Friede H. Kraze
Amey
Friede H. Kraze

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Thomas Vernow hatte gebeten, ob er Amey am nächsten Morgen zu einem Spaziergang abholen dürfe.

Nun kam statt seiner ein Briefchen. Er wäre unerwartet auf eine Vortragstour durch Norddeutschland berufen worden. Dürfe er kommen, sobald er zurück sei? –

Ameys Empfinden war zwiespältig. Ihr war zumute, als habe sie Frist erhalten vor irgendeiner sehr wichtigen Entscheidung. Nach der erregten Nacht hatte sich ihrer eine seltsam unverantwortungsvolle Ferienstimmung bemächtigt. Auch ein Brief in einem flammend roten Kuvert mit der spitzen, eigensinnigen Kinderschrift Lydias konnte Amey nicht aus der Fassung bringen. Ja, ja, ja! Hier hatten sie der goldnen Amey ein hübsches Wirrknäulchen aufzuwickeln gegeben!

Dann suchte Amey ein kleines Hütchen, wie für Streifzüge gedacht. Sie zog einen kurzen Rock an und hohe feste Stiefel aus Boxcalf, als ob sie durch Moorgrund waten wollte. Sie nahm aus dem Schubkasten ein winziges Päckchen, das schon seit einigen Tagen bereit lag und ihr großes Abenteuerportemonnaie. Und dann holte sie ein schlankes Stöckchen aus Pernambukholz mit einem silbernen Elchkopf als Griff. Sie wollte Ferien feiern.

Die Feier sollte in einem Spaziergang bestehen und in einem Besuch. Und außerdem wollte sie sich die ganze Tischsitzerei einmal sparen und wollte statt dessen – wie himmlisch – in diesem Bergfex- und Durchreisekostüm sich zu Kranzler setzen, oder zu Bauer, oder zu beiden. Dort wollte sie das Menschengewühl sehen und Vanilleeis essen, und von den vielen verschiedenen Torten, die wahrscheinlich, wie es meist im Leben ging, ganz anders schmecken würden, als man nach ihren wunderbaren Namen erwarten dürfte.

Nachher saß Amey wirklich im Café Bauer. Aber allein wie sie war, konnte sie es eigentlich nicht ganz so entzückend finden. Auch konnte sie nicht die Hälfte des Appetits aufbringen, der allen ihren Plänen genügt hätte.

Sie hatte sich mehr Reisende mit Bergstöcken und in Nagelschuhen eingebildet. Aber es war nicht die Zeit der Rucksäcke. Nur einen einzigen gab es. Und dieser machte auch nur einen geringen Effekt. »Nun«, dachte Amey, »der Berliner ist an und für sich ein kleiner Halbgott. Wir brauchen gar nicht erst Leute, die so einen bezaubernden Rucksack aufschnallen!« –

Sie sah an ihrem kurzen Röckchen herunter. In ihren Augen die Sonnenfunken begannen ihr Spiel: War es nicht wirklich etwas um solche Maskerade? Wenn es ihr nun plötzlich einfiele . . . Sie sah einem hochaufgeschossenen, blassen Jungen hinterdrein. Dies war das drittemal, daß er vorüberkam und sie mit diesen Augen anstarrte! Aber sie flößte ihm einen so ungeheuern Respekt ein! Oder vielleicht hatte er auch kein Geld für eine Tasse Kaffee. – Wenn sie nun einfach hinausginge und sagte: »Bitte – ich habe ganz genug für uns beide. Und jetzt will ich dir eine Stunde schenken. Toll und selig will ich dich machen eine Stunde lang!« Amey erschrak. Wie fließendes Feuer überströmte sie die rote Flut vom Nacken her. Wie kam sie auf so unsinnige Ideen? Sie fühlte sich plötzlich von anderen Männeraugen gestreift. Hastig. Wie auf verbotenen Wegen. »Das sind meine herrenlosen Gedanken«, strafte sie sich. »Meine ganz wild gewordenen Gedanken!« –

Sie schob Kaffee und Gebäck beiseite und machte dem Kellner ein Zeichen. Als sie hinaustrat in das Gewühl der Straße, erspähte sie einen Taxameter mit einem kleinen Falben. Und plötzlich, als sie sich geborgen sah, tauchte noch einmal das sehnsuchtsvolle, feurige und zugleich demütige Jungensgesicht neben ihr auf. »Was kostet die Welt!« dachte Amey. Eine tolle Woge überspülte sie. Ein Wissen um die Glücksmöglichkeiten, beschlossen in ihrer Hand. »Schnell«, rief sie dem Kutscher zu. Ihre Stimme war sanft und befahl dennoch. Wie die Hellbergs befohlen hatten, seit Jahrhunderten. Sie nannte den Namen irgendeiner Straße weit draußen im Westen. »Schnell«, rief sie noch einmal. »Ich zahle das Doppelte.«

Und als der Kutscher kopfschüttelnd auf das kleine Falbchen einhieb, riß Amey den Veilchenstrauß, der von der Wärme ihrer Brust duftete, als hätte er in der Sonne gestanden, diesen kleinen und kostbaren Strauß riß sie aus dem Knopfloch und warf ihn in hohem Bogen zum Wagen hinaus.

Sie sah nicht das Schicksal des Straußes. Aber sie wußte, Auge und Hand gehorsamten ihr, wenn sie zielte. Sie hatte es im Blut. Wie das Befehlen. Sie kauerte sich in der Ecke ihres Wagens zusammen: jetzt hob er ihn auf. Jetzt fing er an Märchen zu spinnen über dem kleinen Strauß. Zu Hause würde er ihn in ein hohes Bierglas mit Wasser stellen. Ein anderes hatte er gewiß nicht. Wenn er dann Verse schrieb, stand es vor ihm. Er war Dichter. Entschieden. Und – oh, so arm. –

