, einen rechten Werdedurst habe ich mitgebracht in diese Inkarnation. Gar nicht genug bekommen kann ich vom Leben! Ich muß nicht gut getan haben in früheren Existenzen«, sagte sie. »Nein, ich weiß es gewiß: Ich war einmal etwas ganz Fürchterliches. Vielleicht eine ganz große Verführerin.« Sie stockte jäh. »Woher wüßte ich Dinge, – ich meine, ich kann sie verstehn, die ich doch eigentlich nicht wissen oder verstehen könnte?« Die Friedrichstraße stand vor ihr. Was wollen sie mehr als wir? dachte sie plötzlich. »Sie wollen ein wenig Glück!« – »Unendliches habe ich noch zu tun.« Ihre Stimme flog, als ob sie schon davoneilte. »Ich weiß noch nicht, was alles. Aber es schwillt um mich her! – Einmal werde ich alles wissen, was ich gutzumachen habe.« Erschreckt, wie ein Kind, das sich verraten hat, sah sie auf die kleine Gestalt der Bronklava herunter, die mit ihrer armen Hüfte nur schwer vorwärts konnte. Ameys Augen suchten. Dort war ein Droschkenstand.

»Ich darf Sie erst nach Hause fahren«, bat Amey. Die Bronklava stieg ein, ohne besonderen Überschwang von Höflichkeiten. Sie nahm die Güte des Lebens ebenso selbstverständlich und gelassen wie seine Härten.

»Mein Geschlecht ist alt.« Amey breitete die Droschkendecke um die kleine Dame. »Ich erzähle Ihnen wie einer Freundin«, bat sie mit ihrem zärtlichen Lächeln. »Ich darf doch? – Ein Hellberg zog mit nach Jerusalem und befreite das heilige Grab. – Aber es ist ein Tropfen junges, brausendes Blut in meine Adern geraten von einer Urahne her. Vielleicht habe ich dennoch zu viel Jugend in mir, um die Lehre, die Ihnen so wert ist, annehmen zu können.« Sie sann. – »Und dann – vielleicht –« sie flüsterte; »vielleicht würden Sie es nicht glauben – aber ich stehe selbst noch immer ein wenig draußen. Ich kann das in so kurzen Worten nicht erklären. Aber kann man denn eine Tür schließen, die man noch niemals geöffnet hat? – . . .« Sie schwieg. Die Bronklava legte mit einer Gebärde zarter Liebkosung ihre Hand Amey auf das Knie.

»Und wenn . . .« – Staunen lag in Ameys Stimme. »Und wenn nun alle die Millionen sich noch weiter quälen müssen? Dürfte man dem eigenen Leiden fröhlich entronnen sein?« Müßte man nicht immer wieder . . . Bis endlich einmal . . .« Sie schwieg. Wie erschüttert von ungeheuren Perspektive. Unerhörten Beglückungen.

»Kwan–on!« Mit so leidenschaftlicher Innigkeit sagte die Bronklava dieses Wort, daß es undenkbar schien, daß eben noch dieser Mund die Lehre vom Jenseits aller Empfindungen verkündet hatte.

Amey hätte gern gefragt, was die Bronklava gemeint. Aber gerade da hielt der Wagen in einem fremden und unschönen Stadtteil Berlins.

»Sie werden nicht mehr zu Lydia Mendel gehen«, bat die Bronklava. »Das ist nicht der Ort für Menschen Ihrer Art!«

»Nein, o nein.« Amey mochte ihr die Freude nicht nehmen, sich durch sie bewahrt zu fühlen. Die Bronklava verabschiedete sich. Sie sah Amey an wie ein Kind den Christbaum. Amey hatte ihr versprochen, sie demnächst in ihrem Atelier zu besuchen. – – – – – – – – –

 

Für den folgenden Abend hatte Amey ein Konzertbillett. »Es ist gut,« dachte sie, »vielleicht wird die Musik mir einen guten Schlaf bringen!« Die verflossenen Nächte hatten einen zarten, bläulichen Pinselstrich unter ihre Augen gesetzt. Amey fröstelte ein wenig in der milden Temperatur ihres Zimmers. Sie konnte sich nicht zu einem Spaziergang entschließen. Sie saß, die Hände um die Knie geschlungen. Sie durchlebte noch einmal den gestrigen Nachmittag bei Lydia. Sie sah die unglückliche Stumme über die Scherben gebückt. – »Daß ich es Lydia nicht ins Gesicht sagte!« dachte Amey. – – »So bin ich. Nichts auf Erden liebe ich so abgöttisch wie die Ketzer, die einer ganzen Zeit den Handschuh hinwerfen. Und ich?« – Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Vielleicht war meine Jugend allzu sanft«, dachte Amey. »Zuviel Licht und Güte stand um mich her. Lauter Reinheit und Schönheit und gar kein Schatten, und kein Böses.«

Aber wie sie sann, war es plötzlich nicht mehr die unglückliche Stumme. Sie sah ein anderes Gesicht. Das kleine Mädchen von der Friedrichstraße stand vor ihr.

