Friede H. Kraze
Amey
Friede H. Kraze

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Amey ging den ganzen folgenden Tag im Glück. Sie wußte noch nichts. So gut wie gar nichts wußte sie. Vielmehr die Geheimnisse um sie her türmten immer höher. Aber sie wollte acht geben und lernen! dachte Amey demütig. – Nichts sollte ihr zu hoch sein oder zu gering. Wie ein Kind wollte sie das Alphabet vornehmen mit großem Fleiß. Einmal würde dann das ganze herrliche Buch offen vor ihr liegen! – – –

Und wieviel Freunde sie bekam! Hier in der Pension das rührende Fräulein Fink! Mit den andern war sie wohl auch ein wenig unleidlich. Wenn man nun immer in den alten Raubnestern saß oder einem Thron zur Seite . . .

»Ja – aber vor allem Fräulein Bronklava! Und meine kleine Konzertfreundin!« dachte Amey.

Zu ihr mußte sie entschieden zuerst!

Amey ging in den nächsten Blumenladen. Eigentlich war es nicht der nächste, aber es war der einzige, der hier in Betracht kam: nämlich es gab eine wirkliche Gärtnerei im Hintergrunde. Darin war Amey unerreichbar: im Auffinden von Gärtnereien. Mit allen Gärtnern war sie auf Du und Du. Man gab ihr ein Stück Bast in die Hand, sobald sie den Laden betrat. Dann führte man sie durch Warmhäuser, wo seine Tropfen die Glasdächer beperlten, wo es so köstlich nach Erde roch, und in irgendeiner Ecke ein Wässerchen tropfte. Die Blumen schienen wie lauter gute Freunde nur darauf gewartet zu haben, daß Amey endlich käme. Hyazinthen ließ sie abschneiden, helle in allen Farben und Tulpen, langstielige mit den weichen, dunklen Schattenflecken und dem zarten Duft. Weiße, schlanke Fliederzweige und kupfrige Azaleenbüschel. Ja, und nun noch Tazetten und Veilchen. –

Während Amey Blumen zueinander band, hatte Elisabeth Ewald ihre letzte Schülerin entlassen. Nun saß sie und wartete. Jeden Tag um diese Zeit saß sie ein Weilchen in dem großen, grünbezogenen Lehnstuhl und wartete. Das alte Fräulein, eine Stiefschwester ihrer verstorbenen Mutter, mit der sie zusammen lebte, machte in der Dämmerung meist ein paar notwendige Wege.

Das war gut so. Die kleine Klavierlehrerin schloß die Augen und lehnte den Rücken an die Stuhllehne. Wenn man so sechs Stunden mit dem Bleistift den Takt geklopft hat: eins und, zwei und . . . Sie schienen alle in ihre Lungen hineingeschlüpft zu sein, die aufgeregten Sechzehntel, die Achtel, die immer noch ein wenig Amphibium sind mit ihrem flatternden Schwänzchen, die schon beruhigten Viertel und Halben, und zuletzt die Ganzen, ältere Damen, korpulent geworden, ohne jeden Anhang und ihres Wertes sich voll bewußt.

Überhaupt Musik! Welcher Unterschied! Elisabeth Ewald konnte dabei allerdings nicht an die Musik ihrer Schülerinnen denken. Wenn die letzte von ihnen die kleine Vorsaaltür hinter sich geschlossen hatte, war sie versunken für ihre Lehrerin. Es gab keine Beziehungen zwischen ihr und jungen Menschen.

Aber jetzt hatte sie diese feine und heimliche Bitternis beiseite gelegt.

In diesem Augenblick ging draußen die Türglocke. Jeder Mensch hat eine bestimmte Art zu läuten. War es dieses ganz neue und fremde Klingelzeichen, worauf Elisabeth Ewald schon immer gewartet hatte? Ein schwaches Rot stieg wie mühevoll in ihre flachen Wangen. Sie fühlte eine leichte Ermattung der Knie, wie sie aufstand. Kam es nun?

»Oh, Sie selber!«

Die kleine Verwachsene legte zwei Finger an die Schläfe, als ob sie plötzlich schmerzten.

»Sie müssen sitzen, das war sicher Ihr Platz!« Amey drückte sie sanft in den Lehnstuhl.