»So gern hätte ich ihm ein paar blaue Scheinchen um den Strauß gewickelt«, dachte Amey. »Wie früher die Gärtner aus Staniol diese unausstehlichen festen Henkel machten. – »Aber« – sie versann sich – »was wolltest du nun lieber? Wolltest du all diese Träume über die verwunschene Prinzessin? Sie ging im kurzen Röckchen und Stiefeln aus Boxcalf. Aber du sahst ihr Krönlein und ihren Brokat und ihre goldnen gestickten Schuhe. Wolltest du wohl lieber alle die neuen wunderbaren Rhythmen nicht hören, die dieser kleine blaue Strauß dir vorduftet? Von weichen Frühlingstagen mit Bäumen, die in silbrigen Lichtern erbeben? Von hyazinthblauen Bergen und verklärten Fernen und von den ersten Übersteigerungen der Lerchen? Oder wenn er dir nun von deinem fernen Königreich erzählt, nach dem du alle die Jahre gingst mit staubigen Schuhen und zuckender Brust. Wie sie Triumph singen werden und Osanna, wenn du den brennenden Berg erstürmtest und die verwunschene Prinzessin befreitest, und du ziehst ein in dein Reich und hältst sie vor dir auf milchweißem Zelter!«

Amey lächelte strahlend. »Dies alles solltest du vielleicht hergeben wollen für ein paar Beefsteaks und einen modernen Anzug?«

Vielleicht beides! Vielleicht hätte er beides gern genommen! Die guten Träume und die guten Mahlzeiten? Amey sah sich um. Hatte jemand dieses gesagt? – Sie schüttelte heftig den Kopf. »Unmöglich,« dachte sie, »vollkommen unmöglich. Erstlich – hätte er mit den Scheinen in der Hand – furios wie alle Künstler sind – nicht sofort ein Auto herangeschrien? Und wenn wir nun eine kleine Wettfahrt hinter uns hatten . . .« Sie lächelte ein wenig. Ihre Augen waren bedeckt. »Oder auch,« sie richtete sich jäh in die Höhe, – »er würde mich beschimpfen.« – Eine Szene stand vor ihr. Sie zog die Schultern zusammen, als fröre sie. – » Dieser hätte ein Recht dazu«, dachte sie. »Wenn man sein Wunder mit Geld befleckte! . . .«

Nachdem sie eine Weile in westlicher Richtung durch Berlin gerast war, gab Amey dem Kutscher den zweiten Schock, indem sie ihm mitteilte, er solle sie auf einem andern Wege in die Nähe des Brandenburger Tores zurückbringen. Aber das falbe Pferdchen müsse durchaus jetzt geschont werden.

Und wie war es mit der Taxe? – Ja, die Taxe! Nun, wer vor dem Ziel seine Absicht änderte, mußte doch wohl für sein Wort aufkommen!

So ging es zurück, in der Richtung Tiergarten. Amey sah in das kahle Gesperr der Äste, das heute an diesem Wintertage seltsam lebendig erschien. Wie erfüllt von ungebärdig kochendem Blut. Vor dem nebelhaft bronzebraunen, bronzegrünen und lilagrauen Getupf der Stämme schwammen in der Ferne drei wundervolle Farben: Schmal aufgereckt, in der Mitte ein vornehmes Bischofslila, links das selig verflatternde Gelb eines Zitronenfalters, rechts sanftestes Himbeerrosa.

Ameys Augen öffneten sich weit und glücklich. Daß Marsyas nicht hier war! – Hier war der Farbenfleck an sich nicht das Absolute. –

»Wie könnte ich es ausdrücken?« dachte Amey. Wie sie es empfand, war hier gar nichts herrschend und eigenlebig. Weder Ausdruck noch Farbe noch Form. Vielmehr – dies alles war ein Unlösbares. Ein ganz in sich Vollendetes. Es war Schönheit und Stil, Ahnung und Andacht zugleich. – Die drei Menschen verschmolzen mit den Bäumen und mit der Luft, die bereits flimmerte vom morgigen Regen. – »So müßte dies als Bild wirken«, dachte Amey. »Wie entschlüpfte und erste Sendlinge müßten sie erscheinen, millionenfachen Segnungen entsprossen, die der dunkle Erdleib bewahrte als Liebespfänder jener vergangenen und inbrünstigen Sommernächte!« –

Ameys Augen träumten, selig und weit. »Wer dies vollbrächte!« . . .

Ja – war sie dann nicht doch im Recht gewesen? Nur daß einer der Auserwählte war! Nicht allein der Berufene. Darauf kam alles an. – Dann brauchte nicht weiter viel nach der Richtung gefragt zu werden. –

Amey lehnte sich zurück in ihre Wagenecke. Wie befreit von einem sehr langen und peinvollen Druck. – – –

Der Wagen war in die Siegesallee eingebogen. Amey schloß die Augen, als müsse sie etwas vermeiden. Aber behutsam. Wie man gewisse kleine Blasphemien, die man wirklich nicht zurückhalten kann, lächelnd und mit behutsamer Stimme ausspricht.

Warum nur hielt plötzlich der Wagen? Ach ja, sie wollte ja wohl im Tiergarten spazierengehen? –

Als sie das Abenteurerportemonnaie herausnahm, wurde sie plötzlich andern Sinnes. Wenn nun er – der furiose Dichter, der Königsohn aus dem fernen, unsichtbaren Reich – wenn er nun seine Gefühlswallungen nicht vier Stockwerke hoch verstaut hätte? . . . Nein, – eine Begegnung war das Unmögliche. So wäre Amey dem netten dicken Mann auf dem Kutschbock, unter der russischen Bärenmütze fast verhängnisvoll geworden. Er war apoplektisch veranlagt. Und Amey verlangte jetzt mit ihrer sanftesten und zärtlichsten Stimme als drittes von ihm: er möchte sie in mittlerem Tempo in die Dalldorfer Straße bringen.

I du meine Güte – wenn da einer nur zu seinem Gelde kam! Aber Russen-Emil, dessen Name nicht so sehr von seiner Mütze hergeleitet wurde als von den Alexandern, wo er sein Jahr abgedient hatte, durfte damals während seiner Burschenzeit bei seiner Gnädigen allerhand Erfahrungen sammeln. Und seine fernere Laufbahn auf der Höhe des Kutscherthrons hatte ihm einen weiten Überblick über die Frauensmenschen oberer, mittlerer und unterster Gattung vermittelt.

Was die Kleine da hinter ihm in seinem Wagen war – na – so 'n kleinen Piepvogel hatten ja die meist. – Aber – das war eine ganz Aparte! Dadrauf hätte Russen-Emil gleich Gift genommen. Trotz dem Springröckchen. In jeder Hinsicht. Auch in bezug auf das Portemonnaie. Wodurch die Menschheit sich leicht und reinlich in zwei Gruppen scheiden läßt. Na – da mocht' sie denn schon . . .

