Friede H. Kraze
Amey
Friede H. Kraze

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»Amey,« sagte die alte Ariane, wie sie an Stelle des türkischen Schals ihr schwarzes Abendmahlstuch umlegte, »du solltest nicht so viel grübeln. Ich wollte zum Hochamt gehen, soll ich auch lieber bei dir bleiben?«

»Nein, Ariane.« Amey sah die alte Amme liebevoll an. »Du mußt gehen. Bring deiner schönen Heiligen diese Kerze von mir.« – Sie entnahm einer Schieblade, wo sie Geschenke für ihre Getreuen aufsammelte, eine herrliche Kerze, eine Elle lang und mit schmerzhaft durchbluteten Herzen aus rotem Wachs und Flammen und Rosen verziert. »Du sollst sie bitten, daß sie mir sagt, was ich tun muß.«

»Ich will alles tun, goldne Amey.« Die alte Ariane sah ihre Herrin an wie den Reliquienschrein mit der wundertätigen Hand – »Alles, was du mich heißt, will ich tun. Und die Heiligen werden dich segnen.« – – –

Amey schritt die königlich breite und leidenschaftlich geschwungene Stiege hinunter, die der Stiege Georg Raffael Donners im Salzburger Mirabel nachgebildet wurde. Schmale, herrische Gesichter mit Spitzbärten über spanischen Tellerkrausen befahlen aus prunkenden Goldrahmen, und grenzenlos hochmütige Frauen in starrendem Brokat hielten in den unwirklich schmalen weißen Stuarthänden das Geheimnis einer roten und verführerischen Rose. Gewaltige Geweihe und ausgestopfte mächtige Auerhähne, das Spiel stolz gebreitet, wußten von Wäldern, in denen der wilde Jäger mit seinem Gejaid in den heiligen zwölf Nächten die Kreuzwege überraste. Und sprühende Felle königlicher Tiere erzählten von den Fahrten der Hellbergs in Länder, wo die Steine bei Sonnenaufgang Stimme erhalten.

Amey hatte nicht acht auf ihre Umgebung. Erst die Darwintulpen bemerkte sie, als sie die breiten Terrassen, zwischen der dunkeln, gehaltenen Vornehmheit der Taxushecken herunter geschritten war. Auf den geometrischen Figuren der Beete blühten sie. Die letzte Nuance der Mode jener Tage und zugleich mit unendlichen Vergangenheiten belastet. Auf hohen schlanken Stielen trugen sie kleine, stilisierte Köpfe, und ein wehmütiger Hauch von Asche schien über ihre Farben gestäubt. Um sie her schnörkelte Buchsbaum in schmalen und dennoch unüberschreitbaren Grenzen.

Amey blieb stehen. Ein seltsam Gleichnishaftes und geheime Beziehungen wuchsen von diesem Beet zu ihr hinüber. Es war Mitleid in ihr und Schauder, als sie sich bückte und einen Strauß dieser so eigentümlich ineinander schattenden Blumen pflückte, zu deren Einsamkeit gar keine andere Blüte und kein Blatt sich fügen wollte.

Amey hatte plötzlich die Vorstellung von Menschen einer untergehenden Welt, die hoch und fern und entblößt auf einem letzten, gesteilten Gipfel stehen. Unten brauste in Urschreien eine werdende Epoche, die sich selbst noch nicht kannte, und dennoch die gärenden Keime des Zukünftigen, das Recht behalten würde, in sich trug. Aber für die auf dem Gipfel gab es keine Brücke hinüber. – – – Oder gab es dennoch eine? Und sie wollten sie nur nicht sehen, weil sie sie nicht beschreiten wollten? – Amey schrak zusammen. Sie stand hastig auf und blickte sich um.

Nur die hohen und gradlinigen, dunkelblauen Taxusmauern begegneten ihren Blicken und die flechtenvergilbten steinernen Götter. Sie erschienen plötzlich nebelhaft und fahl. Wie Verstorbene, die den Sargdeckel noch einmal aufhoben, der allzu geliebten Erde zum Lebewohl.

Da warf Amey ihre Tulpen von sich, als ob sie sich an ihnen verwundet hätte. Mit der scheuen Anmut eines aufgejagten Waldtieres floh sie die gepflegten Parkwege hinunter.

Aber auch die Schönheiten des Unbegrenzten schienen sie zu erschrecken, diese gedehnten Wiesenflächen, auf denen Millionen von Tausendschönchen ihre weißen Röckchen blähten.

Jawohl, es gab Punkte, wo man sich anklammern konnte. »Ich könnte zu der Linde gehen. Sie ist wie Heimat!« dachte Amey.

Aber als Amey unter der Linde sich ins Gras warf, wußte sie, daß sie dennoch ganz allein unter dieser brausenden Kuppel war.

Nun – es gab doch Männer, die in die Einsamkeit gingen, und Frauen! – Amey sah plötzlich die Nonnen in der Klosterkirche der Dominikanerinnen, schneeweiß in der Christnacht das Jesulein wiegen. »Ich?« dachte sie. – »Ich?« . . .

In diesem Augenblick schien irgendwo hoch oben eine goldene Blüte sich zu lösen. Sie flatterte nieder und blieb auf der Schulter Ameys haften. Es war ein Zitronenfalter. Amey empfand den warmen Reflex seiner Flügel. »Das Schwarz meines Kleides schreckte dich nicht«, sagte sie, und die Tränen saßen ihr dabei in der Kehle. Sie bewegte sich nicht, bis der Schmetterling ebenso geheimnisvoll, wie er gekommen war, sich wieder aufhob und an Amey vorüberflog. Wie eine Blume durchblühte er den Weihrauch des Frühlings.