Nein, so träumte man doch nicht: Der alte Fenstersitz, von wo aus Elisabeth Ewald jeden Abend in die Wolken sah, ihr kleiner, marmorner Strickbecher auf der Nähtischdecke aus gelblichem Kongreßstoff mit einem Blumenmuster im Jugendstil bestickt, das Bücherbord, das schon lange ein bißchen ängstlich in seinen Schnüren hing, all dieses war doch zu wirklich. Aber das andere – das ganz Unwirkliche: Jemand, in grauer, silbriger Seide und Chiffon, ein wenig rosa und grün an Hals und Brust, warf achtlos einen kostbaren Pelz in irgendeine Ecke, und ein paar Handschuhe folgten ihm hinterdrein. Zwei Hände häuften einen blühenden Garten auf den armen, verkümmerten Schoß und zartfarbige Päckchen und verheißende Tütchen. Und dann streichelten dieselben Hände, und jemand bat und lachte. –

»Ein paar Mütter von Schülerinnen haben mir einmal Haferkakao geschickt«, sagte Elisabeth Ewald. Ihr Gesicht bekam einen merkwürdig gezogenen Ausdruck, von dem man noch nicht wußte, was er bedeutete. »Und Malzextrakt, und Flanell zu einer Bluse. Es war so gut gemeint, so sehr gut.« Ihre Stimme fing an zu zittern. Das Gezogene in ihrem Gesicht gab schmerzhaft nach.

»Mein Gott!« Amey erschrak. Noch niemand hatte diese armen, sehnsüchtigen Augen in die holden Gärten des Überflusses gerufen? Amey legte scheu ihre Arme um den Hals der kleinen Verwachsenen. »Es ist Glück«, murmelte Elisabeth Ewald weinend. »Nichts als Glück!«

Amey saß neben ihr auf der Armlehne des alten, grünen Stuhles. Sie streichelte das blasse Gesicht. »Ein paar Blumen«, dachte Amey. »O Gott, nur ein paar Blumen!«

Plötzlich, als ob sich ihr Tränenborn erschöpft habe, tat die kleine Klavierlehrerin einen letzten tiefen Seufzer. »Bitte, darf ich Sie sehen?«

Amey glitt herunter von ihrer Stuhllehne. Sie stellte sich der kleinen Verwachsenen gegenüber wie ein Stück zur Besichtigung. »Das bin ich.« Sie lachte glücklich.

Elisabeth Ewald hatte die mageren Händchen über ihren Blumen gefaltet. Sie sah auf zu Amey. Ihre Augen waren inbrünstig. »Immer um diese Zeit habe ich gewartet«, sagte sie. »Um diese Stunde, wenn die Wolken manchmal wie graue Seide aussehen mit rosenroten und grünlichen Scheinen wie die Brustfedern von einer Sorte Tauben. – Ja, es ist gut, wenn man so hoch wohnt, daß man die Wolken sehen kann«, unterbrach sie sich.

»Wie schön ihre Stimme klingt!« dachte Amey. »Wie eine tiefe Glocke. Jedem Menschen gab die Natur ein Geschenk, womit sie für alles, worin sie versagte, entschädigte.«

»Einmal würde es wohl geschehen,« sagte die kleine Verwachsene, »einmal um diese Stunde würde das Wunder wohl kommen.« – Ihr Gesicht verklärte sich.

»Wie viele sind es, die auf ihr Wunder warten!« dachte Amey.

»Ein Ahorn steht da drüben in einem Hof, bitte – ein wenig bücken, – so . . . Ja, dort über dem zweistöckigen Haus. Sie sehen ihn? Nicht wahr? Meinen Ahorn. Jetzt sind die Zweige noch schwarz und sperrig. Aber wieviel goldene und grüne Geheimnisse sie wissen! Sie können es sich nicht vorstellen.«

»Nein,« dachte Amey, »nein. Ich kann es mir nicht vorstellen. Ich habe Gärten voll herrlicher Bäume, größer als diese große Stadt. Ich habe Wälder und Wiesen und Felder. Und ich glaube wohl, daß sie mich ganz als eine Schwester betrachten, alle meine grünen Brüder daheim. Aber dieser Ahornwipfel, der so inbrünstig seine Arme hebt, nur um dich zu beglücken, du armes Herz, die Geheimnisse dieser wenigen Zweige, nein – die kann ich mir gewiß nicht vorstellen!«

»Es ist ein Amselnest in dem Ahorn«, die Augen der kleinen Verwachsenen wurden groß. Sie flüsterte, als ob ein lautes Wort eine brütende Vogelmutter verstören könnte. »Ganz mitten im Baum, wo der Schatten dunkelblau ist. Mitten in diesem Dunkelblauen ist das Nest.«