Amey ahnte nicht, daß sie für Russen-Emil der Ausgang zu einer ganzen Philosophie wurde. Als die Effekte der Siegesallee überwunden waren und das Brandenburger Tor aufragte, fielen die Erinnerungen über sie her: Onkel Rhaban!

»Hier braucht man noch nicht die Augen niederzuschlagen.« Die müde Stimme klang auf. »Hier ist her Gang der Tradition noch nicht unterbrochen. Im Griechischen lag gar nichts Gewaltsames. Es war doch nicht nur die Akademie – die ganze Epoche hat mit Lessings und Winkelmanns Augen gesehen. Und vielleicht war Winkelmann griechischer als die ganze Renaissance. – Glaube mir«, sagte Onkel Rhaban – »es ist nicht mehr lange hin, bis es alle wissen werden: von der Königswache an bis zum Denkmal Friedrichs des Großen – hier ist unser letztes, echtes Gesicht!« –

Amey sah an den Säulen empor, von der Quadriga gekrönt. »Arme Verbannte«, dachte sie. »Du warst es doch wohl nicht, die das viele Gold im Siegeswagen mitschleppte, wodurch wir so sehr roh wurden, so theatermäßig, so streberisch und so unwahr? – Es ist schlimm,« dachte sie, »wenn jeder, der gestern noch hinter einem Büfett stand, heute plötzlich von einem kleinen Architekten etwas in Rokoko verlangen darf.«

Sie war viel gereist mit Onkel Rhaban. Wenn fünfzig Jahre hindurch ein Land mit Sintfluten von Monstrositäten überschwemmt wird, mußte man es sich schon ein bißchen sauer werden lassen um die Reste der alten Herrlichkeit.

Versponnene Erker fielen ihr ein, hinter denen Rapunzel ihr Haar strählte, daß es zum Fenster hinaus der brennenden Liebe im Ziergärtlein in den Schoß hing. Zerrungene steinerne Gestalten auf grauen Brückchen über schaumgrünen Wassern, die verzückten Gesichter von der Abendglorie umbrandet. – Sie saß zwischen Flieder und Weinrosen auf sonnenlebendigen, uralten Stadtmauern, von Lazerten umhuscht. Gotische Kapellchen fielen ihr ein, zarte Heilige, hochgereckt, Taubenflüge um ihre Kreuze. Sie dachte an das Neckartal, an den Main, an Franken. – Ihr Atem ging tief und berauscht. Es war Mostgeruch in der Luft, und der Geruch von Lilien und Nelken. –

Ja – sie kannte ihre Heimat! Ihre Hoheit und ihre Inbrunst, ihren Rausch und ihre Sünden, ihre Prächte und ihre Schauer. –

Plötzlich zogen sich ihre Brauen zusammen. Durfte man an Tote rühren? Durfte man schauende und singende Seelen anrufen? Köln fiel ihr ein. Der steinerne Bergstock, der im Geheimnis verblaute. – Vielleicht – wo noch einmal eines ganzen Volkes Liebe entflammt wurde – zu einer Vollendung hin . . .

Aber anderswo? Sie ging durch alte Remter, wo der Geruch von dunkelm Wein mit dem Geruch von dunkelm Blut sich vermengt hatte. – Sie schritt über bröckelnde Treppen und Verließe, wo weiße Frauen ihre Hände rangen, und durch Säle, wo es harfte . . . Sie bewegte den feinen Kopf auf dem schlanken Halse, als würde sie von einem Insekt belästigt.

Sie hatte plötzlich eine groteske Idee: Wenn nun jemand die Aquädukte restauriert hätte! Oder das Kolosseum!

»Aber bei uns darf jedes kleine Posemuckel sich seinen krebsroten, gotischen Bahnhof hinsetzen!« – Amey war zornig. Sie fuhren an einem Friseurladen vorüber. Das Zimmer fiel ihr ein, in dem gestern ihr Haar gewaschen worden war! Jemand war vor zwanzig Jahren modern geworden, hatte seine guten Kirschbaummöbel dem Trödler gegeben und sich altdeutsch eingerichtet. Durch eine frivole Laune des Schicksals wurden in dieser Umgebung, passend zu Buße und Geißel, jedes Jahr die neuesten Pariser Haartrachten nachgebildet.

Hierauf bezahlte Amey aus dem Abenteurerportemonnaie den dreifachen Fahrpreis, wofür Russen-Emil vom Kutschthron herunterstieg, höchstselbst den Wagenschlag öffnete und, Hand an dem Bärentschako, stramm stand, bis die kleine Aparte mit holdseligem Nicken in den nächsten Blumenladen entschwebte.

Diesmal war es leider einer ohne Gärtnerei. Aber Amey entdeckte sogleich einen kleinen, blühenden Mandelbaum, schön wie die Morgenröte. Mit diesem Mandelbaum klingelte sie ein paar Minuten später bei Elisabeth Ewald.

 

Elisabeth Ewald stand mitten in der Stube, Wangen gerötet, in einer feinen, weißen Battistbluse, die eigentlich in den Sommer gehörte. »Ist aus meinem blassen Schneeglöckchen ein Röschen geworden?« Amey legte den Arm der kleinen Verwachsenen um die Schultern. Da bemerkte sie, wie sie ihr Haar in einer neuen Art geordnet hatte. Es hing tief und schön geschlungen in ihren Nacken.

Elisabeth Ewald errötete noch tiefer. Zum erstenmal, seit sie die Grenzlinie erkannt hatte, die unsichtbare Mauer, hinter der sie immer stehen würde, wenn die andern drüben lachten und küßten – zum erstenmal seitdem hatte sie sich geschmückt. Eine unbarmherzige Selbstkritik hatte ihr untersagt, einer Leidenschaft zu dienen, von der die meisten ihrer Schicksalsgenossen beherrscht wurden. Sie wußte, es gab Dinge, die sich nicht verheimlichen ließen. – Aber obwohl dem so war, obwohl . . . War nicht Amey jetzt ihre Freundin? War nicht Amey in der Welt?

Übrigens, Amey hatte doch wohl eine Überraschung? Wer mit Onkel Rhaban gelebt hatte, sollte doch das köstliche Prickeln der Erwartung kennen? Wenn ein Band entknotet wurde? Ein Seidenpapier aufrauschte.

Sieh da – nun war es so weit. Das winzige Päckchen gab ihn her, seinen Schatz. Einen weichen Schal, der wie ein sommerlicher Garten duftete, legte Amey ihrer kleinen Freundin um die Schultern. In sanften Falten ordnete sie ihn über der eingesunkenen Brust.

