Friede H. Kraze
Amey
Friede H. Kraze

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Nachher bei Tisch erinnerte man sich aller Einzelheiten. Pfarrer Bruns war vor drei Jahren mit in dem Boot gewesen, als Langustenfischer den Knabentorso aus seinem mehr als tausendjährigen Grabe entzauberten. Die heimliche Sehnsucht aller Kinder des Nordens hatte den alten Herrn zuletzt bezwungen. Mit fünfundsiebzig Jahren überschritt er die Alpen. Er war ein heimlicher Anbeter der Schönheit, wiewohl er durch eigene Anschauung in der Kunst über die Architektur seiner engeren Heimat kaum hinausgekommen war. So hatte er mit der rührenden Ahnungslosigkeit eines Naiven den Fischern 30 Lire für den Fund geboten. Er wollte den Torso in seinem Gärtchen an der Wesermündung aufstellen. Seine Urenkelin würde einmal ihre Freude daran haben.

Bei St. Genaro! Die Fischer hatten höflich und gutartig gelächelt. Wenn ein solcher Segen nicht in das Museo Nazionale in Neapel wanderte . . . Man dachte doch wohl an die Casa Blanca! Hoch oben in Anacapri, am Fuße des Solaro! Die ein deutscher Baron seit Jahren für einige Wintermonate mit der jungen Padrona bewohnte.

Onkel Rhaban hatte dann auch wirklich den Torso bekommen. Er hatte nicht einmal 30 Lire dafür bezahlt. Aber – weißt du, das kleine Haus an der Marina Grande? Antonio Bello, wie lange hatte er schon damit geliebäugelt . . . und Sebastiano, der so gern seine kleine Ninetta heiraten wollte! Per dio! . . .

Onkel Rhaban hatte von dem Bewunderer dieses, seines letzten Fetisch gehört. Bei der berühmt schrankenlosen Gastfreundschaft der Casa Blanca war Pfarrer Bruns bald täglich dort aus- und eingegangen. Daß Amey trotzdem ihn nie gesehen hatte, hing mit einem ihrer Fieberanfälle, denen sie von Kind auf unterworfen war, zusammen. Die Verbindung zwischen Onkel Rhaban und Pfarrer Bruns war immer aufrechterhalten worden.

»Wie ich alles verstehe!« dachte Amey, während sie dem Pfarrer zur Rechten an dem großen Eßtisch saß. Waren diese einfachen Naturen nicht ausersehen, Labsal und Zuflucht der komplizierten zu sein! Sie hatte wohl recht mit den guten Broten. Wenn man sie aufbrach, spürte man noch die ganze Sommergüte!

Amey sah zu Onkel Rhaban hinüber. Er schien immerfort nur darauf gewartet zu haben. Er empfing Ameys Blick, wie man mit ausgebreiteten Armen einen liebsten Menschen empfängt. Der Schleier der Wehmut verhüllte seine Augen nicht mehr. Sie waren ganz voll Glanz und zugleich von einer tiefen Beruhigung erfüllt.

»Ist es der Pfarrer?« dachte Amey. Nein. Dieses Neue in seinen Augen konnte nicht von dem Pfarrer ausgehen. Was war es? Und woher kam es?

Plötzlich erschrak sie so heftig, daß ihre Hand bebte. »Es ist Glück!« sagte schnell und deutlich etwas in ihr.

Eine leidenschaftliche Freude bemächtigte sich Ameys wie ein feiner Rausch. Sie erhob dieses geschliffene alte Kelchglas mit Wein aus der Romagna gefüllt. Unter dem Kerzenlicht funkelte er ebenso rubinrot und verströmte sich wie das silberne Herz draußen im Wintergarten. Mit diesem Kelchglas grüßte Amey Onkel Rhaban, der nur auf sie gewartet zu haben schien. Als sie dann tranken, Auge in Auge, war ihr alles versunken, was sie umgab, und ebenso alles, was im Wintergarten sich soeben abgespielt und sie bedroht hatte.

»Wie jung ich mich fühle!« dachte Amey. »Ist es möglich, mit meinen Jahren so jung zu sein?« Sie wußte, daß die Augen von vier Männern an ihr hingen, in demütiger Anbetung oder verhüllter Leidenschaft und in einer feinen, staunenden oder tiefen und süßen Zärtlichkeit.

Aber sie wurde von diesen Blicken nicht verwirrt, sondern getragen. Ihr eigenes Lebensgefühl schien ins Ungemessene erhöht. Kein einziges Mal kam ihr dabei der Gedanke: alle diese werden heute Nacht keine Ruhe finden. Selbst der greise Apostel wird staunend wach liegen unter einem durch seine Jahre beruhigten und durch seine Reinheit geheiligten, aber dennoch in dieser Weise niemals zuvor erlebten Lustgefühl. – »Ich werde geliebt.« Das war einzig ihr Gedanke. Darum war sie jung. Darum war sie schön. Darum konnte sie beglücken. Wie köstlich war es, geliebt zu werden! –

Irgendwie war das Gespräch auf indische Pferdenamen gekommen und von denen auf Rabindranath Takhur, den die Engländer Tagore nennen. Aber irgendeine geheime Übereinkunft schien zwischen Amey und Guntram Walmoden zu bestehen, daß Bethun und sein Plan nicht erwähnt wurden. – »Übrigens Don Lund« – Guntram Walmodens Stimme klang, wie man spricht, wenn man etwas sagen muß, was man nicht sagen will, »er ist auch letzten Winter in Indien gewesen.«

»Don Lund?« fragten die anderen. – Sie erinnerten sich nicht, diesen Namen gehört zu haben. –

Wirklich nicht? – Eine Zeitlang war er in jedermanns Munde. – Das machte – sie waren so lange nicht in Berlin.