»Sie haben es gesehen?« Auch Amey flüsterte. – Nein die kleine Verwachsene hatte das Nest nicht gesehen. Sie wußte nicht einmal, zu welchem Haus jener gesegnete Hof gehörte. Aber eines Abends – nie würde sie diesen Abend vergessen. – In tausend Jahren nicht. – Es war April, es hatte geregnet, die Luft war lau und voll Duft, vom Humboldthain mußte sie all diesen Duft haben. Oder, – ob sie ihn von fernen Feldern und Wiesen mitbrachte? – Der kleine verkümmerte Brustkasten hob und senkte sich in tiefen Atemzügen. Die durchsichtigen Nasenflügel blähten sich. Elisabeth Ewald hob den Strauß auf ihrem Schoß. Mit geschlossenen Augen und zurückgedrücktem Kopf roch sie daran. »All dieses Süße war in der Luft damals«, sagte sie. »Tausend ungeborene Blüten hatten sie mit ihrem Lebensverlangen beladen. – An diesem Abend hörte ich die Drossel zum erstenmal! – Ja!« fuhr sie dann leise fort, »und wie sie so lockte und betörte, und alles wußte und nichts verriet, da wurde der Himmel wie graue, silbrige Seide mit rosenroten und grünen Scheinen, und ich wußte, wenn einmal das Wunder zu mir treten sollte – wie der Himmel mußte es aussehen. Es mußte aussehen – wie Sie!« – Ihre Augen hingen an Amey, wie im Gebet.

»Ich soll ihr Wunder sein!« dachte Amey. »Da die Liebe sich diesem armen Körper versagen muß, so soll die Freundschaft sein Wunder werden?« Sie trat einen Schritt näher zu dem grünen Stuhl hin, sie bückte sich ein wenig. Sie streichelte das blonde Haar, das in einem Kranz um den Kopf lag. »Ja, ich kam«, sagte sie. –

»Wie jener Frühlingsabend sind Sie gekommen. Wie die Wolken und wie das Lied der Amsel. Oh, werden Sie auch wieder gehen, wie der Frühling vergeht?« –

Amey schüttelte den Kopf. »Nein, nein!« Ihre Hand glitt zart über die Augen, in die ein angstvoller Blick getreten war. »Ich bleibe. Vielmehr, ich komme wieder. Und Sie kommen zu mir. Oh, wenn ich Sie erst auf dem Wunschberg haben werde!« – Sie erzählte vom Wunschberg. Von all den Hellbergschen Frauen erzählte sie, die dort ein Glück erwartet hatten, oder empfangen, oder verloren und beweint. Von den Terrassen, wo die schönen und schemenhaften Götter standen und ihre Nacktheit von Kaskaden von Rosen umspülen ließen wie von morgenglutigen Wassern.

Man mochte wohl Pläne schmieden! Ferienpläne! Und dazwischen ging Amey ab und zu und lachte und sang und suchte. Eine große graue Steinkruke fand sich in der winzigen Küche, die zugleich Vorplatz war und durch einen kleinen roten Kattunvorhang ihre zwei Funktionen reinlich und schamhaft voneinander trennte. Es gab nicht Vasen genug, alle Blumen zu empfangen. Aber die Steinkruke war soeben ohne Dienst. Sie hatte gestern die letzte Senfgurke hergegeben. Wie herrlich wirkte dieses matte Grau! Sehen Sie doch, – besonders zu den gelblichen Hyazinthen und der zarten, rostroten Azalee. – Nein und der Wasserhahn! So nahe zur Hand! Beinah in der Stube! Nachher knotete man eine Tüte auf. Diese entzückende, aus lila Krepppapier mit silbernen Blumen und Fäden. Wußte man denn hier oben auch, daß die Hasen schon anfingen, sich wichtig zu tun? – Ja, und nun Konfekt mit Pistazien!

Elisabeth Ewald bekam ein Jungmädchengesicht. Pistazien! Sie hatte das Wort noch nicht gehört. Man sah Menschen mit Haut wie gebrannte Kaffeebohnen in gelbe seidene Tücher gewickelt. Man sah blendende Küsten an ultramarinblauen Meeren und Palmen und Papageien. O süßer Überfluß des Lebens! O Schönheit ohne Nutzen und darum erst vollkommene Schönheit! Elisabeth Ewald legte ihre mageren Arme um die graue Steinkruke. Sie versteckte ihr Gesicht in Hyazinthen und Veilchen. –

Einmal klingelte es. Wie schrecklich! Aber man mußte wohl nachsehen. Ob es auch Nelli war? – Amey lief hin und öffnete. Nein, es war ein kleiner Junge, der die Klavierstunde für morgen absagen kam.