»Jetzt?« – Die kleine Verwachsene zitterte heftiger. Würde sie? – – Nein – dies war nicht möglich. Man entblößte doch nicht . . . Sie selber konnte doch nicht . . . Sie blickte auf Amey und lächelte stumm. Wie seltsam dies Lächeln war. Wie vom Frost überfallen.

»Mein Herz« . . .

Auch Ameys Hände bebten, wie sie das Gesicht mit diesem erstarrten Lächeln streichelten. »Oh!« – Sie begriff plötzlich. – Aber was konnte sie tun? Was wurde von ihr verlangt? Mein Gott! – »Soll ich es für dich aussprechen?« sagte Amey leise. Sie bemerkte gar nicht, daß sie das Du eingeführt hatte. – »Sieh . . . Man bemerkt es kaum. – Vielleicht ist es ein wenig zu bemerken,« sagte sie schnell – »aber man sieht sogleich darüber hinweg. Man sieht immer nur deine Augen.« Sie schluchzte auf. Sie nahm die kleine Verwachsene in die Arme.

»Du konntest es ertragen!« sagte Elisabeth Ewald. Ihre schöne dunkle Stimme klang wie ein gesprungenes Glas. – Auch sie gebrauchte das Du. Was hier geschah, war so hoch hinausgehoben über den Alltag und über die Verkehrssprache des Alltags. »Du Feine, du Behütete, du Schönste! All dies erträgst du, wovor ich selber mich entsetze . . .«

»Ertragen?« rief Amey. Sie atmete tief. »Nein. Das ist etwas ganz anderes. Aber jeder Schmerz deines armen Körpers tut mir weh! Und darum muß ich dich lieb haben!«

»Ich habe noch niemals darüber sprechen können«, sagte die Klavierlehrerin. – »Zu niemandem. – An so etwas erstickt man beinahe!«

»Aber jetzt sollst du über alles sprechen!« Amey wiegte sie in ihrem Arm wie ein Kind. »Hast du nicht jetzt eine Freundin?« – Und nun weinte Elisabeth Ewald. Ihre Tränen strömten über ihr erfrorenes Lächeln. Da wurde es weich.

Amey führte sie zu ihrem grünen Stuhl. Sie saßen Schulter an Schulter. Die Finger der kleinen Verwachsenen glitten über die Hände Ameys. Wie sie nur die Tasten geliebkost hatte bisher, wenn sie allein war. – Das Pathos der vom Leben Ausgeschiedenen, das in ihren Augen brannte, wurde sanft. –

Die Tante mit dem seltsamen Tierbändigerblick, die trotz ihres knappen braunen Kleides immer an einen Knecht erinnerte, war wieder aus auf Besorgungen. Aber als Amey, um die Hochspannung der Stunde zu erleichtern, den Schal zum elftenmal in neue Falten legte, klingelte es.

»Nelli«, sagte Elisabeth Ewald. »Diesmal ist es Nelli.« – »Um die du sorgtest?« Elisabeth nickte. – Amey flog zur Tür.

Als sie öffnete, schreckte sie zusammen. Vielleicht narrte sie dieses Halbdunkel? Das junge Mädchen, das in Hast eintrat, sagte enttäuscht: »Oh – noch Stunde?« »Sie nimmt mich für eine Schülerin«, dachte Amey belustigt und erleichtert zugleich. Nein, nein. Elisabeth erwartete sie.

Nelli – es war wirklich Nelli – stutzte. In der Mitte des Zimmers stand Elisabeth, wie eine kleine, blaßlila Frühlingswolke, lächelnd und errötend vor ihrem blühenden Mandelbaum!

Nelli starrte sie an. Dann ging ihr Blick zu Amey. Er flog von den Stiefeln aus Boxcalf über dies Bergwandererkostüm herauf zu Ameys Gesicht. Plötzlich klatschte Nelli in die Hände. »Warum soll eine gute Fee nicht einmal sich verkleiden? – Oh – es gehen gute Geister um in diesen Tagen!« Ihre Augen sahen in die Ferne. »Lisbeth«, sie lachte und weinte – »wie schlecht ich war!« – Sie legte die Arme Elisabeth Ewald um den Hals. »Es heißt immer, Leid adelt den Menschen. Es muß verschieden sein, Lisbethchen, ich brauchte ein Glück.« Sie weinte in langen, beruhigten Tönen. Wie ein Kind, dem bang war im Dunkeln, und das ins Licht gebracht wurde.

Amey stand und staunte. Es war nicht anders möglich: Sie mußte es sein!

»Nicht wahr, ich darf alles erzählen?« Nelli trocknete ihre Augen. »Nun ich mich doch so sonderbar eingeführt habe?« Sie wandte sich zutraulich an Amey. »Verzeihen Sie. Ich kann Sie gar nicht als fremd betrachten.« – Sie errötete dunkel. – »An das Schönste, was es auf der Erde gibt, erinnern Sie mich!« –

Amey strich über die glühenden Wangen. Behutsam, als könne man das Rot der Freude fortwischen wie Blütenstaub.

»Vielleicht müßte ich es anders ausdrücken.« Nellis Worte suchten. – Daheim – in unserm Garten, die Bäume, ganz weiß überschäumt waren sie, wenn sie blühten – und dann! Wenn der Herbst kam – ach wieder die Pracht! Daran hab ich eben denken müssen!«

»Was ist aus Nelli geworden!?« Elisabeth Ewald ließ sich zu ihrem Stuhl führen.

»Wir zwei wollen niedersitzen wie gute Kinder«, sagte Amey, »und auf eine herrliche Geschichte warten, Fräulein Nelli ist so voll von Wundern. Es wird sie noch ein wenig umtreiben!«

»Wie Sie alles verstehn!« Nelli kniete plötzlich nieder vor Amey, legte die Arme auf ihre Knie und sah zu ihr auf, als nähme sie von jedem ihrer Züge Besitz. »Eine äußere Ähnlichkeit ist es nicht«, sagte sie dann bestimmt.

