Friede H. Kraze
Amey
Friede H. Kraze

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Thomas der Zweifler

Thomas Vernow war pünktlich auf die Minute. Er brachte für Amey einen Strauß Chrysanthemen, diese geheimnisvollen Blumen, denen die Essenz einer fremden Kultur anvertraut wurde. Sie ordnete die Blumen, ehe sie aufbrachen. »Eigentlich müssen Blumen auf Marmor stehen« – Amey rückte ungeduldig und nachsichtig zugleich an der roten Tuchdecke des Pensionstisches – »oder auf dunkel poliertem Holz. Nicht wahr? Sie brauchen die Spiegelung. Und dann – wenn die ersten Blätter tropfen. Oh – rote Rosenblätter auf Pernambuk . . .«

»Weiß wie Schnee, rot wie Blut und schwarz wie Ebenholz« . . . sagte Thomas Vernow. Amey sann verträumt. »Im weißen Schnee?« . . . Sie sah plötzlich Thomas Vernow mitten in die Augen. Aber etwas schien sie zu verwirren. »Sehen Sie doch – sahen Sie diese schon?« Sie hatte sich hastig abgewendet. Wie auf der Flucht klang ihre Stimme. Sie hob ein Stilglas, tigerrot gefleckt mit drei Orchideen vor seine Augen. »Sie sind so schlimm und so furchtbar lebendig. Eigentlich mag ich sie nicht. Aber ich mußte sie kaufen. Der Buddha unserer Freundin erinnerte mich so an eine Sphinx, in unserm Wintergarten. Ich bekam Heimweh!« Sie war fertig mit dem Ordnen der Chrysanthemen und streifte die Handschuh über. Sie sah aus wie ein Kind, das weinen möchte. Sie lächelte mit großen verschleierten Augen. Ihre Mundwinkel zuckten.

Thomas Vernow machte eine Faust aus seiner rechten Hand. Die linke hing schlaff und nahm nicht teil. Wenn sie so aussah . . . Aber Amey mußte lachen, wie er steif wie ein Schüler stand. »Lydia!« rief sie plötzlich. »Lydia, Lydia!« Dreimal, als ob sie mit einem Zauber ihn entbannen wollte.

Thomas Vernow bekam eine scharfe Falte über der Nasenwurzel. Seine tiefgelagerten Augen, die eben leuchteten wie geschliffener Stahl, wurden plötzlich müde und gelangweilt. »Lydia! Lydia! Lydia!« wiederholte er schnell. Wie er ihn aussprach, schien der Name seinen Inhalt auszuschütten. Er machte eine Handbewegung, als ob etwas nicht mehr vorhanden sei. »Warum erwähnen Sie diese Dame?« zürnte er plötzlich. »Ich hatte mich gefreut auf den heutigen Tag!«

Amey erschrak. Sie gingen die Treppe herunter. »Wie töricht ich es anfing«, dachte sie. »Die kleinen roten Teufelinnen sind schuld!«

In diesem Augenblick sah Thomas Vernow Amey ins Gesicht: »Die Orchideen! Ich weiß wohl! Ich habe aber nichts mit Lydia Mendel zu schaffen!« Seine hohe biegsame Gestalt warf sich zurück.

»Wie er meine kleinen Künste durchschaut!« dachte Amey. Sie war glücklich und unruhig zugleich. Ach, dies war die heikelste Aufgabe ihres Lebens. –

»Sie müssen sich nicht um eine verlorene Sache mühen.« Thomas Vernows Stimme beruhigte zart. »Sie brauchen auch nicht Ihr Gewissen Fräulein Mendels wegen zu kasteien. Sie selber war bereits sehr viel deutlicher gegen mich.« Seine Mundwinkel zogen sich herunter. »Was in Beziehung auf eine andere Dame zu erwähnen höchste Unritterlichkeit wäre, hat in diesem Falle ein ganz anderes Gesicht. Lydia Mendel . . .« Er setzte plötzlich die Zähne hart aufeinander. »Dies ist ein Thema außerhalb aller Diskussion. Wollen wir uns doch nicht den Nachmittag verderben?« Er bat wie ein Junge. Amey sah ihn an. Etwas Starkes, Klares war in der Luft. Der Schneefall der vergangenen Tage hatte sie von ihren Dünsten gereinigt. Selbst in Berlin bedrückte sie heute nicht.

»Also nicht mehr Lydia«, sagte sie. »Verzeihen Sie.« Ihr war sehr leicht zumute. »Lydia müßte mir doch leid tun«, staunte sie. – Aber dennoch, – Amey war fröhlich, wie ein Kind, das unerwartet Ferien bekommen hat. Sie konnte es nicht hindern. »Wohin gehen wir eigentlich?«

Die Heiterkeit, die von ihr ausging, ergriff sogleich Besitz von Thomas Vernow. Er gab sich nicht Rechenschaft. Er staunte nur, wie er ohne Rückhalt glücklich war. »Ich staune über diese restlose Freude«, dachte er im nächsten Augenblick. »Ich weiß, daß ich staune. Ist dieser schlimme Tropfen nicht gerade genug?« – »Was ist?« Amey schreckte auf, aber der Schein des Ferienglücks war noch immer über ihrem Gesicht.

»Nichts mehr ist«, sagte Thomas Vernow heftig entschlossen. »Gar nichts mehr soll sein . . .« Er brach ab.

»Wie schön. Wie wunderschön!« Ameys Gedanken gingen ihre eigenen Wege. Ihr war, als ob sie entwischt wäre.

Aber wie sie ihre Worte hörte, bildete sich eine Falte zwischen ihren Augen: Die Tafelrunde stand plötzlich vor ihr, Nelli – – die Friedrichstraße, die schiefen Häuser, die Bilder, die Musik, die ganzen letzten Wochen: Die Sphinx, das Leben stand vor ihr. – »Ich kannte sie nur aus unserm Warmhaus«, sagte Amey verloren. »Auch da war Geheimnis um sie her. Aber es lockte nur, es schmerzte nicht!«

»Wer«, sagte Thomas Vernow. »Was meinen Sie?«

»Ach«, bat Amey. »Ich verwirre mich. Langustenfischer haben sie aus der Bucht von Cattaro aufgefischt. Wir haben eine Sphinx.« Als sie sah, wie sein Blick sich wieder verdüsterte: »Nein«, rief sie schnell. »Aber wir wollen nicht!« Und mit einer ihrer Bewegungen, die zart und unwiderstehlich waren, hatte sie für eines Augenblicks Dauer die Hand auf seinen Arm gelegt.