Ja, über Nelli würde man wohl diesmal nicht hören. Mit dem Drücker hatte sich die Tante von Elisabeth lautlos eingelassen. Nun stand sie plötzlich im Stübchen. Wie ein Knecht stand sie da. Riesengroß, ungefüge. Braun und fest gekleidet. Sie hatte einen sonderbaren Blick in ihren hellen Augen. Unbewegt. Wie ein Tierbändiger. »Ee, Kindchen!« – Ihre Stimme war tief wie die von Elisabeth, aber ohne deren samtige Wärme. »Ich roch es schon vor der Entreetür. Lieschen hat feinen Besuch, sagte ich zu mir!«

Elisabeth errötete. Amey lachte, wiewohl sie sich etwas vor dem Blick ängstigte. »Wir kennen uns seit dem Konzert. Ich weiß nicht, hat Ihnen Elisabeth erzählt? . . . Nicht wahr, ich darf einmal wiederkommen?« Sie hob eilig die goldenen und silbernen Konfekthäutchen auf, die wie die Fußspuren einer Fee durch das Zimmer liefen. »Bitte, nehmen Sie doch. Bitte sehr!« Sie bot der Tante die geöffnete Tüte.

»Ich bin so frei«, sagte Fräulein Grützner, die in Ostpreußen zu Hause war. »Lieschen, erbarm dich. Wie kommst du dir denn vor?« Zum erstenmal ging eine Spur von Bewegung über ihr Gesicht. Sie machte einen Preisüberschlag.

Elisabeths Augen entschuldigten peinvoll.

Aber Amey kannte Fräulein Grützner nicht. Sie wußte nicht, wodurch sie bewegt worden. Sie nahm den Umschwung einfach als zu ihren Gunsten. »Oh, Fräulein Grützner!« Amey legte dankbar und glücklich ihrer kleinen Freundin die Hand auf die Schulter: »Sie kennen mich noch gar nicht, und doch sind Sie so furchtbar lieb zu mir! Darf ich wiederkommen? Sonntag vielleicht? Wir machen ein Picknick. – Picknicks sind so entzückend!«

»Wenn es Ihnen gut genug bei uns ist!« Fräulein Grützners Augen ruhten wieder hell, unbewegt und ein wenig beängstigend auf Amey. »Wir wissen die Ehre zu schätzen, Lieschen, nicht wahr?« Amey fühlte, wie die verkrümmte Schulter unter ihrer Hand zuckte. Ihre Stimme bat zärtlich: »Wenn es nicht gar zu unbescheiden ist – also, wirklich Sonntag um 5 Uhr?« Sie verabschiedete sich. In der Tür wandte sie sich noch einmal zurück zu ihrer kleinen Freundin. Sie sah sie an, als ob sie ein kostbares Geschenk mit fortnähme. – – – – – – – – –

 

In den folgenden Tagen kam der Winter noch einmal hart über die Welt. Schnee lag in der Luft, als Amey sich auf den Weg zu Fräulein Bronklava machte. Sie wollte mit der elektrischen Bahn fahren. Die Generalin, die in diesen Gegenden so sehr zu Hause war, hatte Amey mit dem Plan von Berlin in der Hand alles aufs genaueste beschrieben. Aber Amey, die sich in den meilenweiten Wäldern der Hellbergs noch niemals verirrt hatte, war hilflos in jeder Stadt. Natürlich stieg sie an der falschen Straßenecke aus. Der Himmel war farblos und grau. Wenn der Schnee fiel, würde es nicht jener Schnee sein, wie sie ihn von Hause her kannte, der sich wie die Güte und wie die Schönheit über die schlafenden Fluren deckte. Er würde sehr schnell eine widerlich glitschende Masse werden, die bei jedem Schritt hoch hinauf den Rocksaum beschmutzte, und die für niemanden eine Freude bedeutete als für unzählige Arbeitslose.

Amey sah sich ratlos um. Diese fremden, unfrohen Straßen, hatte sie sie nicht schon einmal gesehen? Aber wann? Sie konnte sich nicht entsinnen. – Vielleicht mußte sie nach den Friedhöfen fragen. Fräulein Bronklava hatte dieser wie eines Glückes und als in der Nähe erwähnt.

Ein junges, rothaariges Mädchen kam vorbei. Dürftig gekleidet, aber mit einer gewissen Zierlichkeit und dem Wunsch zu gefallen. »Die Kirchhöfe?« Ihre Augen, die flirrend waren und gerötet wie von wachen und erregenden Nächten, bekamen einen verlorenen Ausdruck. »Die Kirchhöfe?« Im nächsten Augenblick hatte sie den Mantel Ameys gemustert und den Sammethut. Ihre Hände, die unschön und frierend aus den zu kurzen Jackenärmeln hingen, machten eine hohnvolle Gebärde. »Die Kirchhöfe in der Ackerstraße meinen Sie ja wohl nicht. Dadrin sind wir Ihnen nu mal über! Nee. Da haben Sie nichts verloren, Fräulein!«

Amey fühlte, wie ihr etwas die Kehle zudrückte. »Oh, bitte!« sagte sie angestrengt. »Bitte, nein!« Die Rothaarige, die sich schon abgewandt hatte, stand plötzlich noch einmal still. Sie sah Amey an. Eindringlich. »Weinen brauchen Sie dadrum auch nicht«, sagte sie plötzlich rauh. – Weinte Amey? Sie wußte das gar nicht. Sie fuhr hastig über die Augen. Sie lachte leicht verlegen.