»Eine solche Freundin hast du bekommen, Lisbeth?« Ihr Blick grübelte. »Der liebe Gott wußte wohl, wie wenig ich dir war. – Ach – ich hatte ja nichts zu geben. Siehst du – das ist es: eine Sorte Menschen ist von Natur nicht sehr reich. Die werden immer ärmer und recht jämmerlich, wenn die Not über sie herfällt. Zu denen muß es wie Sonne kommen, daß sie ein bißchen leuchten lernen. Und andere,« – sie sah auf zu Amey – »die sind selber wie die Sonne. Die können immerfort verschenken. Und vom Schenken werden sie immer schöner!«

Amey errötete. Sie bückte sich und küßte Nelli auf die Stirn. »Was müssen Sie erlebt haben!« sagte sie leise. »Sollen wir nicht jetzt die herrliche Geschichte bekommen?«

Nelli sprang auf. Sie ging zum Klavier und ging wieder zum Fenster. Sie sah in den Himmel hinaus, der in blassen Streifen ein wenig von dem Gold und dem Purpur verriet, mit dem er draußen vor der Stadt sich schmückte.

»Ich weiß nicht, ob Elisabeth Ihnen erzählt hat?« – Elisabeth sollte nichts von ihrer Freundin erzählt haben? Allerdings wußte Amey von der kleinen Beamtentochter, die vor zwei Jahren nach ihrem Lehrerinnenexamen 1a mit einem sehr kleinen Reiseköfferchen und Hoffnungen groß wie der Magnetberg nach Berlin gekommen war. »O Gott«, dachte Amey, wie sie im Fluge wieder diese Geschichte durchlebte: »Daß sie so lange tapfer blieb!« –

Der kleinen Nelli traten Tränen der Scham in die Augen. Sie dachte an den ersten und einzigen Abend in der eleganten Wohnung, als der Hausherr sie rufen ließ. Er hatte ihr Wein und Kuchen vorgesetzt. Tausend Mark im Jahre bei freier Station sollte sie bekommen. Es war nur ein kleines, kränkliches Mädchen zu unterrichten. Die Mutter war meist in Sanatorien. –

Und so entsetzt von dem, was von einer jungen Lehrerin erwartet werden konnte, hatte sich Nelli lange nicht mehr zu einer Hausstellung entschließen können. Sie gab Nachhilfestunden, die mit 50–75 Pfennig bezahlt wurden, und lebte solange von Brot und Kakao, bis ihr Geldtäschchen von einem letzten Zehnmarkstück allein in Anspruch genommen wurde. Dann mußte es doch geschehen. Die verwitwete Frau Rendant Müller in Lähn am Bober, die von früh bis abends geschafft und gespart hatte, um ihrer Tochter das teure Pensionsgeld und das Examen zu ermöglichen, und die am Sonntag so gern in ihrem gefärbten Seidnen von der Hochzeit her, im Kaffeekränzchen mit dieser Tochter ein bißchen prahlte – diese liebe Frau durfte doch nicht so furchtbar erschreckt werden. Und dann kam die Hausstellung am Anhalter Bahnhof.

Nein – wozu jetzt daran denken? Dies war wirklich nicht mehr von Bedeutung. Diese Sklavenzeit war vergessen. Ja, es war wohl ein recht eisiger Wind gewesen an jenem Tage. Und wenn so vielerlei auf einem lag, außer den vier Rangen! – Die kleine Nelli hatte sich sehr hetzen müssen und hatte schwer getragen an ihren Besorgungen. Da fühlte sie die Stiche. Wenn sie sie auch bald in ein Krankenhaus geschafft hatten . . . Nun, so ein kleiner, überanstrengter Körper nahm die Lungenentzündung wahrscheinlich ernst. Da blieb denn eine Schwäche davon zurück. Und nun kamen wieder die Privatstunden. Und dann, – ja, dann ging es eben von Tag zu Tag weiter bergab. –

»Ich war verzweifelt«, sagte Nelli leise. »Ich wußte, ich durfte nichts mehr von dir leihen, Lisbeth, und ich hatte gerade noch eine Mark im Portemonnaie. Da tat ich es!« Sie seufzte tief und schmerzhaft.

Amey sprang auf. Sie legte ihr die Arme um den Hals. »Verzeihen Sie mir.« Ihre Augen standen voll Tränen. »Was denn?« Nelli staunte. »Ihnen? Verzeihen? –« Dann verklärte sich ihr Gesicht. »Und hätte mir selbst jemand das alles angetan und mich mit Händen dorthin gestoßen – ich müßte doch nur diese Hände küssen!« In ihrer Stimme war Größe und Demut zugleich. »Es war so.« Sie flüsterte eilig. Aber ein kleiner harter Husten unterbrach sie fortwährend. Sie erlebte sich wieder. Die andern erlebten sie mit. An jenem Abend – auf der Friedrichstraße . . . Plötzlich schlug sie die Hände vor das Gesicht. Der schmächtige Körper zuckte wie im Fieber.

»Es ist vorbei«, sagte Amey. »Alles ist vorbei. Es war ein böser Traum. Jetzt ist es Tag, und die Sonne scheint!« Nelli richtete sich auf. »Es ist alles vorbei«, wiederholte sie sich eindringlich. »Ja. Ich habe gebetet. Mein Gott, mein Gott! Das konnte ich doch nicht auf mich nehmen.« Sie schauderte wieder zusammen. Dann lächelte sie demütig und ergreifend. »Der liebe Gott wußte es besser. Und dann – dann redete mich einer an.« Ihre Augen erstarrten.

»Der Teufel war's!« schrie sie plötzlich. »Nicht offenkundig und mit dem Pferdefuß, aber viel schlimmer. Wie er mich ansah! – Wie er meinen Arm hielt!« – Sie röchelte. – »Ich darf nicht«, dachte Amey. »Ich darf nicht weinen. Ich muß fest bleiben, jetzt. Was nützen auch Tränen hinterher?«

»Ja,« sagte Nelli, »und wie er mit mir redete – und immer spürte ich den Weindunst und irgend etwas Gräßliches um ihn her. – Und seine Finger immer in meinen Arm eingedrückt. Da bekam ich Kraft, und ich riß mich los. – Und dann stand ich mit einemmal am Wasser. Ich dachte – das soll so sein. Dahin bin ich gewiesen. Daherunter muß ich. Dann ist alles ausgestanden. Ich ging bis zur Brücke. In mir lag's wie ein Stein. Da ging ich die Stufen herunter.« – Sie schwieg. Sie faltete die Hände. Sie bückte den Kopf ein wenig, als lege sie ihn still auf den Richtblock. –

Amey hatte Elisabeths Hand gefaßt. Sie fühlte, wie ihr Atem aussetzte. Sie wagte jetzt nicht, Nelli zu berühren. Eine große fremde und erhabene Kühle war um das kleine Mädchen. Sie wußte etwas, was den andern verborgen war: Das Jenseitige hatte neben ihr gestanden.