Thomas Vernow fühlte sein Blut. Dieser leichte Schwindel überkam ihn wieder. »Wir wollen nicht. Heute ist Feiertag.« Sie nickten sich zu. Glücklich wie zwei Verschwörer, die das Zeichen kennen. »Und nun wohin?« Ohne daß sie es bemerkt hatten, waren sie in die Nähe des Potsdamer Platzes geraten. Eine Vision von reinen beschneiten Flächen stieg plötzlich auf vor den Augen Thomas Vernows. Warum konnte man nicht die Arme ausrecken und den Brustkasten dehnen? Dieses elfisch unwirkliche Geschöpf an seiner Seite, das sich zum Spaß mit einem taubengrauen Sammetmantel bekleidet hatte, mußte man doch in die Arme nehmen? Wie ein Toller mußte man mit ihr durch weite weiße Flächen rasen oder durch Wege, auf die stumme schneegebeugte Tannen ihre blauen, spitzen Schatten warfen. Mochte sie einem dann auch gleich die letzte Seele aussaugen. »Auf den Kreuzberg müßte man«, sagte Thomas Vernow. »Weit sehen über alles hin. Kennen Sie den Kreuzberg?« Seine Augen funkelten. Amey schüttelte den Kopf. Aber sie wollte ihn kennenlernen. Sogleich. Durchaus. Die süße Tollheit Thomas Vernows schäumte in sie über als feinster Rausch.

Sie gingen. – Amey liebte Berlin plötzlich unendlich. Diese saubere, musterhaft ordentliche Stadt, in der der ungeheure Verkehr ruhig und mit einer gewissen Höflichkeit unter aller Hast sich vollzog. Diese Kette von elektrischen Bahnen, die Fülle von Droschken mit zum Teil gutgehaltenen Pferden. Die geschlossenen Geschäftswagen großer Firmen, die altfränkischen Omnibusse, die klingelnden Bollewagen mit den netten blauen Milchmädchen neben dem Kutscher – alles hatte etwas Freundliches und Anregendes unter dem blaßgelben Damast des Himmels. Selbst das zeitweilige Geschobenwerden zwischen den Fußgängern beängstigte und verletzte nicht wie sonst. Mit Thomas Vernow dicht neben ihr zog Amey wie der Tropfen in einem großen, flutenden Strom, der voll Leben war und voller Wunder, jeder Tropfen dem andern verbunden, von derselben Quelle her zum gleichen Ziel hin. Die große Trennung schien plötzlich aufgehoben. »Woher kommt es?« dachte Amey. – Ein Mensch hatte sie ganz in sich aufgenommen; dies schuf die Brücke zu allen andern.

An einer Straßenkreuzung standen Frauen mit Blumen aus Italien und Südfrankreich. »Was begehrst du?« fragte Thomas Vernows Blick Amey. »Es gibt nichts, was du nicht begehren dürftest!«

»Mimosen! – Bitte. – Keinen ganzen Wald!« Sie lachte über den Busch von der Größe eines Reisigbesens. Auch Thomas Vernow lachte glücklich und verlegen wie ein Junge.

Amey wählte einen Zweig. Einen einzigen, wundervollen Zweig, dessen Urahn vereint mit silbergrauem Wermut den Kindern des Südens vielleicht die Idee des Filigrans übermittelte.

Thomas Vernow zahlte für den Zweig den gleichen Preis, den das ganze Bündel kosten sollte. Er hätte das Einkommen eines Jahres hingegeben für dieses eine Morgenglück. Die Verkäuferin dankte mit einem breiten, gutartigen Lächeln. Sie war nicht von der Sorte der roten Hedwig. Sie musterte bewundernd Amey. Sie fand nichts Besonderes darin, tagaus, tagein in Hitze oder Kälte stundenlang mit den Blumen an dieser Straßenecke zu stehen. Vielleicht hätte sie mit Hausarbeit oder in einer Fabrik eine Kleinigkeit mehr verdient. Aber sie hatte eine leichtsinnige Ader. Wenn sie so immer die reichen geputzten Menschen sah, kam es ihr vor, als ob sie mit dazu gehörte. Sie hatte einen Hauptspaß von früh bis abends. Amey sah sie an. Dieses unschöne, von der Kälte gedunsene, verwahrloste Gesicht mit den gutmütig staunenden und bewundernden Augen. – Hob sie nicht wieder die breite Tatze, die Sphinx? Amey zog fröstelnd die Schultern zusammen. Sie stemmte sich inwendig, wie ein Kind sich starr macht, wenn man es fortnehmen will von einem guten Ort. Diese hier würde ihr nicht den Muff nachwerfen! »Stehen Sie immer hier?« fragte Amey zaghaft.

»Jeden Tag an dieser Stelle. Jeden Tag in der Woche.« Das Mädchen ließ ihre Augen nicht von Amey. Etwas Weiches, Suchendes war in ihrem Blick.

»Gut,« sagte Amey, »das ist gut. Auf Wiedersehen.«

Sie nickte ihr zu, herzlich wie einer nahen Bekannten aus ihrer Gesellschaftsklasse. Sie trug den Mimosenzweig wie ein Lebendiges.

Die Schaufenster, ja – mein Gott! Amey und Thomas konnten sich nicht enthalten. Wie Provinzler, die zum erstenmal nach Berlin kamen, mußten sie stehenbleiben. Allein die Elfenbeinschnitzereien! Von den Juwelierläden ging jene rätselhafte Anziehung aus, die vergangene Epochen bang und weise erkannten. »Wie ich sie verstehe«, sagte Amey, »die Geschichte vom rosenroten Diamanten, in der Palastkuppel, an dem Blühen und Untergang des Geschlechtes hing! – Oder, denken Sie, geschnittene Steine, die man den Toten mitgab als Lösegeld! Und der Ring mit dem Opal, – dieser Talisman! ›Vor Gott und Menschen angenehm zu machen‹ . . .Wir haben Familienringe« . . . Amey kehrte sich plötzlich zu Thomas Vernow. Schwüre und Glut und schwermütig süße Legenden schienen um sie her. Thomas Vernow fühlte ein feines Überrieseln. Er schlug die Augen nieder. Zu dieser unwirklich schmalen Hand in dem aschgrauen dänischen Handschuh, die auf seinem Arm ruhte, flüchtete sein Blick. Er begriff, Menschen konnten ausziehen, in all ihrer kleinen, armseligen Nacktheit konnten sie sich Ungeheuern vor den flammenden Rachen stellen, nur um das Beben einer solchen schmalen Hand zu verhüten. »Das ist Ihr Geheimnis«, sagte er. »Sie sind niemals Sie allein. Sie sind immer alle Hellbergs. Kein Hauch berührt sie, der nicht in irgendeiner Epoche, in irgendeinem ihrer Ahnen einmal eine Gewalt und ein Schicksal gewesen wäre.«

»Ja«, sagte Amey. »Ja, ja. Wir alten Geschlechter!« –

Sie grübelte. »Ich denke oft: gibt es eine Pforte da heraus?«

Thomas Vernow blickte auf sie nieder. Er spürte einen feinen, bohrenden Schmerz. Als habe sie nach etwas gefragt, worauf er nicht Antwort wußte.