Sie stand auf und ging heftig im Zimmer hin und wieder. Sie sah nicht mehr die eine, die durch einen Zufall sich ihr besonders eingeprägt hatte – alle sah sie, die auf und ab geflutet waren, dort, in jener Nacht.

»Mein Gott!« sagte Amey. »Wie ihre Tage wohl sind?– Aber meine Tage!« brach sie plötzlich aus. »Meine seligen Tage voll Keimen und jungem Grün! Voll brausender Ritte und klirrender Fahrten! Alle meine Tage voll Liebe und Glanz!«

Sie rang die Hände ineinander. – Wie sollte sie sich zurechtfinden?

Sie stand still. Ihre Augen ängstigten sich sehr. Plötzlich hoben sich ihre schlanken Brauen und wölbten sich. Über ihr Gesicht stürzte der Glanz, mit dem eine hohe Sonne in alten Kathedralen die großen Entrücktheiten vergoldet. Was war an ihr vorübergegangen, das ihre kleine, geängstigte Welle in den großen guten Strom hinüber erlöste, geheimnisvoll und wie im Sakrament? – – –

Zuletzt kam der Abend dieses Tages.

Eine Zeitlang konnte Amey sich nicht sammeln. »Welche Barbarei!« mußte sie denken. »Ein Innerlichstes soll zu Wort kommen unter so wilder Beleuchtung!« Ihre Augen wurden fortwährend auf zwei Mädchen gezwungen. Die eine trug die Haare tief ins Gesicht gekämmt, über ihrer stulpigen Nase, die an die Nase Lydias erinnerte, waren zwei Augen, schief zueinander gestellt. Diese Augen und der Mund bannten Amey. Das Mädchen schien fortwährend zu suchen. Man mußte wohl fortwährend suchen mit solchen Augen und einem solchen Mund! Amey wurde angesteckt von dieser Unruhe. Sie würde nichts von der Musik haben, gar nichts.

Plötzlich fiel ihr Blick auf ihre Nachbarin. War es ein Kind? Ein kleiner, ärmlicher Unterkörper hielt mühsam einen ausgebauten, beherrschenden Rücken. Der Brustkasten war schmal. Der knochige Arm stach hart aus dem dünnen Ärmel, aber zwei feine, magere Händchen lagen still und wartend im Schoß.

Ameys Phantasie fing an, um die kleine Nachbarin zu spielen. Schon wieder deutete ihr Weg zu einem Wesen, mit dem es sich die Natur leicht machte. »Werde ich es wieder nicht wagen?« dachte Amey. »Ist es möglich, daß wir so weit abgelenkt sind? Warum fürchten wir uns vor etwas, was vielleicht unser einzig Gutes ist?«

Die Instrumente lebten sich ein. Wie ein weißer Vogel schwang sich's aus der Flötenecke, und an einer Oboe hing sekundenlang eine warme, blaue, verzauberte Quelle.

Amey dachte an die Diskussion über das Konzert beim Mittagstisch. Konnte der Oberhofprediger recht haben? Ihm erschien die Musik auf einem Gipfelpunkt angelangt, von dem aus es keine Fortentwicklung mehr gab. – Das große »Weiter« war für ihn endgültig abgeschlossen. – Amey hatte sich leidenschaftlich ereifert. Jede Richtung und jede Epoche mochte ihr eigenes Endgültige haben. Aber konnte man dabei stehen bleiben? – Wurde nicht sogleich ein neuer Zielpunkt gesteckt? Ein neuer Stachel in die Seele gesenkt zu einer neuen Vollkommenheit? Mozart war ein Gipfelpunkt. Bach war eine Vollendung. Und dennoch – nach ihnen kam Beethoven. Begann er nicht wieder als der große Zwiespältige? Der das ewige Widereinander als Brand in die Paläste und in die Dome warf? Lag nicht in ihm ein Abgeschlossenes mit einem ganz Unbekannten, noch niemals Erhörten beständig im Streit? – Sie erschrak im Glück des Erkennens. War er, der so schmerzhaft seine zwei feindlichen Hälften zu einer Vollkommenheit verhämmerte – war er vielleicht der heimliche Erste von heut? – Ameys Gedanken verloren sich. Vielleicht gab es ein absolut Vollkommenes. Einmal. – – Aber hier? . . . – In diesem Augenblick setzte die Musik ein. –