Sie war so voll Glück und Dank. Daß dieser fremde Mensch, vor dem sie sich noch eben entsetzt hatte, gut zu ihr sprach. Wie konnte man leben, wenn man nicht gut miteinander war? »Ich möchte so gern« . . . Sie wußte es augenscheinlich nicht deutlich, was sie so gern gemocht hätte. Ihre Augen eilten über die dürftige Kleidung, die doch gern zierlich gewesen wäre. Sie hafteten an den Händen, die frierend und verdammt aus den zu kurzen Jackenärmeln hingen. »Dies möchte ich, bitte«, sagte Amey leise und innig überredend. Zugleich hatte sie ihren kostbaren Muff aus Otternfell, der warm und weich war wie eine Liebkosung, der Rothaarigen in die Hände gedrückt. Wie erschreckt über ihre Kühnheit, und während das Mädchen mit einem fremden, verdutzten Lächeln ihr nachstarrte, hastete sie über den Fahrdamm zu einer verkommenen Droschke. »Chausseestraße 17. Schnell!«

Als das elende Pferd sich schläfrig in Bewegung setzte, schien in die Rothaarige Leben zu kommen. »So haben wir nicht gewettet!« Sie rannte der Droschke hinterdrein. »Ein Müffchen auf Abschlag! Daß Euch Euer schlechtes Gewissen nicht plagt. Nee. Is nich. Ganz bezahlt soll werden!«

Amey, die sich entsetzt in die Ecke ihrer Droschke drängte, sah einen dunkeln weichen Ball am Fenster vorüberfliegen. Wie bei einem Spiel flog er wieder und wieder und noch einmal. Mit ihm zugleich flogen Worte, die Amey noch niemals gehört hatte, und deren Sinn sie nicht begriff, und rohes Gelächter.

»Bist du verrückt?« schrie plötzlich jemand. »Die rote Hedwig, da hat sie so 'n schönes Müffchen geschenkt gekriegt, und jetzt will sie's nicht behalten!« Und dann kam eine besänftigende Frauenstimme. – Die Aufregung schien sich zu glätten. Der Muff flog nicht mehr. Man hörte gutmütiges Lachen.

Amey saß mit fest gefalteten Händen. Sie starrte vor sich hin wie jemand, dem der Boden unter den Füßen fortbröckelt. Was geschah? War es nicht wie neulich Abend, als die flackernden Trompeten in eine stille, warme und unbewußte Bläue hineinstießen? – Die Droschke hielt nach wenigen Minuten. Amey stieg aus. Sie zahlte. Ahnungslos, daß die Angelegenheit mit dem Muff dem Kutscher phantastische Ziele für seine Berechnungen eingegeben hatte.

»Ich kann nicht«, dachte Amey plötzlich, als sie schon vor der Haustür stand. »Wie könnte ich jetzt zu Fräulein Bronklava hinauf!« Sie sah sich um. Sie fror. Aber nicht, weil ihr der Muff fehlte. Sie erkannte ja plötzlich alles: Jawohl! Dies war das Bild, das ihr der Kammerherr gezeigt hatte! Trotz aller Vorsicht waren die andern in der Pension dazu gekommen. Wie sie gelacht und gespottet hatten über die modernen Verrücktheiten. Und dennoch war dieses Bild wie ein heimliches Grauen immer mit Amey gegangen seither. Jetzt standen sie vor ihr: Diese fürchterlichen, schiefen Häuser, die hinauf züngelten, aus dem Grauen heraus und keinen Himmel über sich fanden, sondern nur ein undurchdringliches und düsteres Geheimnis, sodaß sie zurücktaumelten und sich ineinander krümmten, ohne Wurzel von unten, ohne Erlösung von oben.

»Was ist?« sagte wieder dieses Neue in Amey. »Was bedeutet dieses alles?« Sie ging vor dem Hause, wie in einem Alptraum.