Draußen raschelte es. Eine Maus in der Tapete. Der Ausguß in dem kleinen Küchenentree gluckste.

»Wenn jetzt nur diese Tante nicht kommt!« Wie zum Schutz stellte Amey sich zwischen Nelli und die Tür. – »Käme sie jetzt dazwischen – noch einmal müßte sie so sterben, das arme gequälte Herz!«

»Dieser Geruch!« wimmerte Nelli. Ihr Kopf auf dem magern Hälschen wendete sich in Abscheu. Ihre Nasenflügel zitterten in Grauen! Da rochen sie ihn auch, diesen faden Modergeruch, wie er von Wassern aufsteigt, die in ihrer Freiheit gehemmt, von der Großstadt vergewaltigt wurden.

»So ganz dicht über dem Wasser. Alles ganz schwarz und stumpf. Kein Mondstrahl drin gespiegelt und kein Stern. – – Ich konnte nicht.« Nellis Stimme erstickte in Scham. Sie lächelte herzzerreißend. »Ich hatte doch noch gar nicht gelebt!«

Amey fühlte, wie es sie überrieselte. Ein Tag stand vor ihr. Auf dem Wunschberg. – Sie verstand. Ach, sie verstand wohl. Ihre Hand streichelte dringlicher die spitzen zuckenden Schultern.

»Du einzige – ja, du wirst es mich wohl noch lehren!« Elisabeth Ewalds Augen hingen inbrünstig an Amey. »Du durftest immer deiner Stimme folgen. Du brauchtest immer nur zu sein, wie du bist. Oh, wie bist du gesegnet!«

»Und dann,« flüsterte Nelli am Halse Ameys, – »dann stieg ich die Treppe wieder herauf und ging und ging und ging. Ich weiß gar nicht, wo ich alles war. Ich dachte immer nur: leben! Und eine Mark im Portemonnaie? – Und dann kam ein Herr.« – – Sie schwieg. Aber im Schweigen veränderte sich ihr Gesicht. Das Grauen fiel ab davon. Es wurde ein weiches Kindergesicht. Nur die Augen waren selige Frauenaugen. – Sie richtete sich auf im Arm Ameys. »Er ging so frei und so kühn. Gar nicht, als ob es Berlin wäre. Wie über die Felder ist er gegangen.«

Sie seufzte schmerzlich. »Den hab ich angesprochen.« –

»Du brauchst dich meiner nicht zu schämen, Lisbeth«, fuhr sie dann fort. »Ich war die ganze Nacht bei einem fremden Mann. Ja. – Aber Gott wollte nicht, daß ich untergehen sollte. Ich war bei ihm – wie seine Schwester!« – Und nun veränderte sich plötzlich diese kleine, müde Stimme: »Sagen kann man das alles gar nicht. Ihr müßt es euch ausmalen. Es war wie das Himmelreich!« Sie war wieder in seiner Wohnung. Nicht in Berlin W. O nein! Am Krögel war sie, in einem alten, verwohnten Hause. Vier Treppen hoch. Aber in Lähn, selbst bei der Frau Bürgermeister, war es doch ganz anders. »Weißt du, Lisbeth, – seine Stube lebte!« – – Sie sahen sie doch wohl? Die Bilder! Die Tonkrüge mit Kiefernzweigen! Die schönen und wunderbaren fremden Dinge, von denen jedes eine Geschichte hatte oder ein Geheimnis. Der Husten kam wieder. Kurz und herrisch klopfte er.

»Vielleicht dürfen Sie jetzt nicht mehr sprechen«, bat Amey. »Es tut Ihnen weh!« Aber Nelli bewegte die magere Hand. Sie wischte etwas fort, das ohne Belang war. »Er ist viel gereist«, sagte sie, sobald sie wieder Atem hatte. »All die schönen Sachen haben ihm Leute geschenkt, die er kuriert hat, ohne ihnen geholfen sonstwie. Gesagt hat er das natürlich nicht. Aber . . .« Ihre Augen träumten. Unschuldige und dennoch glühende Träume. Die aus der Sehnsucht ihre Bilder nahmen, nicht aus dem Wissen.

Die andern schwiegen. Auch sie träumten jede ihren Traum. Das langsame Tropfen des Wasserhahns draußen war der einzige Laut des Lebens in der kleinen, abenddunkeln Stube.

Plötzlich rief sich Nelli zurück. »Die Bücher!« rief sie. »Nein, das kann sich niemand vorstellen. Ganz große, uralte, in Schweinsleder gebunden. Und auf diesen ehrwürdigen Herren kletterte ganz keck ein kleiner Affe!« Sie lachte selig verloren. – »Nein,« sagte sie nach einer Weile – »von ihm selber kann ich doch nicht sprechen.« –

Sie saß wieder in dem alten, tiefen Lederstuhl. Sie spürte seine festen und sorgsamen Hände. Der Kessel brodelte. Sie roch den Duft des Tees. Sie ließ sich von ihm füttern wie ein Kind. Sie weinte an seiner Schulter. Sie gab ihm ihre ganze Seele. –

Später erzählte Nelli, daß ihr Freund Arzt war. In Friedenau hatte er ihr eine Stelle als Erzieherin verschafft. Bei guten Menschen. Ach, so fein und gut. Acht Tage hatte sie dort im Bett liegen müssen und war gepflegt worden wie eine Prinzessin. Aber jetzt sollte sie erst noch in ein Sanatorium. Reisen sollte sie! Nach Baden! Dem Frühling entgegen! Ihre Augen glänzten. Aber sie hustete wieder.

»O Kind«, sagte Amey. »Wie ist das alles herrlich!«

Elisabeth Ewald sah Nelli an. »Wie du recht hattest«, sagten ihre Augen. »Gott weiß die Zeit. Gott wußte die Zeit für uns beide!«

»Wird Ihr Freund Sie selbst in das Sanatorium bringen?« fragte nach einer Weile Amey.