»Kamst du mich rufen?« fragte Amey. – Als sie wie gezogen hinter ihm dreinschritt, gewahrte sie jenseits einer kleinen grünen Pforte eine andere goldene Blüte. Aber gleich danach verlor sie beide aus den Augen.

Amey trat in den Gärtnergarten. Dort stand das niedrige, unsäglich heimliche und ganz umgrünte Häuschen des Obergärtners. Die Gemüsekulturen waren dort, die Treibhäuser, die unendlichen Beete mit Schnittblume für die Herrschaftszimmer, und die Obstgärten fingen an. Amey ersah einen vorspringende Stein und schwang sich auf das Mäuerchen. Sie saß eingebettet in Frauenhaar und die violetten Samtkissen der Iris pumila. Hier schneiten die Holunderbüsche, von denen die alte Ariane so viele Zaubersprüche wußte. Der Goldregen schüttelte seine gelben geflochtenen Mähnen. Tausend winzige, feuchtrosa Knöspchen besternten den Rotdorn. Schneeballen, Mandel und Kirschlorbeer waren überschwänglich ineinander verschlungen. Und Arabis und Aubrietien schäumten in weit ausbuchtenden Bächen um die Rabatten. Die Bienen arbeiteten im Rausch. Eine hatte zu schwer geladen. Sie war bestäubt wie ein kleiner Mühlknappe und taumelte und überschlug sich unter ihrer Fracht. Amey half ihr auf die Beinchen. Die wilden Bienen fielen ihr ein. Als sie noch Kind war, hatten sie im Fenster ihres Schlafzimmers gebaut und sie in ihrem kleinen Bett besucht wie gute Freunde. Die alte Ariane rang entsetzt die Hände und wollte sie ausräuchern. Aber Amey schmeichelte und bat. Sie war nie von einer gestochen worden.

Eine Beruhigung kam über sie, wie sie dort in der Stille saß. Ganz gebadet in Sonne und Honig und Blumengeruch und im Schutz dieser Sträucher. Auch die Mauer wirkte wie Schutz. Draußen stand die Unendlichkeit. Man konnte sich wohl an sie verschwenden, aber nicht mehr in ihr verlieren. Es war da ein Halt, irgendein armer kleiner Zusammenhang.

In der Ferne klangen dumpfe Schläge. Der Gärtner schlug Obstpfähle ein. Dieses Geräusch der Pflicht tat gut. Es paßte zu der Gebundenheit dieser sorgfältig nach der Schnur gezogenen Beete, die dennoch in Freiheit überschäumten.

Amey fing plötzlich an zu pflücken: hohe gelbe und scharlachrote Kaiserkronen, Akeleien, Iris in allen Farben, vom zartesten Perlmutter bis zum schweren bepurpurten Violett.

Wie sie dann stand, die Arme ganz voll Blumen und Gerank, zuckte sie plötzlich zusammen. Ihre Augen weiteten sich: aus den blauen Schatten der Büsche schwamm es auf sie zu: Ein goldenes Segel über einem gefalteten goldenen Kahn. Und jetzt erkannte Amey: Der Schmetterling trug seine Freundin. Eben noch war er zu ihr aus dem Unbegrenzten in die Geschütztheit des Gartens geflohen. Sie hatten einander ersehnt und einander gesucht. Jetzt trug er sie. Nur wie ein Schauer des Glücks durchbebte es zuweilen diese zarten, ineinander blühenden Leiber, der Not des Einzelseins entbunden, ganz in sich geschlossen, eine letzte Vollkommenheit, für die es weder Grenzen noch Furcht mehr gab, zogen sie über die schützende Mauer der Enge ins Grenzenlose. –

Amey sah ihnen nach, bis ihr Gold mit der Mittagskrone verflimmerte. Licht in Licht. Die zarte Röte quoll auf in Ameys Nacken; sie überschritt langsam die Grenzlinie und wurde zur roten See. Dieses also, also dieses! – Sie stand unbeweglich. – –

»Als du allein warst, wagtest du es nicht«, dachte sie plötzlich. Ihre Knie zitterten. Es war, als ob sie sich an jemanden anlehnen wollte.

Eine Schwarzamsel fing an. Dieser einzige Vogel, der alle Geheimnisse des Lebens und der Lust in seiner Kehle hat. »Oh«, sagte Amey. – »Oh . . .«

In diesem Augenblick hörte man das Aufklatschen nackter Knabenfüße auf dem Sande des Gartenweges. Der Gärtnerbursche kam.

»Die Zweige und Blumen können in das Haus gebracht werden.« Der junge Mensch grüßte respektvoll. »Nicht drücken«, fügte Amey sanft hinzu. Und mit einer weichen Gebärde und als ob sie ihm ein schlafendes Kind zureichte, legte sie ihm die blühenden Massen in die Arme. Dann ging sie langsam, und als sei der Saum ihrer Kleider schwerer geworden, aus dem sonnigen Garten. – – – – –

 

Eine Zeitlang wagte Amey sich nicht mehr über den Bereich der Terrassen mit den Taxuswänden, den gezirkelten Beeten und den Göttern, die jedes wie eine Wache um ihr Herz herstanden, das frei war wie eine Lerche, aber sich verzuckte in der Weite des Raumes.