Seine Empfindung schien sich Amey mitzuteilen. Das Durcheinander, das Drängen und Schieben um sie her quälte sie plötzlich. Der breite, heitere Strom von vorhin war er nicht vielmehr die fieberzuckende Ader? Alle diese Tropfen dunkeln schweren Blutes wurden eingesaugt und zurückgepreßt von einem verborgenen Unerbittlichen, um immer neu ausgestoßen zu werden zu niemals Vollendetem.

Plötzlich wurden Amey und Thomas zusammengedrängt. Die Passanten stauten sich. Der Fahrdamm an dieser Stelle war aufgerissen. Eine neue Linie der Untergrundbahn sollte hier geschaffen werden. Amey hatte plötzlich die Äcker ihrer Heimat vor sich, die fetten, dampfenden Schollen, wenn das Morgenlicht sie in stahlblaue Blöcke verwandelte. Sie sah die Dämmerung ihre veilchenfarbenen Tücher darüber decken. Sie spürte den Duft der Erde, diesen starken und herben Geruch voller Keime und Hoffnungen. Ihre Nasenflügel vibrierten. – In demselben Augenblick zog sich ihre Stirnhaut schmerzlich zusammen. Der giftige und dumpfe Gasgeruch kam ihr zum Bewußtsein. Die ganze künstlich widerwärtige Atmosphäre, die der Erde entströmt, in welche die Großstadt sich eingewühlt hat. Nein, dies war allerdings nicht mehr Erde. Kulturschutt war hier durchsetzt von den giftigen Mikroben und Bakterien, die mit einer Kultur entstehen und wachsen. Aber wenn sie stirbt, nehmen sie von dem Leichnam doppeltes Leben. Bis die Zeit und der ewige Wechsel die Erde wieder zu sich selber erlösten.

»Kultur«, sagte Amey plötzlich. »Gibt es irgendeine Kultur, die nicht hier mit allen andern eine Kreuzung eingegangen wäre?« Sie erschrak. »Ist dieses nicht etwas Grausiges, daß es gar keine Hemmungen mehr gibt?«

»Wir wollten doch nicht!« Thomas Vernow hatte einem Taxameter ein Zeichen gemacht. Er spürte, wie Amey unter der Menschennähe zu leiden anfing. »Wir wollten doch alles dahinten lassen. Seine Augen waren traurig und voll leidenschaftlicher Zärtlichkeit.

»Ja«, sagte Amey. Sie sah ihn nicht an. Aber sie hörte die Angst auf dem Grunde seiner Stimme. Sie legte die Hand auf die seine. War denn alles, was vorhin hell und fein und prächtig erschien, jetzt ausgelöscht? War es von bösen Dämonen verwandelt worden? Die Blumenverkäuferinnen mit den welken Sträußen und in ihrer elenden Zerrissenheit froren an den Straßenübergängen. Mitten auf dem Platz im Wind, der nach Nordwest umgesprungen war und wie Messer schnitt, stand ein Mann, der Schnürsenkel feilbot. Die Trugfarbe der Schwindsüchtigen blühte auf seinem elenden Gesicht.

Amey hieß Thomas den Taxameter anhalten, als sie den Platz überquert hatten. Sollte ein Mensch zugrunde gehen, weil sie wieder nicht imstande war, ihre Scham zu überwinden? Ihr Atem flog. Sie drängte ihre kleine Börse Thomas in die Hand. Thomas sah an Amey vorüber. In seinem Blick war Ermattung und Zerrissenheit. Aber wie einem traurigen Kinde, das man mit einer kleinen Lüge gerne tröstet, so lächelte er für Amey. Sie sah das Lächeln und sah den Blick. Was half es? Was half es? Heute gab sie diesem und morgen einem andern. Konnte sie das Elend aus der Welt schaffen? Als Thomas zurückkehrte, schwiegen sie.

Der Wagen fuhr weiter durch die belebten Straßen. Die Heiterkeit und Pracht der Auslagen, die sie noch eben entzückt hatten, schien jetzt wie lügenhafte Reklamen und fiebernde Anpreisungen einer letzten Lust, hinter welcher dennoch der Untergang und das Grausen lauerte. Jedes Gesicht dieser übertrieben oder auch nur geschmackvoll und kostbar gekleideten Menschen schien einem Verbrecher anzugehören, der nur durch sein Nichtwissen zum Verbrecher wurde. Das Brausen der elektrischen Bahnen, das Donnern der Vorortzüge, ihr grelles Pfeifen, dieses ganze unendlich suggestive Konzert der Großstadt, wirkte wie das Satanische an sich, als es sich jäh ins Bewußtsein drängte.

»Ich kann es nicht länger ertragen.« Ameys Stimme zitterte. »Sagen Sie mir, daß ich im Irrtum bin. Ich bin krank. Sagen Sie, es ist ein Fieber. Ich litt von Kind auf an Fieber. Ich hatte grauenvollste Visionen. Ich muß immerfort denken, daß wir an einen Punkt gelangt sind, von dem es kein Weiter gibt. Als der Turm zu Babel in die Wolken griff, verwirrte nicht Gott damals auch die Sprachen seiner Erbauer? Wo wollen wir denn noch weiter hin?« Der Wagen hielt, ehe Thomas Vernow antworten konnte. Als er Amey heraushob, bemerkte sie zum erstenmal das Leblose und Unbeteiligte seines linken Armes. »Was ist dies? Sie hatten es früher nicht!«

»Nein.« Thomas errötete bis unter die Haarspitzen.

»Aber ich will es wissen!« rief Amey. Sie flüchtete sich aus dem Ungeheuern um sie her in eine kleine, warme und nahe Anteilnahme. Wie gütige Menschen einem Frostbebenden ihren Mantel umlegen, wenn bereits das Schiff untergeht.