»Sie leiden«, sagte in diesem Augenblick eine Stimme. »Darf ich Ihnen helfen?« Amey sah auf. Wie wunderbar. Hier im Halbdunkel dieser furchtbaren Straße erkannte jemand, daß sie litt. Ein Fremder, Vorübergehender. Und er sprach es aus, als ob er sie von Kind an getröstet hätte! – Ja, hatte sie diese Stimme nicht immer schon im Ohr gehabt? Wie gut das tat! Heimat stand um sie her, Glück und alle Beruhigungen. – Das Bild der Straße wurde plötzlich begreiflich und vertraulich. Man sah den kleinen Hökerladen mit den lustigen Zwiebelkränzen und der breithüftigen, gutartigen Frau.

»Danke!« Amey staunte. »Mir ist wieder besser. Mir ist wirklich wieder ganz wohl.«

»Da sind Sie ja!« Die Bronklava stand nun auch neben Amey. »Ich sorgte mich schon, daß Sie sich verlaufen hätten!«

In diesem Augenblick bemerkte die kleine Dame, die wieder die Papageienjacke trug, den Begleiter Ameys. »Der Heidjer! Ich glaubte, Sie wären schon abgereist!«

»Ich bin auf dem Wege zur Bahn!« sagte der mit Heidjer Bezeichnete.

»Wie furchtbar schade.« Die Bronklava wiegte kummervoll den Kopf mit der Pagenfrisur. »Übrigens Sie kennen sich?« Sie sah fragend von einem zum andern.

»Ja«, sagte Amey ohne Zögern. Sie lachte. Was hatte sie gesagt? Ihr war zumut, als stünde sie mitten in der Sonne. »Dieses Gesicht?« dachte sie fortwährend. »Woher kenne ich dieses Gesicht?«

Der Heidjer lächelte, als Amey ohne Zögern »ja« sagte. Er verneigte sich leicht. »So lange und so gut kennen wir uns, daß ich meine Reise eigens um einen Tag verschob!« Er sah Amey an. Sie empfand einen feinen brennenden Punkt in ihrer Brust. Der war wie das Herz ihres Herzens.

Die Bronklava sah immer mit strahlenden Augen von einem zum andern. »Aber ich verstehe nicht ganz« . . .

»Und was verstünden wir denn? Nicht einmal die groben Linien können wir entziffern. Und nun das Geheimnis der ganz zarten und verborgnen!« –

»Ja«, rief Amey schnell und glücklich. »Ja!« Als sei nun alles ganz klar und eine große und schmerzhafte Beunruhigung von ihr genommen.

»Und nun gehen Sie wirklich nach Kleinasien?« Die kleine Malerin schien wieder bekümmert.

»Ja, nun kann ich wirklich nach Kleinasien gehen!«

Der Heidjer machte eine Bewegung des Abschieds.

»Auf Wiedersehen!« Amey sagte dieses Wort sonderbar. Als ob ein nächster Mensch über die Straße ginge, um dort, an jenem Platz wieder bei ihr zu sein. – Sie streckte die Hand aus. Aber plötzlich und ohne daß sie sich Rechenschaft darüber gegeben hätte, nahm sie sie wieder zurück. Sie streifte hastig den Handschuh herunter, und so, unbekleidet und vertraut, legte sie die schmale, blasse Stuarthand mit dem blauen W in die feste, warme Hand des Fremden.

Die Bronklava führte Amey. Wie eine Mutter oder wie eine alte Kindermuhme. »Er ist ein Freund von Ihnen, dieser Herr Heidjer?« Amey sagte es zögernd. Nur im Gefühl etwas über das eben Erlebte sagen zu müssen. »Herr?« fragte die Bronklava. Sie sah Amey nicht an dabei. »Wir hier,« und sie betonte das hier, als ob Sie meine, daß anderswo es sicher anders gemacht würde, »wir nennen ihn einfach den ›Heidjer‹. – Ebenso wie man vom Herrn spricht oder vom König oder vom Retter. – Er ist für diesen Stadtteil ein Unersetzliches.« –

»Und doch geht er so weit fort?«

Hatte sie sich nicht längst verraten? Fräulein Bronklava konnte an eine längere Bekanntschaft im allgemeinen Sinn wirklich nicht glauben. Aber Amey machte sich keine Gedanken.

»Er geht sonst weiter. Immer von Zeit zu Zeit ein paar Monate in tropische Länder«, sagte die Bronklava. »Das ist sein Geheimnis. Ein Viertel von seinem Leben gehört der Erde und der Sonne und den uralten, ewigen Dingen. Aber es kommt zuletzt nur immer uns zugut. Er ist nicht nur der Arzt, der heilt. Er klärt und befeuert zugleich. Lebendige Kräfte gehen von ihm aus.« –

»Habe ich nicht gerade in dieser Weise von einem Menschen sprechen hören?« staunte Amey. »Von wem wurde so gesprochen?«

»Übrigens – oben erwartet uns noch ein Freund aus den Ländern der Sonne.« Die Stimme der Bronklava war sehr sanft. Als wolle sie Amey schonend zu Wegen hinüberleiten, die ihr noch nicht erspart werden könnten.