Und dann war das bebend Erwartungsvolle und die Unrast der ersten Frühlingstage vorübergegangen. Die ganze Luft war voll vom schweren Schweigen der Erfüllungen. Es gab Abende, an denen der Mond sonnengroß und dunkelgelb wie eine Honigwabe am Himmel hing. Die Burschen und Mädchen aus den verstreuten Höfen sammelten sich unter der Tanzlinde. Sie ragte gewaltig und uralt. Ihre gebreiteten Arme wurden von steinernen Säulen getragen. Eine Hellberg hatte sie gepflanzt. An ihrem Hochzeitstage schritt sie mit dem Erwählten ihres Herzens den Reigen um das zarte Stämmlein, und jede Hellbergsche Braut hatte nach ihr das gleiche getan. Die Tanzlinde gehörte den Burschen und Mädchen das ganze Jahr rund. Von der ersten Verheißung der lichtgrünen Herzen, bis zur Erfüllung, die auf knisternden, goldenen Schuhen zog. Nur in den Jahren, wo es eine Hellbergsche Braut gab, durfte nicht eher um den Baum getanzt werden, als bis die Neuvermählten in diesem, anderswo vergessenen, feierlich schönen Tanz ihn umschritten hatten.

Daran dachte Amey, wie sie die Burschen und Mädchen von fern her singen hörte. Diese alten Lieder, die so überrinnend voll von Süßigkeit und Trauer sind.

Zu andern Zeiten schickte das Bruch jenseits der Wälder Gäste herüber. Eine Kette Moorhühner zog über den Park paarweise. Sie beschrieben gezirkelte Kurven und Tanzlinien. Sie schienen erregt und flohen einander und waren dennoch mit unsichtbaren Fesseln aneinander geschmiedet. Die Schillebolden standen in der flimmernden Luft über dem Burggraben. Man sah deutlich das bebende Geäder ihrer Florflügel und die glasigen, herausgestellten Augen. Dann schmiegten sie sich wie Kleinode in das weiche und lose Haar der Reedbüschel. Mücken und Käfer taumelten in der Trunkenheit ihres kurzen und heißen Mittags. Der Wind lief auf flinken nackten Füßen über das Gras, das sich in der Demut der Hingabe vor ihm bückte. Und eines Tages klang das erste Dengeln der Sensen. Als ob eine Tür ginge. Wenn sie sich schloß, konnten keine Macht und keine Götter sie wieder öffnen. – Dann wurde die Luft herb überperlt vom Schnitt des Grases und von ungezählten Wunden. Die Kiefernstämme flammten in der Abendsonne wie die Säulen alter südlicher Tempel. Der Kolüt, der eine Zeit geschwiegen hatte, flötete wieder, als ob seine kleine Brust zerbrechen müßte. Die Opfergarben wurden ins Erntefeuer geworfen, und die Burschen und Mädchen sprangen jauchzend und lodernd von Sonne und Liebe über den getürmten Stoß. – –

 

Einmal dachte Amey: »Ich muß in die Stadt. Ich muß zu Menschen. Etwas in mir ist zu straff gespannt. Wenn es reißt, kann keine Macht es wieder ausheilen«. Sie hatte den ganzen Abend auf der Terrasse in Onkel Rhabans Tagebüchern gelesen. Es gab keine Seite, die nicht ihren Namen geliebkost hätte. Sie ließ die Schimmel vor das Phaeton spannen. Sie waren das letzte Geschenk Onkel Rhabans.

Vor dem Asseburgschen Hause scheuten die Schimmel. Die drei Nachtigallen waren dort aufgereiht. Es waren alte Mädchen in karierten Umschlagetüchern, mit winzigen Tellerhütchen aus den siebziger Jahren. Sie hatten blutlose und eigentümlich gezogene Gesichter mit Hakennasen. Eine von ihnen spielte die Harfe, die andern sangen. Sie sangen sentimentale und neckische Lieder, die ihnen in ihrer Jugend wahrscheinlich vielen Beifall eingetragen hatten. Jetzt wirkten sie unsagbar peinvoll.

Amey hatte wie Onkel Rhaban eine krankhafte Scheu, vor anderen Wohltaten auszuüben. Während sie aus dem Wagen stieg, gab sie dem kleinen Giacomo ein Zeichen. Er vertrat sowohl die Ehre der Hellbergs wie das mildtätige Herz Ameys.

Als Amey durch das Flurfenster die alten Dinger sah, wie sie zu ihr hin groteske Verbeugungen machten, mußte sie an sich halten, nicht in Tränen auszubrechen. »Warum geben wir?« fragte etwas in ihr herrisch und unnachsichtig. »Um wohlzutun? Oder um ein Unbequemes los zu werden?« Sie staunte. Wie kam sie auf diese Frage.

»Etwas eng wird es dort werden, aber doch erst richtig gemütlich«, sagte Fräulein Mimi, als Amey in das Zimmer trat. Lieb und schneeweiß thronte sie auf ihrem erhöhten Fensterplatz und legte die große Patience. Sie hatte mit dem »dort« den Gottesacker im Sinne, dem sie wie einem ersehnten, aber zugleich etwas feierlichen Fest entgegenlebte. Er hatte für sie ein wenig von der Steifheit der Empfänge, die sie nie im Leben geschätzt hatte, verloren, seit ihre Kindheitsfreundin, Luischen Hacke, sich in der Nähe der Asseburgschen Erbgruft häuslich eingerichtet hatte.