»Es ist nichts von Belang.« Thomas Vernow hatte sich bis ins Kleinste seine Antwort zurechtgedacht, wenn diese Frage einmal kommen würde. Aber unter dem Blick Ameys, tiefer und schmerzhafter gereift durch die letzte Stunde, verwirrte er sich. – »Es war ein Zufall. Es ist schon fast geheilt.«

»Was für ein Zufall? Was mußte denn heilen?« Amey blieb stehen. – Das Grausige, was eben über sie hergefallen war, schien ferner gewichen. Hier breitete sich weißer Sammet, unbefleckt und von dem Gewirr zart verschlungener und herrisch einsamer blauer Schatten gemustert. Nur wenige Spaziergänger unterbrachen die Stille der Wege. Sie störten nicht. Auch sie schienen der Weite und der Einsamkeit bedürftig. Es war Menschenferne und ein wenig wie Erde und Schneegeruch in der Luft und Erlösung von dem bedrückenden Atem der Stadt. –

»Eine unbedeutende Verwundung. Eine Ungeschicklichkeit . . .« Thomas Vernow verwirrte sich immer hoffnungsloser.

Amey sah ihn prüfend an. Eine kleine, holde und mütterliche Strenge trat in ihren Blick. »Sie waren gar nicht auf einer Vortragstour«, sagte sie plötzlich bestimmt.

Thomas Vernow lachte. Wieder überkam ihn der leichte, brausende und selige Schwindel. Einmal in seinem Leben hatte er Absinth getrunken. Es war eine ähnliche Empfindung. Alle Marter, alle Zweifel, ja auch die große Müdigkeit waren versunken, Bilder von süßer und unwiderstehlicher Lockung schlangen den Reigen. »Gut. Nein«, sagte er. »Da Sie es denn doch wissen. – Es ging nicht anders. Verzeihen Sie mir!« Er suchte in ihren Augen. Er war im Rausch, von allem gelöst. Er sah und empfand nur Amey.

»Oh« – sagte Amey plötzlich – Marsyas fiel ihr ein, der Thomas mit dem Arm in einer Binde wollte gesehen haben. »Aber warum durfte ich es nicht wissen?«

Thomas Vernow antwortete ihr nicht. Ein dunkles Blatt schiffte herüber von einem jener fremdländischen Ahorne und legte sich vor die Füße Ameys. Irgendwoher kam der schmerzhaft langgezogene Pfiff einer Lokomotive. Amey blieb wieder stehen. – Ihre Augen weiteten sich. Das geheimnisvolle Entsetzen einer vergangenen Nacht stand um sie her. Hörte sie nicht plötzlich das Flüchten schwer beschuhter Füße?

»Sie wurden angefallen?« fragte sie leise.

Thomas Vernow antwortete auch diesmal nicht. Und wieder schiffte, wie sie weitergingen, ein dunkles Blatt herüber von einem jener fremdländischen Ahorne und legte sich Amey vor die Füße. Es hatte einen kreisförmigen, purpurroten Fleck. – Amey bückte sich ein wenig und sah das Blatt an. »Wurde Blut vergossen?« fragte sie abwesend und zugleich gespannt. Sie sah dabei auf das Blatt, das vor ihren Füßen noch einmal aufwirbelte. »Es war nicht der Rede wert!« Thomas Vernows gesunde Hand schloß sich zusammen.

»Von wem?« fragte Amey.

»Es war ein Wahnsinniger. Er wußte nicht, was er tat.«

Ameys Augen bekamen etwas Starres: »Es war der rote Peter.«

Thomas Vernow antwortete nicht. Und nun schiffte ein drittes Blatt zu ihnen herüber von dem fremdländischen Ahorn. Es war rot wie fließendes Blut. Amey beugte ihren schlanken Körper, als ob es ihr Mühsal verursache. Sie hob das Blatt auf. – Sie kamen zur Höhe. Sie standen vor den edlen Formen des Denkmals Schinkels. Sie sahen herab auf Berlin. –

»Und all dieses nun?« Ameys Hand beschrieb einen Kreis. Ihre Stimme schien Mühsal zu haben, wie vorhin ihr Körper.

Der stählerne Glanz und der Rausch in Thomas Vernows Augen erlosch plötzlich. Wie wenn eine polierte Klinge überhaucht wird.

»Was soll ich sagen?« fragte er. »Sie wissen ja doch. Wie kann ich trösten? Der Höhepunkt der Kurve wurde wieder einmal erreicht. Wir sind wieder an einem jener Meilensteine angelangt. Denken Sie Rom. Denken Sie Karthago. Oder Babylon. Nehmen Sie alle Kulturen, die waren und nicht mehr sind, und von denen allen wir eine Seligkeit und eine Erkenntnis und eine Glut und so viele Gifte in unsre eigene übernahmen. Was ist alles, was jemals gewesen ist und erreicht wurde, gegen heute? Der Gott wurde in die Maschine gespannt und ins Laboratorium. Jetzt rächt sich der gefesselte Gott. Er unterjocht die Menschen seiner entwürdigten Gestalt. Und der Himmel ist leer.«

»Und dann?« sagte Amey. Das Brausen der Stadt drang herauf wie das Knurren großer, hungriger und zorniger Tiere.

»Und dann? – Der erniedrigte Gott wird wahrscheinlich sein Gefängnis zerbrechen. Bald vielleicht. Was er zurückläßt, wird wohl das Chaos sein.«

»Ja – aber hernach . . .« Ameys Stimme zitterte. »Es muß doch noch etwas kommen?«

»Ich glaube an kein Hernach,« sagte Thomas Vernow. »Wenigstens nicht, was uns anlangt. Nicht für das alte Europa. Wir sind am Ende.« Sie gingen schweigend. Im Winde waren tausend Eisnadeln. Unten die Stadt in der blendenden Sonne lag wie eine geschmückte Leiche.

»Ich will es nicht«, rief Amey plötzlich außer sich. »Ich kann es nicht ertragen. Es muß ein Weiter geben!« Sie stand vor Thomas Vernow. Ihre ganze feine Gestalt bebte. Sie hielt das blutrote Ahornblatt in die Höhe, wie ein Fanal. Sie verlangte von ihm, wie jemand in Todesangst nach einem Retter schreit.

»Es gibt kein Weiter«, sagte Thomas Vernow. »Amey, süße. Die große Flut ist da, und der große Untergang. Es gibt«, seine Stimme bebte . . . Seine Augen ganz groß und wahrhaftig und im Glanz unendlicher Sehnsucht hafteten an Ameys Gesicht: »Es gibt eine Insel ganz fern, wo man alles vergißt, und wo das selig Neue anfängt. Nur zu zweit kann man diese Insel erreichen« . . .

Seine Stimme war heiser. Er umfaßte mit der rechten gesunden Hand die linke tote. Er preßte sie, als wolle er ihr ein letztes Leben mitteilen.