Amey hatte nicht bemerkt, daß sie vier Treppen hinaufstiegen. Treppen mit elenden Läufern, in denen ein Hacken sich leicht verfangen konnte. Immer nur staunte sie über dieses kühne, braune und gütige Gesicht, das eben an ihr vorübergegangen war wie in einem Traum, und das ihr doch so vertraut erschien, als sei es in zahllosen Existenzen schon bei ihr gewesen. –

Wenn sich die schäbige kleine Vorsaaltür hinter einem schloß, war man bei der Bronklava wie in einem Reich des Friedens. In der einen Ecke des großen Atelierraums hatte sie sich ein trauliches Wohnzimmerchen eingerichtet mit den bescheidenen Kirschbaummöbeln aus ihrem Elternhause. Sie hatte sie bereits schön gefunden, als noch kein Händler auf ihren erneuten Liebhaberwert hin Spekulationen machte. Auf einem runden Tisch mit einer Decke aus spinnwebfeinem Garn in den kunstvollsten Mustern gestrickt, standen kleine blühende Primeln in allen Farben. Auf einem alten messingnen Kohlenwärmer brodelte der Kessel, und auf dem schlankbeinigen Tischchen daneben waren viele behaglich gerundete, goldgeränderte Tassen froh bereit.

»Wie entzückend!« Amey klatschte in die Hände wie ein Kind. »Dies ist ein Napfkuchen, wie zu meinem Geburtstag! Meine alte Amme pflegte der Köchin zu assistieren bei dieser Feierlichkeit. Und Mullgardinen! Und dieser schöne Teppich aus irgendeinem Ort, wo die Frauen unter ihren Tonkrügen so feierlich schreiten!«

Das Gesicht der Bronklava hatte heute gar nichts Ekstatisches, wie sie, mütterlich den Arm um die Hüfte Ameys gelegt, nach dem Teil des Zimmers, der das eigentliche Atelier bedeutete, hinübernickte. »Sieh, hatte ich nun recht oder nicht?« bedeutete das stolze und strahlende Nicken, – »da haben wir nun einmal einen Menschen!« Amey war viel zu sehr im Begrüßen mit all den toten Dingen, die so tief und reich und lebendig sind, um dem Blick der Bronklava gefolgt zu sein. »Ich hab' es immer gewußt«, sagte sie. »Nirgends geht es langweiliger zu als bei Leuten, die es ewig mit dem Stil haben. Bei uns auf dem Wunschberg ist es gerade wie hier. Jede Zeit und jedes Geschlecht hat eine Erinnerung zurückgelassen, und alle vertragen sich so sehr nett miteinander. Wenn wirklich einmal eine Meinungsverschiedenheit ausbricht,« sie glitt mit den Fingerspitzen über die Primelblüten, »dann gibt es Blumen dazwischen. Blumen sind immer dieselben.«

»Ja, Blumen!« Amey sah sich schnell um . . . . Redete der rosa Nebel, dort in der Ateliergegend?

»Mein Freund«, sagte die Bronklava. »Ich muß Sie mit meinem Freunde bekannt machen. – Wie schade!« Denn in diesem Augenblick klang die Türglocke zweimal und gebietend. »Es wird doch nicht Lydia Mendel sein?« Die Bronklava machte eine abwehrende Bewegung zu ihrem Freunde hin.

»Meine liebe Freundin Emilie hatte mir von Ihnen erzählt. Wir hatten auf ein Plauderstündchen zu dreien gehofft.« Amey staunte über die Tracht eines gebildeten Mitteleuropäers. Gehörte nicht ein seidener Kimono wunderbarer Farbe mit Schmetterlingen und Kirschblüten zu diesem Gesicht? »Sie sind dennoch Japaner«, sagte sie.

»Wenn Sie von meinem Namen – ich heiße nämlich Erich Gutenberg – absehen wollen und ebenso von der Stadt meiner Geburt, die Prenzlau ist, und dann vielleicht noch von meinen Studienjahren in Berlin und Leipzig und einer kleinen Misere hier und da, nur der Chronologie wegen, dann – ja vielleicht gehöre ich dann zu Japan. Aber bitte verwechseln Sie mich nicht mit dem Japan, das die Salutschüsse von Port Arthur einleiteten. Im modernen Japan bin ich fremder als fremd!«

»Wie er lächelt«, dachte Amey, während sie auf die Stimmen draußen hörte, die lebhaft sich näherten. »Wie eine Legende ist sein Lächeln!« Dann ging die Tür auf und ein junger Mann folgte der Bronklava. Er war hochgewachsen. Man wußte nicht, ob der Blick an seinem Gesicht haften mußte oder an den Händen. Seine Finger waren schlank und vibrierend von Erwartung. Aber, als ob sie doch niemals fänden, was wert zu halten wäre, erschienen sie plötzlich locker, gelangweilt und abwesend. Im Gesicht war eine gleiche Zwiespältigkeit.