Amey lächelte. Dabei wanderten ihre Augen zu dem Goethe, der aufgeschlagen neben dem Okkischälchen von Fräulein Claudine lag. Der Faust? Auf diesem Platze? Das befremdete.

Fräulein Claudine folgte dem Blick. »Es ist wegen Rotraut«, sagte sie. »Wundere dich nicht, Amey.« Das alte, noch immer feine Gesicht mit dem zierlich gebogenen Näschen errötete und bekam zugleich etwas Ablehnendes. »Begreife das, wer mag«, fuhr die alte Dame fort. »Ich nicht. Sie hat doch die nette kleine Erbschaft von Tante Bäneburg. Stiftsstellen könnte sie zwei bekommen. Und dann . . . – sich grade als gefallenes Mädchen vor alle Leute hinzustellen! . .«

Amey sah die alte Dame ratlos an. Plötzlich bückte sie sich nach irgend etwas, was nicht auf der Erde lag. Aber sie fühlte, wie sie sich verschluckte vor verhaltenem Lachen. Hatte sie denn ganz vergessen? Es gab einen kleinen Familienzwist nach der Mündigkeitserklärung Rotrauts. Eine Asseburg auf dem Theaterzettel!

»Aber die Kunst steht doch über allem Persönlichen«, sagte Amey sanft.

»Laß doch, Claudine«, wehrte Fräulein Mimi. »Da sitzt Gott drüber. Sei froh, daß sie nicht halbnackt vor den Photographen hinhockt.«

Fräulein Claudine winkte ärgerlich ab. Mimi setzte ihre Worte manchmal so seltsam peinlich. Aber Amey hatte die Nummer der ›Woche‹, in der eine bekannte Tänzerin in den charakteristischen Stellungen altindischer und ägyptischer Tänze abgebildet war, gar nicht in die Hände bekommen. Es hieß, sie sei aus ostpreußischem Adel.

Nachdem Fräulein Claudine festgestellt hatte, daß Ostpreußen immer schon von Asien abfärbte, und daß man sich über gar nichts, was dort passierte, groß wundern brauchte, wechselte sie das Gespräch auf ein Jäckchenmuster, noch aus ihrer Hofdamenzeit bei der geliebten seligen Herzogin. Dann kamen die reizenden kleinen Anekdoten aus ihrer Jugend aufs Tapet, in denen der ganze Adel der Umgegend sich Stelldichein gab. Vergangene Hoffestlichkeiten lebten auf, Missionspredigten, Siebzig, das Rote Kreuz, Familienspuk, Einmacherezepte, – und von dem ersten Hellberg wurde gesprochen, den Kaiser Ludwig zwischen das hoffärtige Stadtvolk und die übermütigen Bauern als Prellbock gesetzt hatte.

»Was ist nur?« dachte Amey. »Ich werde verschüttet. Ich kann mich nicht mehr rühren. Liege ich im Grabe oder unter einem Federbett?«

»Ich darf nicht länger stören.« Und zum Erstaunen von Fräulein Claudine, die nicht wußte, daß sie schon jemals ein Besuch gestört hätte, stand diese sonst so peinlich rücksichtsvolle Amey hastig auf und beteuerte, sie müsse durchaus noch einen notwendigen Weg machen.

»Professor Eosander«, befahl Amey, als sie in den Wagen stieg. Aber alle ihre Befehle klangen wie zärtliche Bitten. Jahre hindurch war Professor Eosander zweimal in der Woche mit den Füchsen abgeholt worden und hatte Amey in Mathematik und Naturwissenschaften unterrichtet. Er war etwas zu gründlich gewesen vielleicht. Amey mußte plötzlich lachen. Die Stunde fiel ihr ein mit dem Zwölffingerdarm. Der Professor kam direkt von seinem Schlachter mit einem tüchtigen kleinen Handkoffer voll Beispiele. Aber er hatte sie nicht alle anbringen können. Die alte Ariane war nach Wasser und Riechsalz gestürzt. »Er ist schuld, der Gute,« dachte Amey, »daß mir fürs Leben der Genuß von Wurst und Preßkopf versagt blieb, wovon die anderen so viel Wesens machen!«

Der Professor mußte Amey bitten lassen, etwas zu warten. Er habe ein anatomisches Präparat vor. Amey fühlte die Schauder kühl und glucksend wie Selterserwasser ihre Rückenhaut herunterhüpfen. Aber sie lachte sich aus. Sie folgte der Wirtschafterin in ein langes und schmales Zimmer. Durch das mit Weinlaub verhängte Fenster empfing es ein spärliches und grünlich geisterhaftes Licht.

Amey hatte nicht acht auf ihre Umgebung, als sie sich auf einen der bußartig harten hohen Stühle setzte. Draußen surrten in eintönigem und zugleich leidenschaftlichem Diskant die Insekten. Ameys Gedanken wanderten. Plötzlich schreckte sie auf. Die Glocken fingen an, die Glocken dieser Stadt, die dunkel und voll Fanatismus und süß und ekstatisch und unzählig sind.

Amey war aufgesprungen von ihrem Stuhl. Sie sah sich um in dem zellenartigen Raum. Ihr Gesicht bekam dieses zärtlich Hilflose, das allen Männern, die sie gekannt hatte, wie ein feiner Rausch zu Kopf stieg: ringsum an den Wänden, aufgereiht auf schmalen Borten, von der dunkeln Tapete sich grell abhebend, standen Schädel an Schädel. Etliche von ihnen grinsten mit nachgebliebenen langen Zähnen unter den grünlichen Lichtreflexen.