Amey stand und sah ihn an. War das ihr Wunder? Dieses hatte hinter der blauen Linie auf sie gewartet? Sie grübelte. Irgendwo . . . War nicht irgendwo ein kühnes Gesicht? . . . Spürte sie nicht einmal einen feinen, brennenden Punkt in ihrer Brust, wie das Herz ihres Herzens? . . .

Amey strich mit der Hand über die Stirn. Dabei glitt das purpurrote Ahornblatt über ihre Augen.

»Es ist Blut geflossen um meinetwillen«, sagte etwas in Amey. »Ich habe Menschen geschmerzt bis zum Verbrechen. – Wer hilft mir?« dachte Amey. »Sie sagen, ich gleiche Yolanthe Hellberg, deren Wappen zerschnitten wurde. Ist eine alte Verdammnis über mir? Kann ich nur Männer verwunden und keinen erlösen?«

Sie zitterte. »Und in dieser Zeit! In dieser entsetzlichen Zeit!« Etwas schien sie fortzunehmen. Auf einer letzten Klippe stand sie, sie und ein Mann. Alles um sie her versank. Auf der Flut tanzte ein armes Boot. Der Mann sagte, es gäbe einen Weg zu einer fernen, seligen Insel. Er wollte Amey hinbringen in diesem Boot. Wenn sie nicht mit ihm ging, so stürzte er sich in den Strudel, und alles war zu Ende! –

Amey fühlte fortwährend die leisen Schauder ihren Rücken überrieseln.

»Darf ich Schuld haben an seinem Untergang?« dachte sie. »Leben!« dachte sie. »Leben!« –

Im nächsten Augenblick schlug sie die Hände vor die Augen. Mit einem Laut, wie ein Hilferuf, gab sie sich den wartenden Armen ihres Bootsmannes. – – –

 

Es war so unendlich viel zu sagen. Was wußten Amey und Thomas Vernow voneinander? Sie waren nur auf steilen Wogen geschifft. Dann hatten sie sich auf der letzten Planke miteinander verschnürt. Nun, da sie an der Insel mit den blauen Grotten und den sonndurchflimmerten Hainen landeten, wollten sie wissen, wer der andere war. »Nicht in Berlin,« sagte Amey, »diese Stadt ertrage ich nicht mehr lange. Ich will bald nach Hause gehen. In den Wäldern bei uns blühen die Anemonen und Leberblümchen, und die Terrassen um den Wunschberg werden blau sein von Krokus. Erst muß ich daheim mich wiederfinden, Thomas!«

Thomas kniete vor Amey, wie sie auf dem niedrigen Stuhl in ihrem Pensionszimmer saß. Seine stolze und spröde Mannheit hatte ihn verlassen.

»Du darfst nicht sagen, Amey, daß du gehst. Was soll ich noch ohne dich? Ich bin so müde und satt aller Gedanken. Wann darf ich kommen. Amey?« Er nahm sie zu sich heran, demütig und doch wild von der Einsamkeit mit sich selber.

»Thomas«, Amey sah aus, als ob sie weichen Wolken durstig entgegenstrebte. »Du darfst kommen. Aber nicht, ehe ich dich rufe. Du weißt doch: ich bin entwurzelt und herausgeworfen. Alle meine feinsten Fäserchen liegen bloß. Man muß mich erst wieder eingraben zu Hause, in Hellbergsches Land. Ich muß erst wieder mit meiner Erde verwachsen, daß ich unter meinem Himmel tanzen kann!«

»Du wirst nicht lange dazu brauchen?«

»Ich denke nein.« Amey strich leicht über seine sehnsüchtigen Augen. »Ich denke, bald kommt unsre Zeit! – Ist es dir nicht auch so?« Sie lachte plötzlich und glücklich. »Spürst du nicht auch, daß junge Jahre in dir wachsen? Jeden Frühling war mir's so. Aber es fing schon an in den Rauchnächten. Schon um Weihnachten!« Der Geruch von zarten, bräunlichen Knospen war im Zimmer. Blaue Nächte, tiefer, warmer Atem schlafender Tiere und das ungebärdige Pulsen der Säfte. – »Ariane entsetzte sich immer so sehr,« fuhr sie fort, »sobald die heiligen drei Könige mit dem Stern da waren, fing ich an von Sommersachen. Aber dann war ich gefeit. Wenn nicht vor Mariä Lichtmeß ein Fieber kam – nach diesem Tage konnte mir nichts mehr geschehen. Dann ist lauter junger und brausender Saft in mir. Ich werde toll wie die Bäume!«

»Du wirst toll wie die Bäume.« Thomas sah Amey an, träumend und selig.

»Ja, du,« sagte Amey, »kennst du das nicht? Bist du niemals gestorben im Herbst, wenn die Kraniche wie eine schräge Eins über die Wiesen ziehen? Und wenn alles so schwer werlkt?«

Thomas sah sie an. Er schüttelte den Kopf. Er war auf fernem Strande allein. Ohne Brücke. »Ich bin ein Großstadtkind«, sagte er.

Amey überfiel es. »Ihr Armen! Wie fern ihr allem seid, worauf es ankommt!« Sie schauderte plötzlich. »Die schiefen Häuser«, sagte sie. »Ja, und jetzt ist noch Winter! – Aber wenn erst die Luft so hell wird! Und alles blaßrosa. Ach, und die Frühlingsregen!« Sie schlug die Hände ineinander. »Nie im Leben habe ich daran gedacht, daß es Menschen gibt, die den ganzen Sommer in dieser Stadt leben müssen!« Sie bückte sich über Thomas. Aber während sie mit ihren Liebkosungen sein Herz überschüttete wie mit Wiesenblumen, stand das Mädchen, das ihren Muff zurückgewiesen hatte, plötzlich vor ihr . . . . »Welcher Dämon ist schuld,« dachte sie, »daß ein Teil der Menschheit all dieses Liebste und Holdeste entbehren muß? – Thomas,« – verlangte Amey – »du wirst mich lehren. Ich will deine Schülerin sein. Wir müssen es herausfinden. Es muß ein Mittel geben. Ach, dieses Grauenhafte! Wir müssen es überwinden!« . . . Ihre Augen wurden dunkel wie unter einem großen Schatten.

»Du wolltest doch nicht«, sagte Thomas. Seine Stimme zitterte und war hart zugleich.