An Sinfonien alten und strengen Stils durfte man sich jetzt allerdings nicht mehr halten. Was sich einem an Gesetzen von Harmonie ins Blut geprägt hatte . . . Stoß ab dein Boot vom Ufer. –

Ja – und dann fragte etwas in diesen Aufruhr hinein. – Denn nicht zwei befehdeten sich hier – sondern viele – alle. – Zaghaft, angstvoll fragte etwas. Amey fühlte, wie sie kalt wurde. Etwas stand auf dem Spiel. –

Aber die Antwort wurde nicht gegeben. Niemand kümmerte sich um die Frage der Seele.

Ah so – die Seele. Amey senkte plötzlich den Kopf. Ein Zittern überflog sie. Als bliebe auch sie eine Antwort schuldig, wenn die Musik keine wußte. – Die Musik aber kümmerte sich nicht im geringsten. Sie ging ihre eigenen Wege. Kühle, nadelscharfe, ferne, oder sehr nahe, breite und satte Wege. Sie schritt über Brücken, königlich geschwungen und mit Menschenschweiß verklebt. Sie reiste auf Flügeln, deren Adern aus dem Gold zerbrochener Altäre geschmiedet wurden. Über Ozeane hinweg verkündete sie ihre Laune, und sie wurde ihr gewährt, schnell, wie von dir zu mir. – Aber ob sie durch Triumphstraßen zog, oder durch Wege voll Schlamm und im Geruch brünstiger Blüten, ob durch Wolken oder durch Tunnel, die sich ans Herz der Erde hinanbohrten – nirgendwo, an keinem ihrer Wege stand das Wunder. Nirgendwo stand die Ehrfurcht und das Geheimnis. Nirgend stand die Liebe, die eine bange Seele an der Hand genommen hätte. –

Amey wußte kaum, daß ihre Hand ein paar abgezehrte kleine Finger, die still und wartend in einem Schoß lagen, streichelte. – Würde nicht endlich? . . . Nein, die Musik der großen Kontraste kümmerte sich um gar nichts. Sie merkte nicht, daß die Seele verzweifelte, und wie sie dunkel wurde und hart und ein Wille und ein Schrei. – Und tausend andere Schreie wurden von ihm geweckt. Die gellten.

Die Trompeten hatten die Führerschaft übernommen. Die Geigen erregten sich, das Cello, die Bratschen. – »Mein Gott, selbst die Oboen?« dachte Amey angstvoll. – Auch ihre warmen, blauen, verzauberten Quellen? Ja, auch sie stürmten und klagten an: die Oboen und Fagotte, diese ewig Milden und Gütigen. – Die Posaunen stießen zu. Die Pauken zerwirbelten sich. Schlug etwas mit Keulen? Ja, mit Keulen. Und nach Messern griffen sie und spien. Ein Bruder spie dem andern ins Gesicht. –

»Ich verstehe es dennoch nicht«, dachte Amey. Sie fror, während ihr der Schweiß in kleinen Tropfen aus der Haut drang. Vieles mag falsch und schlecht sein. Aber alles?

Und wie sie fror und sich zermarterte, erhob sich eine irre ekstatische Stimme: das Cembalo.

Amey drückte schmerzlich die Augenlider zusammen. Gesicht und Gehör verwirrten sich ihr. – Mein Gott – wie sah sie doch plötzlich – nackte Mädchen? Sie, Amey von Hellberg? – . . .