Amey tat einen Schritt zur Tür hin. Aber als sie die Klinke und damit die Möglichkeit des Entwischens in der Hand hatte, kam ihr der Mut zurück. »Was eine Türklinke vermag!« Sie lachte leise und sich selbst verspottend. Kam vielleicht aller Mut aus der Hoffnung des Entwischenkönnens?

Sogleich strafte sie sich. Die Hellbergs hatten doch wohl nicht gerade an Entwischen gedacht! Ihre schmalen Schultern drückten sich rückwärts. Sie schritt die Schädelreihe ab.

In der Mehrzahl waren es Gipsnachgüsse berühmter Persönlichkeiten. Sorgfältig etikettiert. Wie Eingemachtes. »Pitt«, las Amey. »Cromwell«, »Fichte«, »Voltaire«. – Dann kam ein kleiner, wohlgebildeter Knochenschädel, die Stirn in der oberen Hälfte stark und schön ausgebildet, das Merkmal des produktiven Menschen und mit einem schmalen, unmateriellen Kinn: »Der Puppenfranz«, stand auf dem Pappschildchen darunter.

Amey zuckte zusammen. Ein gespannter Blick trat in ihre Augen. –

Die Glocken hatten sich beruhigt. Eine nach der andern. Nur die inbrünstige verlangte noch immer mit diesen bebenden Herzschlägen . . .

Amey sah grüblerisch in den grünen Laubvorhang, der plötzlich ein flimmerndes Goldnetz wurde. »Der Puppenfranz!« Ihre Augen träumten. Mit spitzen Fingern und wie unter einem Zwang nahm sie den kleinen blanken Schädel von dem Bord. War es nicht ein matt und dunstig verhüllter Oktobermorgen? Die Nebel verrieten schon ein wenig von der Schärfe tausend feiner Brillantsplitter.

Onkel Rhaban war mit Amey in den Kuhstall getreten. Nach der Kühle draußen wirkte er warm wie ein Alkoven.

Aber Amey hatte nicht acht auf die Kühe, obwohl sie bekannt und herzlich, wie zu ihrem eigenen Fleisch und Blut, die Köpfe herumlegten und die dicken Zungen bereit machten für eine Liebkosung. Der Krüselkerl setzte Onkel Rhaban etwas auseinander, das aufregend und traurig war. Er fuhr mit den harten hornigen Fingern in der Luft umher und sagte allerlei von neumodischen Schändlichkeiten und von Josinens Tod und dem lüttjen Franz, der ihm auf den Händen blieb. Und wie die Elektrizität alte Leute um ihr rechtschaffenes Brot brächte. Sogar die Bauern wollten elektrisches Licht in ihre Ställe legen lassen. Dabei schwenkte er die Trankrüsel, die er nun seit vierzig Jahren in den Ställen von Arwinde und Söder und ringsum in Ordnung gehalten hatte. Ihr gelber Schein floß durch den warmen Dunst, der um die Tierleiber herstand, milde wie Honig. Er troff von den mahlenden schwarzen Kuhmäulern herunter und legte sich wie eine dicke goldene Wabe einem kleinen Jungen in den Haarschopf. Der Junge versteckte sich hinter dem Großvater, dem Krüselkerl. Er hieß Franz.

Amey fühlte den warmen Kuhatem, der an Himbeeren erinnerte. – Dieser Morgen hatte viele köstliche Tage im Gefolge. Onkel Rhaban hatte natürlich dem Krüselkerl zu Gefallen neben dem neu gelegten elektrischen Licht in den Ställen auch die alte honiggelbe Trankrüsel beibehalten. Er hatte angewiesen, jede Reparatur daran von jetzt ab doppelt zu honorieren. Dem knurrenden Verwalter gegenüber begründete er es mit einer Verfügung, die irgendwo über Trankrüsel in Kraft getreten sei. Seinen Gutsnachbarn, denen es zu Ohren kam, stellte er die Sache als eine seiner Exzentrizitäten dar, die man dulden müsse. Man konnte nicht die letzte Romantik aus dieser bereits so peinlich hell gewordenen Welt herausnötigen.

Amey hatte sich den Franz zum Spielen gewünscht. Wie andere Kinder sich einen Gummiball wünschen. Sie hatte ihn auch bekommen, soweit die Schule nicht anderer Meinung war. Jedem Sonnabend nachmittag hatte sie zwei Jahre hindurch in zitternder Ungeduld entgegengelebt.

Der Puppenfranz war anders als alle andern Kinder. Er allein wußte ebenso wie Amey, daß die Holz und Porzellantiere, die wolligen Bären, die Drachen und Vögel und die Elefanten aus Ebenholz keine toten Dinge waren. Er kannte ihre Seele und ihre Leidenschaften. Und niemals hatte man ihn über den Prinzen, die Braut, den Chinesen und den General aufklären müssen. Aber bei weitem das Schönste war doch dieses: sobald der Franz da war, trat jedes Ding in Aktion und redete sogleich in Gedichten, wie sie in Büchern standen.