Amey erschrak. »Ich wollte nicht«, sagte sie wie ein armes Kind. »Aber was nutzt es?« rief sie außer sich. »Was nutzt es, wenn wir auf unsere goldene Insel fahren, und das Entsetzliche bleibt doch in der Welt? Thomas, vergessen läßt es sich nicht!«

»Eine andere Hilfe als Märchen und Vergessen weiß ich nicht!« Thomas Vernow stand auf. – Amey saß geduckt. Sie atmete die schwüle, matte und aufreizende Atmosphäre im Salon Lydias. Sie hörte, wie die Trompeten in das große Chaos hineingellten, sie sah die hohen, übereinanderstürzenden Häuser, die Leben und Glück unter sich begruben, und dann, wie sonderbar, wie sehr sonderbar! Sie hörte plötzlich die breite, gesättigte Stimme der Generalin: »Im Herbst wollte er sie nicht magnetisch behandeln.« Von irgendeinem Berliner Arzt war die Rede. »Er kann nur heilen, wenn das Jahr im Aufsteigen ist. Sie mußte warten bis nach Neujahr. Jetzt ist sie ganz gesund.« Mitten in dieser Steinwüste gab es einen Menschen, der so eng mit der Natur zusammenhing und mit den Quellen des Lebens? Amey staunte. Ein Mut überkam sie plötzlich. Eine neue Gläubigkeit. Sie hob die Augen zu Thomas. Er stand mit verschränkten Armen und sah auf sie herunter. Nur einen Schritt hatte er sich von ihr fortgenommen; aber sie hatten die Empfindung wie von Trennung und fremdem Lande.

»Thomas«, rief Amey. Sie drängte sich an ihn. Er erbarmte sie. »Ich liebe dich, Thomas! Mein ungläubiger Thomas!«

Er gab einen Laut wie ein Vogel. Er warf sich und seine Gedanken unter den Schutz ihres Mantels. Er wollte es nicht, aber zum erstenmal tat er ihr weh mit seinen Küssen. Sie nahm sie hin. Sie duldete lächelnd und mit beseligtem Ausdruck. Sie wußte nicht, daß sie duldete. Ihr Herz wurde so groß. Ach, daß alle Trauer und Fremdheit der Welt so in ihrem Herzen zur Ruhe käme! – – –

 

 

»Lydia«, dachte Amey, als sie in dem milden, bernsteinfarbnen Glanz der kleinen Schreibtischlampe träumte. Thomas hatte sie verlassen. Sie spürte den Sturm seines Blutes noch auf Hals und Haar und Gesicht. Aber sie empfand ihn nicht als Sturm. Im tiefen Hafen wurden alle Segel friedevoll. –

»Lydia!« Ameys versonnene Augen öffneten sich in leichter Sorge. Mußte sie es nicht sogleich Lydia mitteilen? Sie schob die Unterlippe ein wenig vor. Sie zog die Augenbrauen in die Höhe. Ihr Blick bekam etwas Hilfloses und Ergebenes. Sie sah hold aus und lächerlich jung.

Amey saß eine endlose Weile vor ihrem Briefpapier, bis sie begann. – Aber zuletzt riß sie drei Bogen, die sie mühselig halb gefüllt hatte, doch wieder in Stücke. – Als sie zum vierten griff, klopfte es an ihre Tür. – Ja, also bitte. – Jeder, der kam und diese Tortur unterbrach, mußte gefeiert werden.

Nun, es war aber etwas Trauriges: Frau von Gärtnern stand verstört in der Tür. Ihre Tochter – Ninon von Lenclos war plötzlich auf rätselhafte Weise erkrankt. Sie fieberte stark, wand sich und verlangte nach Amey.

»Ich wollte Sie nicht bemühen, Liebste.« Frau von Gärtnern streichelte ängstlich bittend Ameys Hand. Aber was soll man tun? Dr. Lund hat so wunderbare Heilerfolge bei solchen Sachen. Er braucht nur ins Zimmer zu treten. Aber er ist verreist. Wir haben eben bei einem Fremden antelephoniert!«

»Doktor Lund?« dachte Amey. – Wie eigentümlich, daß sie immer wieder mit diesem Namen in Berührung gebracht wurde! Sie glaubte, ihre ganze Aufmerksamkeit gelte der Kranken. Aber in ihr dehnte sich etwas. Als ob sie in die Sonne käme, nach schwerem Winter.

Die arme, kleine, so sehr unschöne Ninon zuckte und weinte. Als Amey sich neben ihr Bett setzte und ihre Hand auf die glühende Stirn legte, wurde sie ruhiger, bis sich der Körper lang und geduldig streckte. Er war schön. Mit einer ganz hoch gebauten Brust, wie sie der slawischen Rasse eignet, aber noch kindlich und zart. Alle Glieder waren im Ebenmaß. Amey sah die Linien durch die leichte Decke. »Man muß sie anders kleiden und frisieren«, dachte Amey liebreich. »Ich werde Vorschläge machen. Wer so wohl gewachsen ist, braucht nicht zu verzagen!« Sie strich leise von der Stirn über die Augen. Immer wieder. –

»Ich möchte«, stammelte Ninon. – Ein Lächeln verklärte das zu flache Gesicht. »Zwei Menschen sind in der Welt. – Oh – zwei einzige Menschen.«

Herr von Gärtnern mußte sein Taschentuch gebrauchen. Er hatte Siebzig und Einundsiebzig als blutjunger Leutnant Heldentaten verrichtet, und vor einem Monat erst war ein wütender Stier sozusagen von ihm allein gebändigt worden. Aber wenn seine kleine Tochter krank war oder rührende Dinge sagte, kamen ihm die Tränen.

»Sie hängt so sehr an ihren Eltern!« entschuldigte er sich. »Dies ist ein Kind, das man nie aus dem Hause geben könnte!«

In diesem Augenblick bückte Amey sich schnell über das fieberglühende Gesicht der Kranken: »Amey«, stammelte Anita von Gärtnern. »Donatus Lund«, stammelte sie. –

Amey mußte lange streicheln, bis Träume kamen und ein schmerzhaft süßes unterdrücktes Verlangen in selige Reiche entführten.

Ninon schlief fest und beruhigt, als der Arzt anlangte. Es war eine nervöse Störung. Wie junge Damen dieses Alters – zuweilen – durch seelische Erschütterungen . . . Vielleicht – es wäre gut, wenn man reiste. – Eine Veränderung der Umgebung – neue Eindrücke – Sonne . . .

»Seelische Erschütterungen?« staunten Gärtnerns. »Unser Kind? Und wir wüßten nichts davon?« Immerhin, welch Glück, daß nichts Organisches vorlag. Sie wollten sogleich an die Riviera gehen.