Nein. Nelli würde übermorgen mit einer Patientin von ihm reisen. Ihr Freund war nicht mehr in Berlin. Seit vierzehn Tagen. »Ach«, sagte Nelli. »Ich begreife es nicht! Ich vergehe vor Sehnsucht. Und doch bin ich froh. Es ist, als ob ich in seiner Sonne stünde, immerfort. Über alle die tausend Meilen hin. Er ist nach Kleinasien gereist!«

»Nach Kleinasien?« Etwas in Amey flatterte und dehnte sich. Auch sie stand in der Sonne. Im nächsten Augenblick sah sie wieder die Inbrunst, die dieses unbedeutende Kleinmädchengesicht seltsam erhöhte. – – Konnten nicht übrigens zwei Menschen aus Berlin gleichzeitig nach Kleinasien reisen? . . . Etwas in ihr sagte – nein. – – –

»Einen so schönen Namen hat er.« Nelli lachte plötzlich stolz und glückselig: »Donatus Lund, Dr. Donatus Lund. Aber niemand nennt ihn so. Sie heißen ihn den Heidjer!«

In diesem Augenblick trat lautlos wie ein Geist und trotzdem an einen Knecht erinnernd, in ihrem braunen, knappen Kleide und mit dem Tierbändigerblick die Tante ins Zimmer.

»Liebling, bis auf nächste Woche!« sagte Amey zu Elisabeth Ewald. »Ich muß jetzt eilen! Und du mußt deine Freundin noch ein wenig genießen. Ich war im Begriff zu gehen.« Sie sagte noch ein paar freundliche Worte zu Fräulein Grützner. Dann stand sie vor Nelli, und wie Nelli vorhin mit ihr getan, nahm sie jetzt von jedem Zug dieses blassen Gesichtchens Besitz. Ja – hier war Sonne wohl nötig gewesen! Und sanft faßte Amey das Gesicht von Nelli zwischen die Hände und küßte es zum Abschied.

 

In den nächsten Wochen war eine leise Unrast über Amey. Sie ging in Theater und Museen und Ausstellungen. Sie nahm ein paar Einladungen von ihren Leuten an, die durch andre aus der Pension von ihrem Hiersein erfahren hatten. Sie hörte geduldig der Generalin zu und dachte: Sie ist eng wie ein Knopfloch. Aber vielleicht, daß zuviel Einsicht hinderlich ist an der schnurgeraden Richtung auf ein Ziel? . . .

Sie las Malte Laurids Brigge, und etwas tat ihr weh dabei. Fortwährend mußte sie denken: »Onkel Rhaban!« – Sie besuchte Elisabeth Ewald ein paarmal, desgleichen ihre Freundin Bronklava.

Sie fand dort den Kreis von neulich bis auf Doktor Vernow. »Er ist also in Ostpreußen?« fragte die Bronklava.

»Ja«, sagte Amey. Er hatte ihr geschrieben. Irgend jemand – wahrscheinlich war es Marsyas, – behauptete, er habe Thomas Vernow gestern am Leipziger Platz, als er gerade abfuhr, aus der Stadtbahn steigen sehen. Er habe den Arm in einer Binde gehabt. Alle lachten und beschuldigten ihn der Geisterseherei.

»Der rote Peter hätte wohl kommen dürfen?« fragte die Bronklava bittend. »Er ist sicherlich verzweifelt und traut sich nicht!« – »Natürlich!« Amey lächelte fern. Sie war immer beschäftigt mit irgend etwas, was sie eigentlich kaum nennen konnte.

»Wo wohnt er denn jetzt?« fragte die Bronklava. »Ich will ihm schreiben, daß er kommt und sich den Kopf von mir waschen läßt.« Es wirkte unwiderstehlich komisch, wenn man sich vorstellte, daß die kleine Dame es mit dem widerwurzen roten Haarschopf aufnahm. »Zuletzt schlief er bei seinem Freunde Feldmann.«

»Dem Literaten?« fragte der Japaner. »Ich dachte, der hatte kaum einen Stuhl zuviel in seiner Dachkammer.«

»Hat er auch nicht.« Marsyas wußte Bescheid. »Der rote Peter schlief in einer Bilderkiste. Er fand es direkt feudal.« Sie lachten.

Jemand erzählte, er lebe wieder streng nach Mazdazuan: zehn Verbeugungen oder eine Messerspitze gestoßene Eierschale als Frühstück.

»Peterlein, Peterlein!« sagte die Bronklava. »Er muß wieder regelmäßig zweimal die Woche mit uns essen. Was sagen Sie, Erich?« –

Ehe Erich sagen konnte, daß er wie immer der Meinung seiner lieben Freundin sei, – kam Amey aus ihren fernen und verhüllten Ländern zurück an den traulichen runden Teetisch, auf dem die rosa Primeln von neulich wieder einen frischen Napfkuchen umblühten. »In einer Kiste?« sagte sie träumerisch. »Es ist originell. Ob es sehr bequem ist?« Es war Schweigen. Plötzlich errötete Amey. Wie einen heißen Wind empfand sie es im Nacken. Sie sah ängstlich und beschämt in die schweigenden Gesichter rundum. Die Bronklava nahm sie liebreich in den Arm. »Oh!« sagte leise Amey. Sie brauchte kein weiteres Wort. Alle hatten verstanden. Sie sahen sie an wie damals. Wie treue, freundliche Tiere, unter die ein Märchenkind geriet. – –

An diesem Abend kam Amey nicht zur Ruhe. Sie würde Fräulein Bronklava einmal vormittags aufsuchen, wenn sie sie allein traf. Wenn es Leute gab, die in Bilderkisten auf Holzwolle schliefen . . . .

Ein paarmal kamen kurze Briefchen von Thomas in diesen Tagen. – Ihn gewissermaßen ausschaltend und dennoch in ihrer Nüchternheit seltsam vibrierend von einem Hinter-den-Zeilen. Amey sah den Poststempel an. Es war immer derselbe: Greifswald. – Sonderbar.

Auch Lydia kam. »Ja, ja«, sagte Amey ängstlich. »Sogleich, wenn er zurück ist.« Sie erzählte von der Vortragstour. – So war Thomas Vernow also mit Amey gewesen? Lydia hatte ihn seit Wochen nicht gesehen. Lydia ging hin und her wie eine böse, gefangene Pantherkatze. Amey war glücklich, als Frau von Wickede klopfte, wiewohl sie sich aus diesem Besuch nicht gerade viel machte. Frau von Wickede empfahl ihr dringend, Swedenborg zu lesen. Ihre sonderbaren Augen, die etwas vom Spektrum hatten und durch die man scheinbar hindurchsehen konnte, bedrückten Amey noch stärker als sonst. – An diesem Abend kam der Minister wieder in die Pension. Amey war froh. Sie wußte kaum warum. In seiner feudalen Umgrenztheit hatte er dennoch etwas Imponierendes. Amey empfand ihn wie eine Schutzwehr gegen die Märker, die, außer daß sie die Stützen von Thron und Altar waren, noch so sehr viele Extras hatten. War die Gediegenheit nicht eines ihrer Privilegien? Was wollten Ameys Toiletten zum Beispiel besagen gegen ihre Kostüme aus erdfarbenem oder marineblauem Kammgarn, Herrenstoff, prima Ware, am Ende der Saison preiswert gekauft bei Engel in der Landsberger Straße?