Amey lächelte verloren und zärtlich. Hatte sie nicht damals selber oft genug in Reimen und Rhythmen gedacht? – In jener Zeit hatte ihr Onkel Rhaban das kleine Theater geschenkt. Wunderbare Stücke waren darauf in Szene gegangen. Mit Prinzen und Prinzessinnen, die ungeheuer edel und tapfer und tugendreich waren. Nur hier und dann, und das stand mit einemmal so deutlich vor Amey, daß es ihr vor unterdrücktem Lachen im Halse weh tat: die Prinzessin, die sie agierte, hatte zuweilen nicht gewußt, wen sie nun eigentlich liebte. Sie hatte es wirklich nicht gewußt. Sie gefielen ihr alle ausnehmend, ihre Bewerber. Der Puppenfranz geriet dann jedesmal außer sich. Denn natürlich vertrat er den einen der Helden ganz ausdrücklich. Einmal fuhr sein Zorn der Pappgesellschaft so schwer in die Drähte, daß sie sich rettungslos und quieksend verwirrten. »Liebst du mich nun, oder liebst du mich nicht?« Ja, da wußte Amey freilich wohl, daß die Prinzessin ihn allein liebte. Es war sehr aufregend. Eigentlich war es schön, aber doch wurde man etwas verlegen. Besonders, wenn der pappene Prinz und die Prinzessin in voller Person sich schräg gegeneinander lehnten. Welche steile Dreiecksstellung den Verlobungskuß ausdrückte. – Ja, in allen Spielen war Amey die Königin, und der Franz war ihr kühner Sänger, ihr herrischer Herr und demütiger Knecht.

Aber dann – wie war doch das? – Dieser Frohnleichnamstag! Die ganze Stadt schwamm in Weihrauch und Laub. Der Puppenfranz war sehr krank gewesen. Sie durfte mit der alten Ariane in die Stadt fahren. Sie brachten ihm Himbeersaft und andere gute Dinge. Und ein ganzes Körbchen voll Rosen. Es waren dunkelrote, die, wie keine andere Sorte, ausgenommen die Zentifolien, den ganz eigentlichen Rosengeruch haben.

Nun stand sie wieder in dem niedrigen, verräucherten Stübchen mit den zugesperrten Fenstern, in dem so wunderliche Dinge an den Wänden hingen, und wo es so scharf roch. Auf der rotgewürfelten Bettdecke fuhr eine magere spitzfingrige Jungenshand hin und her und griff plötzlich so fest Amey ums Handgelenk, daß ein roter Reif zurückblieb.

Amey hatte in großer Hilflosigkeit eine dunkle Rose genommen. Sie merkte nicht, daß sie die Blätter auspflückte. Sie ließ sie tropfen. Eine Purpurdecke voll Wohlgeruch kühlte die fiebernden Jungensaugen.

»Amey, das ist die Königin!« stammelte der Franz.

»Sie schafft, daß ich sehr freudig bin.
Vielleicht darf ich genesen,
Nun sie bei mir gewesen!«

– – Daß sie nie mehr an diese unbeholfenen und rührenden Kinderverse gedacht hatte!

»Ich fordere frei die Welt heraus.
Und gründe hoch mein goldenes Haus.
Amey, das ist die Königin.
Sie schafft, daß gar so kühn ich bin.« – –

Der Franz war später nur noch wenige Male auf die Burg herausgekommen. Er sah so anders aus. Die Kleider schlotterten ihm. Die Handgelenke hingen lang und knochig aus den ausgewachsenen Jackenärmeln. Vielleicht war Amey schon zu groß, trotzdem wartete sie, daß die wundervollen Spiele wieder anfangen sollten. Aber es kam nicht mehr recht dazu. Der Franz schien das Reden verlernt zu haben. Auch war Onkel Rhaban immer irgendwo in der Nähe.

Dann eines Tages war irgendeine Sache mit einem Brief. »Ein toller Brief.« Amey hatte im Vorbeigehen so ein Wort aufgefangen zwischen Onkel Rhaban und dem Professor. Warum hatte sie nicht gefragt? –

Der Franz müsse jetzt sehr viel lernen, anderswo, hieß es eines Tages. Sie sah plötzlich Onkel Rhabans Blick auf sich gerichtet, diesen zärtlichen, und wie sie jetzt dachte, leicht beunruhigten Blick, als sie leidenschaftlich weinend nach ihrem Freunde verlangt hatte. Gleich danach waren sie für den Winter nach Capri gegangen. – – –

Sie hielt den kleinen, elfenbeinglatten Schädel noch immer in der Wiege ihrer Hand. Sie sah ihn nicht. Sie schritt in den blühenden Gärten der Kindheit. Plötzlich aber, – – übertäubte sie nicht der Geruch von dunkelroten Rosen und Heu? Sie erblickte die Burschen, wie sie ellenhoch ihre Mädchen unter der Tanzlinde schwangen.

»Im weißen Schnee,
Im grünen Klee . . .«

In diesem Augenblick, als Amey mit spitzen und bebenden Fingern den kleinen Schädel wieder an Ort und Stelle setzte, ließ der Professor bitten. Er hatte sich sorgfältig gewaschen und gebürstet, was nicht mehr ganz selbstverständlich zu seinen Gewohnheiten gehörte. Der Name Ameys hatte Perspektiven von Erinnerungen wachgerufen.