»Es ist hart, ein Herz nach Cannes zu schicken, wenn es von einer ganz andern Sonne träumt!« Amey ging traurig in ihr Zimmer, von den überschwänglichen Danksagungen der Eltern geleitet. –

Am folgenden Morgen kam Thomas. Stürmisch, selig, demütig und ein liebes Kleinwenig als Herr und Gebieter. – Er sah sich um im Zimmer. Er erspähte plötzlich einen Frisiermantel, der wie eine weiße Schneewehe über einem Stuhl hing. Er machte eine schaumige Kugel daraus und drückte sein Gesicht hinein. »Erlaubst du?« sagte er spitzbübisch. »All solche ungeheuer freche Sachen erlaubst du mir jetzt?« – Amey lachte.

Sie kamen nicht sogleich fort. »Komm«, bettelte Thomas immer neu. Die linke Hand – Amey bemerkte es plötzlich, wie sie immer noch schlaff hing. Sie nahm sie in beide Hände. Sie küßte sie. – »Oh – Amey!« –

»Wie kam es?« flüsterte Amey. »Wie traf er dich?« Da erzählte Thomas von jener Nacht vor ihrem Fenster.

Das Messer war durch die Rippen, dicht an der Lunge vorübergegangen und hatte einen Nerv zerschnitten. Der Arm würde unbeweglich bleiben. Und wieder hob Amey die unbewegliche Hand an ihre Lippen, als müsse sie sühnen. »Yolanthe Hellberg«, dachte sie, während Thomas sie auf dem Schoß hielt. Er küßte alles an ihr: Gesicht und Haar und Nacken und Hände, und das blaue W. Heute sagte ihm Amey die Bedeutung des Zeichens. Nachher gingen sie.

Als sie schon halb draußen waren, fast an derselben Stelle wie neulich, rief Amey: »Lydia!« Aber sie rief es nicht mehr beschwörend, sondern erschreckt. »Ach laß«, sagte Thomas. »Wozu? Wir schicken ihr eine Verlobungsanzeige, wenn es soweit ist. – Jetzt laß uns noch ein wenig heimlich sein. Daß niemand den Duft fortnimmt!«

Sie gingen. Wie schön war Berlin! Trotz allem! Eine blasse Sonne zersträhnte einen ganz feinen milchigen Hauch in siebenfarbige Prismen.

Amey sah sich um mit glänzenden Augen. Plötzlich erschrak sie. Ja – aber war es so? – Wenn wir in Not sind, ist die ganze Welt dunkel. Und sind wir im Glück, ist sie hell! – Sie wendete sich zu Thomas. Aber sie schwieg, als sie die strengen Züge seines Gesichts gelöst sah.

Thomas schob seinen Arm unter den Ameys. Wie der Herr die Dame seines Herzens führt. »Onkel Rhaban!« dachte plötzlich Amey. Der Brief!! – Jetzt würde sie ihn lesen dürfen! Etwas an ihrem Herzen flatterte.

»Ich bin glücklich«, staunte sie. »Warum kann ich mich sehnen zugleich, daß es schmerzt?« Sie wußte nicht, warum ihr Lydia wieder einfiel.

Mein Gott – wirklich? – Dort – quer durch das Gewühl des Leipziger Platzes – gerade auf sie zu . . . Es war Lydia.

Mit der Kühnheit des kreolischen Blutes und der Geschmackssicherheit der Malerin trug Lydia ein Kostüm raffiniertester Farbenzusammenstellung. Aber unter diesen Karmoisin und Flaschengrün, Rauchgold und Schwarz brachte sich in seiner eigentümlichen Art der Körper fortwährend ins Bewußtsein. Alle Männeraugen hafteten an diesem Körper, in einer Art, vor der Amey errötete.

Jetzt erblickte Lydia Thomas und Amey. Die reiche Farbe ihrer Haut bekam etwas Stumpfes. Ihre Pupillen vergrößerten sich jäh. Aber ebenso schnell zogen sie sich zusammen. Schmal und gefährlich standen sie in der flackernden gelben Iris. Man wünschte den Maler herzu, der den Ring in ihre Nase gab.

»Man darf also wohl gratulieren?« Ein beängstigendes Lächeln ging um den Mund mit den flachen wundroten Lippen.

»O Lydia!« Amey war ganz hilflos. Die gewohnte Haltung der Weltdame gab ihr gar keinen Schutz.

Thomas wand sich innerlich vor Unbehagen. Dies Zusammentreffen! Hier auf der Straße! – Aber vielleicht war es am besten so. »Amey und ich wollten allernächstes um Ihre Glückwünsche bitten.« Seine Stimme war förmlich.

Amey mußte immerfort Lydia ansehen. Das Porträt von ihr, das keinem einzelnen Tier glich . . . Lydia war jetzt vollkommen der Ausdruck dieses Bildes.

»Wollen wir uns nicht setzen?« stammelte Amey. Sie wußte nicht, was sie sagte. Die Stumme stand vor ihr, die von dem Mann, den sie liebte, die Zeitung zugeschickt erhielt mit seiner rot angestrichenen Verlobungsanzeige. –

Thomas konnte sich nicht enthalten. Sein Blick ruhte sekundenlang auf Amey in lächelnder und leidenschaftlicher Zärtlichkeit. Der Vorschlag, sich zu setzen, mitten im Getose des Leipziger Platzes hatte etwas rührend Groteskes.

Lydia sah den Blick. »Nun – . . .« Sie schöpfte Atem in einer sonderbaren Weise. Sie lachte, ihr hohes Lachen, ganz ohne Rundung und Fülle. Oh nein – ein so junges Glück würde man doch nicht stören. Sie – gerade sie wüßte doch so etwas zu beurteilen! Sie lachte wieder. Sie schien verwirrt.

Aber im nächsten Moment schon war sie kühl gefaßt. – Also, in den nächsten Tagen . . . Sie gedachte auch eine gewisse Anzeige auszuschicken . . .

»O Lydia!« Etwas in Amey wurde leicht wie ein Vogel. Wäre es nicht hier auf der Straße gewesen, sie hätte sich überwinden können. Sie hätte Lydia küssen können. –

Lydia sah Amey grübelnd an. Sie schien zu überlegen. Etwas in ihr schien zu schmelzen. Aber gerade da machte Thomas eine Bewegung. In seinem Gesicht, das versteint schien, zuckte etwas. Man war nicht klar, was es bedeutete. Er schien sich zusammenzureißen zu irgendeinem Wort. Er murmelte etwas von Freude und großer Auswahl, was augenscheinlich in geringem Zusammenhang stand. Aber Lydia schien einen solchen herauszufinden. Ihre Augen flackerten und veränderten sich wieder.