Amey wurde überhaupt mit schweigender Mißbilligung von ihnen betrachtet. Es war jammerschade. Diese allerliebste kleine Hellberg war wirklich reichlich apart. Man merkte doch immer, wenn der weibliche Einfluß bei der Erziehung fehlte. Und ihr Onkel, der Baron, mit dem der Name ausstarb, war auch schon recht eigentümlich gewesen. Für Männer schien sie ja eine besondere Attraktion zu haben. Wiewohl . . . nein – sie war vollkommen korrekt –. Der gute Minister war auch schon wieder beeindruckt, und tat, als ob er sich für ihre merkwürdigen Steckenpferde interessierte.

»Denken Sie,« sagte Amey zu dem Minister mit ihrer zärtlichsten Stimme, »man erzählte mir, ein Künstler – schliefe in einer Bilderkiste. – Und wir – Daunendecken und Sprungfedern . . . stellen Sie sich ihn vor, den Apparat, den wir gebrauchen, ehe wir zur Ruhe kommen . . . Wenn jemand, der tüchtig ist und sich keine Pause gönnt und so rührend – denn er soll diese Lagerstatt als direkt feudal betrachten – und ein großes Talent dazu – und wir« – ihre Augen überflogen den reich besetzten Tisch – »es muß ein Fehler da irgendwo sein,« sagte sie mit unterdrückter Stimme, die dennoch vor Erregung zitterte – »ein System, wo eine kleine Partei auf Kosten« . . .

»Baronesse«, sagte der Minister. – Er schien noch schmaler in der Taille geworden seit seinem letzten Berlin, und der kleine Kopf ragte noch höher. »Einseitigkeit ist das Wesen der Parteien. Nur auf diese Weise halten sie sich gegenseitig im Schach. Wenn einmal der Zeitpunkt eintreten sollte, daß ein Volk reif genug ist, daß es ohne die gegenseitige Korrektur der Parteien auskommt, dann sind alle Systeme überflüssig geworden, dann ist ein Leid das Leid aller, und jedes Glück ein gemeinsames Glück. Das heißt Leiden gibt es dann überhaupt nicht mehr in der Welt. Dann ist das Tausendjährige Reich angebrochen.«

Sein ernstes Lächeln bekam einen Schimmer von Zartheit. Er reichte Amey den Salat wie einen Strauß Rosen.

»Sie glauben nicht an das Tausendjährige Reich?« sagte Amey schmerzlich und zugleich irgendwie dankbar.

»Nein. Verzeihen Sie. Jetzt, wo der Mantel der christlichen Liebe so unendlich ausgereckt wird – jetzt allerdings weniger als je. Es hilft nichts, wenn sie ihm einen neuen Namen geben. Er hat eben doch nur sein bestimmtes Format, und wenn er zu weit reichen soll, so reißt er, und niemand wird mehr warm darunter. – Eigentlich,« er dämpfte die Stimme – man hörte am unteren Ende des Tisches Miß Pembrocke nach Worcester-Sauce verlangen – »es liegt mir gar nicht sehr, den schwarzen Mann zu spielen – ich bin durchaus für eine Erziehung ohne körperliche Strafen, aber in Zeiten, wo alles auf den Kopf steht, gehört eine eiserne Hand an die Kandare, sonst rennt die Kutsche in den Abgrund. Sie wollten nicht, daß ich gegen meine Überzeugung spräche?« Seine weit auseinandergestellten und durch starke Brauen über der Nasenwurzel verknüpften Augen sahen Amey an. Besonders.

»Nein«, sagte Amey schnell. »O nein!« Diese Angelegenheit quälte sie zum Weinen. Sie war wie in einer Sackgasse ohne Tor. Über den langen und besonderen Blick des Ministers gab sie sich nicht Rechenschaft.

Am nächsten Tage kam wieder einer dieser feuerfarbenen Briefe. Amey konnte sich nicht entschließen, ihn zu öffnen. Den Inhalt kannte sie ja doch. Aber wo versteckte man ihn tief genug, daß er sich nicht fortwährend in die Erinnerung brachte. Zuletzt machte sie ihm ein kleines Begräbnis unter einer großen weißen Azalee, deren Topf in einem schönen alten Bronzekübel stand. Amey hatte den Kübel gestern bei einem Althändler entdeckt. »Du wirst dich nicht beunruhigen lassen, du Makellose?« Ameys Finger glitt liebkosend über die schneeigen Blütenkissen. Gerade da klopfte es. Das Zimmermädchen kam und brachte einen zweiten Brief. Doktor Vernow fragte an, ob er in einer Stunde Amey zu dem ihm vor vierzehn Tagen versprochenen Spaziergang abholen dürfe. – –

Während Amey Thomas erwartete, bemächtigte sich ihrer eine leichte und schwingende Erregung. »Lydia«, dachte sie. – Sie holte den Höllenbrief aus seinem Begräbnis. Während sie las, überströmte die dunkle See vom Nacken her ihr Gesicht: So konnte eine Frau sich entblößen? –

Sie schleuderte den Brief ins Feuer. Es gab einen Geruch wie in einer Fellachenhütte. Nach verbranntem Kamelmist und Sandelholz. Amey riß die Fenster auf, alle vier Flügel. Sie lief zum Waschtisch. – »Es muß heute abgemacht werden«, dachte Amey. Sie bürstete ihre Finger, als habe sie einen ganzen Tag mit Kohlen und andern dunklen Dingen hantiert. Aber während sie sich bestrebte, alle ihre Gedanken auf Lydia und Thomas zu richten, empfand sie immerfort das pochende Blut und das Glühen eines Gesichts an ihren Knien. Lydias Brief, dieser ganz schamlose, tierhaft und brünstige Schrei, der sie empörte und abstieß, hatte ihres eigenen Blutes Woge zu einem fremden Gipfel aufgesteilt. –


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