Amey wollte so viel fragen, wie er in einem Anfluge alter Ritterlichkeit einen Arm voll Kosmosbände unter ihre Füße häufte. Aber sie war zerstreut. Kam von einem auf das andere. »Was mag aus dem Puppenfranz geworden sein?«

Der alte Herr geriet sogleich in sein Fahrwasser. Natürlich, sie hatten doch zusammen gespielt, Baronesse Amey und dieser genial veranlagte Enkel vom Krüselkerl. Und jetzt – ob sie nicht drüben? . . . Er wollte ihr . . . Sogleich, sogleich. – Er bemerkte Ameys Abwehr gar nicht im hohen Stolz des Sammlers. Er hatte den Schädel schon geholt. Er setzte ihr alle Feinheiten dieses Staatsstücks auseinander: produktive Begabung, hoher Idealismus und mangelnder Wirklichkeitssinn. Es wäre ja dann auch so gekommen. Nach langem hoffnungslosem Krankenlager in der Tübinger Universitätsklinik und in einem grimmigen Humor hatte der Franz seinen Schädel der dortigen Anatomie vermacht, damit in diesem Jahrhundert der Technik und der Wissenschaft ein so nutzloses Objekt wie ein Dichterschädel doch wenigstens einen Sinn und eine Daseinsberechtigung gehabt habe.

Der Professor wollte Amey gerade erzählen, durch welche seltsame Verkettung des Zufalls er in den Besitz dieses Schatzes gelangt war. Aber . . .

»Ich fordre frei die Welt heraus . . .«

»Wie meinen Baronesse?« Um Gotteswillen! Das war eine schöne Geschichte! Der alte Herr lief mit kleinen ängstlichen Schritten ans Fenster und riß es auf, dann hielt er Amey ein Glas mit Kognak, den er immer schnell und bequem zur Hand hatte, an die Lippen.

Aber für Amey genügte bereits der Geruch dieser Flüssigkeit. Die Schauder liefen ihr über die Haut. Sie witterte mit den feinen Nasenflügeln, wendete den Kopf abwehrend zur Seite und kämpfte ein paar Augenblicke wie gegen eine unüberwindliche Schlaftrunkenheit. Plötzlich geriet der Kosmos unter ihren Füßen, den der Professor in alphabetischer Folge aufgebaut hatte, in peinliche Verwirrung. Und zum hohen Staunen des alten Herrn, der, ohne zu ahnen, daß und warum er den Kognak selbst genießerisch und in kleinen Schlucken austrank, stand Amey plötzlich mitten im Zimmer. Sie stand sehr gerade und verabschiedete sich lieb und gütig wie immer, aber in einer gewissen Hast. –

Eigentlich hatte sie noch zu Busches fahren wollen. Aber dann erstaunte sie den alten Kersten nicht wenig, als sie ihn plötzlich halten ließ. Er solle vorauffahren und bei der Schildhornbrücke auf sie warten. –

Sie ging durch die alten Straßen und über die Plätze der Stadt, unter einem rätselhaften Zwange, und als ob sie etwas Bestimmtes suchen müsse. – »Habe ich die Stadt jemals in dieser Weise gesehen?« dachte Amey, wie sie allein in dem weichen Verblassen des Tages unter den violetten Giebeln schritt. »Sie stand mir zu nah«, dachte sie plötzlich. »Alles, was immer um uns her ist, kennen wir nicht. Erst muß . . . das große Unbekannte muß« . . . Sie fühlte eine leichte Kühle im Nacken. »Vielleicht ist es auch das,« dachte sie, »wir haben ein unvollkommenes Bild von den Dingen, solange wir jedes für sich allein sehen. Wir müßten sie eingliedern können!« Sie sah gespannt die eng gewundene Straße herunter mit ihren Ausluchten und Erkern und steinernen Treppen vor kostbaren Portalen. Die Mauern der Häuser hatten jetzt etwas eigentümlich Durchscheinendes bekommen. Ihre Profile standen seltsam klar gegen den eingedunkelten Himmel. Es war Vollmond. Die übergoldete Domkuppel schwebte wie ein Stern. Grüne Gletscherwasser strömten von den Kupferplatten der Türme und Dächer über die versteinten Drachen und Heiligen. Hoch oben im steilen Giebel des Gasthofs »Zum Engel« standen zwei Fenster hell und weit geöffnet. Gesang schwoll heraus. Eine Männer- und eine Frauenstimme. Dazu eine Laute.

»Im Rosengarten
Will ich deiner warten.
Im grünen Klee,
Im weißen Schnee.«

Amey stand und lauschte. Alle andern Häuser waren dunkel. Nur auf dem Halseisen am Turm spielte der Mond und auf dem Schwert des eisernen Roland. Kein Mensch war auf der Straße. Eine vergangene Welt stand um Amey. Eine untergegangene Epoche. Nur in den zwei glänzenden Fenstern dort, hoch oben im gesteilten Giebel träumte sie von ihrer frommen, süßen und bangen Seele.

Amey verspürte eine leichte Schwäche. Ihr fiel ein, daß die alte Ariane dann zu sagen pflegte, sie habe gewiß nichts im Magen. Sie stieg langsam die Stufen hinauf zur Domschenke. Der Wirt stutzte. Das gnädige Fräulein von Arwinde . . . um diese Zeit . . . und allein? . . Unter vielen Verbeugungen rückte er ein Tischchen an die Wand der überschneiten Oleanderbüsche. »Aßmannshäuser vielleicht? – Wie gnädige Baronesse befehlen.« Er flog, soweit es sich mit seiner Wirtswürde vertrug, eine kleine gewählte Speisefolge zusammenzustellen.

Amey trank ein paar Tropfen und nahm ein paar Bissen. Sie wußte nicht, was sie aß. Und sie hatte noch nie gefragt, was aus dem wurde, was übrig blieb.