Amey hatte Thomas nicht verstanden. Aber sie erschrak über Lydias Gesicht.

In diesem Augenblick geschah wie in Träumen das Unzusammenhängende. Der Kommerzienrat von der Tafelrunde ging vorüber. Er überflog blitzschnell die Gruppe und grüßte. Amey fühlte, wie ihre Knie schwach wurden. Er blieb doch wohl nicht stehen? Aber, als ob dies alles weit draußen geschähe und sie persönlich gar nichts anginge, hing ihr Blick an ihm wie gebannt. Der Kommerzienrat blieb stehen in der Tat. Seine Wulstlippen schienen zu schmatzen. In diesem Augenblick löste sich Lydia von der Gruppe. Sie sah Thomas und Amey an, bedeutungsvoll und mysteriös lächelnd. »Also nochmals meine Gratulation. Ich wollte mich mit meinem Freunde treffen. – Herr Kommerzienrat Nethur!« – Während sie schon über die Straße und zu ihm hinüberging, automatenhaft und zugleich bewußt, machte sie eine vorstellende Handbewegung. –

Im nächsten Augenblick waren Lydia und ihr Begleiter von dem Menschenmeer eingeschluckt.

Thomas hatte ein leeres Auto erspäht. »Komm fort!« Er hob Amey hinein. – Ja, fort von all diesem, weit fort. Im Tiergarten in der Charlottenburger Gegend stiegen sie aus. Sie waren in einen menschenleeren Weg eingebogen. Das Gesperr der Äste war noch immer kahl. Dennoch schien heimliches Leben bereits darin zu zucken. Frühling war auf dem Wege. Amey atmete auf. Thomas bückte sich nah zu ihr hin. Seine Augen funkelten. Seine Liebe wurde Trunkenheit, wenn er sie versiegeln mußte.

Amey errötete unter seinem Blick. »O Thomas« – rief sie plötzlich – »ich bin in deinen Augen!« Sie lachte hinein in die zwei stählernen Spiegel. »Lydia sahst du nicht nett an!« Ihre Stimme wurde vorwurfsvoll.

»Verlangst du, daß in meinen Augen noch etwas Platz hat außer dir?« Seine Stimme war schwer und dunkel in Leidenschaft. »O nein!« Sie schaukelte sich an seinem Arm. Sie träumte laut vor sich hin. Sie summte die Worte wie kleine Lieder. »Ich hatte keine Ahnung, daß Lydia sich verloben wollte«, sagte sie plötzlich.

»Glaube mir«, der Zug um den Mund von Thomas, der vorhin nicht ganz deutlich war, enthüllte sich jetzt fraglos, »glaube mir – vor einer Viertelstunde hatte sie selber noch keine Ahnung davon!«

»Nein?« – Amey blieb stehen. Sie sah mit weit offenen, starren Augen Thomas an. »Aber – dann ist es schrecklich?«

»Vielleicht ist es schrecklich. Was geht es uns an?«

»Aber wieso geht es uns nichts an?« rief Amey. »Wir ganz allein auf unserer Glücksinsel und – autour de nous – le déluge?« Sie blieb jäh stehen. Das Brausen der Stadt, der keuchende Atem des wilden, gefesselten Tieres strich nah.

»Nicht die vielen und nicht die wenigen sollen uns stören!« stieß Thomas heraus. »Niemand. Nicht ein einziger Dritter. Hörst du? Du und ich!«

»Aber – kann man denn das Leben rundum ausschalten?« murmelte Amey verstört. »Und selbst wenn – könnte man selbst sein Herz derart taub machen – es hat doch Erinnerungen?« Thomas blieb stehen. »Ich teile mit niemand, Amey.« Er bewegte kaum die Lippen, wie er sprach. Amey sah ihn an. Ihr Herzschlag setzte aus. Sie fand sogleich keine Antwort.

Das Gesicht von Thomas veränderte sich, wie er wartete. Seine tief gelagerten Augen schienen bis hinter die Schädeldecke zu sinken. –

Also dies wäre notwendig? Gesichter jagten sich vor Amey. Viele Menschen hatten sie geliebt. – Ja – wenn es aber sein mußte? Konnte sie nicht einmal einen einzigen beglücken? Restlos? –

Wohlan – wenn dazu Opfer nötig waren . . . Etwas in ihr, das geweint hatte, machte sich fest. Alles sollte ausgelöscht sein hinfort. Um Thomas willen. In einer fremden Kammer, wohin sie sich den Zutritt versagte, würde alles, was einmal hold war, eingesargt stehen. – Aber Thomas – sie sah ihn an, sekundenschnell, in bangem und zärtlichem Mitleid – beraubte er sich nicht eines Kostbaren, wenn er von all diesem sich selber ausschloß? –

Thomas empfing den Blick Ameys. Er schmeckte die Zärtlichkeit. Er wußte nicht ihre Wurzel. Aber er seufzte entspannt.

Sie gingen weiter. Thomas hielt Amey ganz nahe zu sich. Sie ging wie jemand, der einen weiten Weg vor sich weiß und entschlossen ist, nicht müde zu werden. Sie wurde fröhlich. Die Sonnenfunken in ihren Augen, grün wie sommerliche Wälder, fingen an zu spielen, und auch die schönen und schlimmen Hexen regten sich ein wenig. Sie war für Thomas wie ein Becher voll Maiwein.

Aber während Thomas von ihr Rausch nahm um Rausch, dachte Amey plötzlich an den vorigen Frühling, wie es so laut aus dem Walde gerufen hatte. Sie ging auf den Wunschberg. Onkel Rhaban sagte: Goldne Amey. Sie sah seinen Blick, jenen einzigen kurzen Atemzug lang. – Onkel Rhaban mußte sie doch wohl nicht in die heimliche Kammer verweisen? Aber wie sie noch »Onkel Rhaban« dachte, schien sein Gesicht sich zu verändern. War es nicht ein Jungensgesicht? »Amey, das ist die Königin?« Mein Gott – sollte sie denn ganz allein auf der Welt sein mit all ihren Schätzen? – Aber wie sie ganz hilflos war, erblickte sie es plötzlich: dieses kühne Gesicht, das von Fernen und Weiten wußte. – Es wartete nicht, sondern es stand bereit. Der Schnee schmolz. Amey ging in der Sonne. Ihre Verlassenheit war durchsungen von tausend Frühlingsvögeln. Sie spürte in ihrer Brust einen kleinen, brennenden Punkt, wie das Herz ihres Herzens.

Ja, und dann faßte Amey einen neuen, großen Mut. – –

 


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