»Sie kennen sich?« fragte die Bronklava. »Was ist?« dachte sie zugleich. »Ist dieses ein Unglück?« Amey wurde von einem Beben überflogen.

»Doktor Vernow. Dies ist Doktor Vernow!« Die Bronklava schien ihrer Stimme nicht ganz trauen zu dürfen. Denn Thomas Vernow war auf seinem eiligen Gang mitten im Zimmer stehen geblieben, als habe ein Zauber ihn versteint. Die gelockerten Hände verschlossen sich in einem Ruck.

Thomas Vernow? . . . Der junge Mensch – an jenem Abend auf der Friedrichstraße, der . . . er war Thomas Vernow? Er war der von Lydia Begehrte? Wie der Abschluß eines aufreizenden und schmerzhaften Kapitels, bei dem man das Buch nicht wieder öffnen würde, war diese neue Begegnung für Amey. Die rote See ebbte zurück. Das Beben verließ sie. Mit der selbstverständlichen, lässigen Anmut einer Dame von Welt streckte sie ihre Hand aus, die noch von vorhin den Handschuh abgestreift hatte. »Ja, wir sind uns schon einmal begegnet«, sagte sie mit diesem Lächeln, das alle betörte und über das sie selbst ahnungslos war.

Ob Fräulein Bronklava übrigens nicht staunte, daß Amey alle Männer zu kennen schien? Aber an der Art, wie ihr Blick zurückgegeben wurde, merkte Amey, daß sie gar nichts zu erklären brauchte. Das Gefühl harmloser Unbefangenheit, als ob sie hier schon immer zu Hause und geliebt worden wäre, erfüllte sie wieder.

»Jetzt weiß ich, an wen Sie mich erinnern!« sagte sie plötzlich. Ihr Blick grüßte den Japaner wie einen zurückgekehrten Freund. »Mein Onkel Rhaban besaß eine Statuette aus Bronze. Den Gott Jizo, der die kleinen Kinderseelen schützt in Sai No Kawara vor den schlimmen Onis. Ich liebte ihn, seit ich denken kann!« Sie verwirrte sich über ihren Worten. Zugleich war ihr eingefallen, daß es ein japanisches Sprichwort gab: Schön wie Jizo. »Es ist gewiß das Primitive in mir«, sagte sie schnell ablenkend. »Nie werde ich mich mit einer Religion abfinden, deren Endziel Nirwana ist!«

Doktor Gutenberg lächelte. Er hatte alles über Jizo verstanden. Aber jetzt lächelte er, wie alle Männer zu lächele pflegten, wenn Amey wie eine schmale, hohe Flamme aus dem Duft von brennendem Weihrauch plötzlich heraufloderte.

»Wir haben auch die Senschu Kwa-non«, sagte Doktor Gutenberg. »Sehen Sie!« Er nahm von einem Wandbrett ein feines Figürchen aus Elfenbein. Ein Mädchengesicht, das, obgleich von ausgesprochen japanischem Typus, an die Madonnen der Frühgotik erinnerte, neigte sich inbrünstig auf zwei über der Brust im Gebet verschränkte Hände. Ungezählte Arme streckten sich wie Flügel von den schmalen Schultern aufwärts und abwärts. Man wußte nicht, baten sie noch oder gewährten sie schon?

»Senschu Kwa-non?« Amey errötete. War dieses Wort nicht schon einmal zu ihr gesagt worden? »Es ist die tausendarmige Göttin der Liebe.« Doktor Gutenberg reichte Amey die feine Figur. »Sie wollte die Beseligungen des Nirwana nicht schmecken. Sie wollte leben! Immer wieder leben und die Menschen erlösen aus Liebe!«

»Immer wieder leben!« Amey fiel der Werdedurst ein, den sie neulich so leidenschaftlich verteidigt hatte. »Die Menschen erlösen?« dachte sie dann verloren und staunend. Gewiß die Menschen. – – Aber wenn jemand nun selbst nicht zuvor erlöst war? »Ich wußte es nicht«, sagte Amey. »Wie ist das schön, daß der Buddhismus nicht allein Gestalten des Verzichtens und der Entäußerung kennt! Daß er auch die Liebes tat verkörpert!«

Dann verlor man sich in einem Gespräch über das alte Japan.


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