Die andern Tische waren schwach besetzt. Man musterte Amey von weitem und diskret. Wer sie nicht kannte vom Sehen, erfuhr durch den Wirt, was er wissen wollte. Niemandem wäre es nur entfernt in den Sinn gekommen, sich in ihre Nähe zu setzen.

Amey lächelte plötzlich verloren und wehmütig wissend: die Isolierschicht! –

»Arme Amey!« So sagte einmal Onkel Rhaban. Nichts weiter. Sie benötigten immer nur der Grundbegriffe für einander.

Ja, es kam wohl durch Onkel Rhaban. »Die Menschheit liebte er glühend«, dachte Amey. »Aber es ist ein anderes, den einzelnen zu ertragen. Vielleicht mußte er die intimen Annäherungen vermeiden. Er wußte, er würde nicht halten können, was man von ihm erwartete. – Und ich?« – dachte sie dann. Etwas verwirrte sie. –

Plötzlich wurde sie des leisen Rauschens gewahr unter ihren Füßen. Ein anderer hätte es schwerlich gehört. Ihr diente jeder Nerv. Die Domquelle! Unter tausendjährigem Kulturschutt. Einmal ragte dort Friggs Heiligtum. –

Amey stand auf. Sie vergaß zu zahlen. Sie hatte noch nie in einem Gasthof selber bezahlt. Der Wirt der Domschenke verbeugte sich ebenso oft und tief wie vorhin. Wenn ihm alles im Leben so sicher war, wie dieses Geld! . . .

Amey ging seltsame Wege. Wege, wie man sie träumt. Über kleine verwunschene Plätze, wo das Gras zwischen den Steinplatten in winzigen Speerspitzen herausstach und unter Lindwürmern und Scheusalen und frommen Heiligen. Sie kam an Kirchenportalen vorüber, vor denen die schöne und heimwehkranke Agnete stand, die den Wassermann geheiratet hatte.

Einmal zögerte sie vor der dunkeln schlundartigen Öffnung zwischen zwei Häuserreihen. Wenn nichts weiter als diese Gasse zwei Herzen trennte . . . Aber plötzlich berührte ihre Hand etwas Kaltes, Metallisches. Sie fuhr zurück: es waren die Haspen am Eingang der Judengasse. Die Torflügel hingen einstmals darin, die sie nach Sonnenuntergang von der Welt des Lebens abschlossen.

Amey lief, als ob sie flüchte. Sie stellte sich in den Schutz des eisernen Roland. Wer in dieser Stadt zu Hause war, gehörte ihm das Heut? War er nicht mit dem grauen Gestern verhaftet, wie sie mit den Hellbergs in den Zinnsärgen verhaftet war? – Sie fuhr zusammen und sah sich um. – Roch es nach schwelendem Holz? – Sie wußte nicht, wann und wo sie es gelesen hatte: »Der Marktplatz der Stadt aber glich einem kleinen Walde in jenem Sommer, von der Menge der Marterhölzlein.«

Es mußte ein Sommer gewesen sein wie der heurige, der im Blute brannte, wie schwerflüssiger Südwein. Die armen jungen Hexen hatten nicht gewußt, warum ihr Blut so irr und selig und böse geworden war. –

Hellebore steht im Walde tief.
Sie weiß nur sich allein.
So heiß wie Tag, so tief wie Nacht.
Wer ist es, den sie trunken macht?
Wem wird sie süße Gnade sein?
Wer stirbt, wenn sie ihn rief? – – –

Ja – nun mußte sie, so schnell sie nur konnte zur Schildhornbrücke. Wie gut würde das sein, sich in die Kissen des Wagens zu drücken und die Augen zuzumachen. Dann trabten, trabten die Schimmel.

Aber als Amey wieder anfing durch Gassen und Gäßchen hin und her, stellte sich jäh vor die Mündung einer Straße eine Kirche. Ihr Turm wuchs in den Himmel. Er war aus Milchglas. Durch die Glockenfenster sank das Mondlicht. Wie Aqua marin.

Amey zog sich zusammen. Hier. Gerade so, vor der Mündung der Straße wuchs der Turm. Damals. Sie wußte es nicht: Sie legte die Hand auf einen eisernen, aber kunstvoll gearbeiteten Türgriff. Es war ein armseliges Häuslein.

Jetzt kam es geschritten. Amey stand noch. Vom Turm her kam es. Im Takt. Die Mondgasse entlang, die weiß wie getüncht aussah: drei Soldaten kamen. Untergefaßt. Sie waren blutjunge Burschen. Amey wich zurück in den Schatten der Haustür.

»Im grünen Klee, Im weißen Schnee . . .«

Gab es nur dieses eine Lied auf der Welt? »Mutter«, stammelte sie plötzlich. Niemals hatte sie ihr Gesicht in ihrer Mutter Schoß geborgen. Vielleicht dachte sie Onkel Rhaban. Aber irgendeine geheime Macht drängte sie an den letzten Rand und an die Wurzeln alles Seins. –

Dann ging sie. Vom Hause des Puppenfranz dem Liede nach. Zu ihrem Wagen. Sie wußte nicht, daß die Tränen ihr Gesicht überströmten. –

So war das Gebet der alten Ariane, das sie täglich der heiligen Agatha vortrug, zuletzt erhört worden: zum erstenmal, seitdem Onkel Rhaban gestorben war, hatte Amey geweint. – – – – – – – – – –

 


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