Die Kleider rissen sie sich vom Leibe. In ihrer Nacktheit tanzten sie und schrien verzweifelt und brünstig. Amey duckte sich. Als ob sie sich vor einer unzüchtigen Berührung schützen müßte. – Dies war das Ende. Jawohl. Jetzt gab es keine Erlösung mehr. – – – Und nun – als ob Menschen nicht genug wären zur Vernichtung, kam die Erde zu Hilfe und brach auf. Das, was viele tausend Jahre geschlafen hatte und sich nicht gerührt, das stieg herauf, taumelnd, mit aufgerissenen Augen. Und die Fieber brachen aus in zerspitzten Zungen. Sie verbrannten die Erde und kochten zum Himmel und rissen den befleckten in Stücke. Muspili war da. Die Reiter der Apokalypse. –

Amey hatte die Empfindung, daß sie versank. Immer tiefer sank sie. Es gab keinen Halt mehr. Ihre trockenen Lippen rissen vonsammen. – – –

»Ich verkünde das Wunder!« – Wie denn?

Nein, diese Worte hatte gewißlich niemand gerufen. Aber Amey öffnete die Augen. Das Wunder? – Von dem blauen W in ihrer Hand schien eine Wärme zu ihrem Herzen zu quellen.

Sie rückte sich zusammen. Die Umgebung wurde wirklich. Da bemerkte Amey, daß ihre Hand fortwährend diese abgezehrten Händchen streichelte, die in dem schmalen, verkümmerten Schoß lagen.

Sie hörte plötzlich die Stimme der Bronklava: »Alle Empfängnis vollzieht sich im Dämmern.« – »Ja«, dachte Amey. »Das ist das tiefste aller Wunder: Gott will sich verleiblichen.« Sie wußte nicht, wie dieser Gedanke zu ihr kam, oder in welcher Beziehung er zu ihr stand. Aber sie wurde so glücklich, daß ihr die Tränen in die Augen traten.

Jetzt gehörte auch nicht mehr Wagnis dazu. Sie sah in das Gesicht, das zu den Händen gehörte. Sehnsüchtige Kinderaugen hatten lange hinter Hecken und Zäunen gewartet.

Und nun geschah es. Das, was kaum noch geglaubt werden konnte: Das Werk der Vernichtung war vollendet. Das Neue brach an. Das Wunder!

Nein, diese Fagotte und die Oboen! Nicht genug tun konnten sie sich in Güte und Glück! Wie ausgebreitete Arme standen sie überall.

Und die andern Instrumente! Hochauf sangen sie im Jubel der Verkündigung. Mußte nicht zuerst der große Angreifer kommen, dem großen Beginner den Weg zu bereiten? Der, welcher die Kelter tritt, denket des Weines und nicht der zertretenen Frucht! Wer der Ernte will froh werden, kann er der Pflugschar entraten? Wer die heilige Brüderschaft will alles ›Geschaffnen‹, was bedeuten ihm Mauern aus Mörtel und Stein? – »Viele sind zum Fest eingeladen«, sangen Chöre und Stimmen, »und nur wenige werden den Gott empfangen im Wein. Daß aber nur keiner der Türhüter länger jenen Armen verhöhnt und ihm wehre, der doch wollte werden ein Auserwählter. So sollen die Wächter fallen und die Tore zerbrochen werden. Und wer seinen Gott erlösen will, dem sei es gegeben! Auf daß der Gott triumphiere und das Gesetz der Freien. Und die Erde trächtig werde von Samen und Güte.« –

Amey saß mit den weitoffnen Augen des Glücks. »Vielleicht verstehe ich nicht alle Stimmen«, dachte sie, »und alle Verkündigungen. Aber was tut es, wenn ich sie doch in mir spüre, als seien sie mein Blut und mein Herzschlag!« – Und wie sie frohlockte, schien es ihr wieder, als sei ein Gesicht bei ihr, daß sie einmal geträumt hatte. Wie die Wärme ihres Blutes und wie das Herz ihres Herzens war dieses braune, kühne Gesicht.

Als Amey den Konzertsaal verließ, führte sie ein kleines schmächtiges Mädchen an ihrem Arm mit einem hohen gewölbtem Rücken. Sie wartete mit ihr an der Haltestelle der elektrischen Bahn. Die Kleine, nach deren Adresse Amey gefragt hatte, war Klavierlehrerin. –

»Unverschämt«, sagte eine Frau mit hochgeschnürter, üppiger Büste und im eleganten Pelz. »Unverschämt, einem so etwas zu bieten! Macht er sich lustig über das Publikum, oder ist es Impotenz?« Jemand lachte: »Blöd! Ganz blöd!« Und jemand redete von Bach und von Bruckner. Und jemand von Beethoven und Wagner und Strauß. Und jemand von Dekadenz und vom sterbenden Europa. – – –

 


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