»Lund?« sagte Amey. »Lund? – Der Name klingt so wenig wie möglich spanisch.«

Guntram Walmoden lächelte.

»Was, der?« rief plötzlich Philipp Marschall. Er hatte noch immer Ameys Stimme im Ohr und war nicht ganz bei der Sache gewesen. »Dieser wunderliche Heilige! –Allerdings – Spanien . . .« Er lachte laut, hemmungslos. Man wurde an seine Kadettenzeit erinnert.

»Wenn Phil ihn kennt,« rief Amey, »muß er irgend etwas mit Pferden zu tun haben. Ist er Herrenreiter?«

»Zu Pferde saß er tadellos« – Philipp Marschall erstickte fast in dem Bemühen, wieder Haltung zu erlangen. Auch Guntram Walmodens Lächeln wurde wirklicher. »Die spanische Beziehung kam öfters vor. Die mit dem Herrenreiter ist neu. – Sie sind verantwortlich dafür, Herr von Marschall.«

»Ein ganz toller Mensch«, sagte Philipp Marschall, der sich zu fassen versuchte. »Ganz toll!« Plötzlich sah er Amey an, wie von einer Eingebung betroffen. »Ich glaube, Kusinchen, er wäre dein Genre!« Beim letzten Wort schien er sich zu hören. Unter dem auf den Millimeter rasierten Haar, das eigentlich Neigung gehabt hätte, sich zu ringeln, konnte man seine ganze Kopfhaut flammen sehen. Wie ein großer, netter Junge sah er aus, der eine ungeheure Dummheit begangen hat.

»Wieso?« Amey konnte nicht sprechen vor Lachen, so furchtbar komisch wirkte Phil in seiner Verlegenheit.

»Laß' sehn, Phil, wie tief du Ameys Geschmack ergründet hast?« Onkel Rhaban, dem übrigens eine Erinnerung kam, nahm lächelnd und mit den Fingerspitzen eine Pistazie.

»Ja,« stammelte Philipp Marschall verlegen, »er hatte etwas so Kühnes . . .«

»Stolz lob ich mir den Spanier«, gab Amey gerne zu. »Ist er bei der Gesandtschaft?«

Jetzt geriet der junge Marschall in seinem hohen Uniformkragen wirklich in Lebensgefahr. –

»Gottlob, daß wir über den Fisch hinaus sind. Amey, in der Unschuld der Ahnungslosen hast Du unsern lieben Phil nächstens auf dem Gewissen.« Onkel Rhaban ersuchte Guntram Walmoden, sich der Sache anzunehmen.

»Donatus Lund . . . –«

»Ach« –

»Alle, die ihn kannten, nannten ihn Don Lund.« – Die immer etwas sarkastische und zugleich spielerische Stimme Guntram Walmodens belebte sich leicht. – »Er ist der Sohn eines Halligpfarrers. – Er ist wirklich ein ganz besonderer Mensch. – Kühn – ich glaube, Herr von Marschall hat das durchaus passende Attribut für ihn gefunden . . .«

Philipp Marschall schob schnell beglückt die blinde Henne mit ihrem Korn dazwischen.

»Kühn, in der Fassung – daß er gerade so spricht, sich gibt, überhaupt sein ganzes Leben gestaltet, wie es seiner Natur entspricht. Persönliche Erfolge oder Nachteile sind nicht in Betracht kommend für ihn. Ich kenne niemanden, der sich so unabhängig von diesem gewissen ›on dit‹ gemacht hätte!«

Amey sah Guntram Walmoden gespannt in die Augen.

»So etwas gibt es heute in der Berliner Gesellschaft? Ihr Don erscheint fast wie ein kostbares Museumsstück.« Onkel Rhabans Mundwinkel zogen sich ein wenig und schmerzlich herunter.

»Gab',« sagte Guntram Walmoden, »das Imperfektum ist notwendig trotz allem.«

»Er hätte Minister werden können!« Philipp Marschall hatte sich endlich gefaßt. »Oder Legationsrat. – Er hat, glaub' ich, nicht mal Jura studiert.« Er sah um Bestätigung fragend, zu Guntram Walmoden hinüber. – »Daß ihr das alles gar nicht wißt? – Eben, weil ihr Winters immer in Italien wart. – Aber dorthin kommen doch auch Leute.«

»Ja, aber, was tat er denn, eh' man ihm das Portefeuille anvertrauen wollte?« Amey zerpflückte ungeduldig die Schale ihrer Mandarine.

»Er war Philologe. Das kommt hier gar nicht in Betracht.« Guntram Walmoden antwortete schnell den leicht und staunend gehobenen Augenbrauen Ameys. »Er war Erzieher des Prinzen Herbert. Der Fürst stand als Regimentskommandeur in Potsdam damals. Don Lund hatte die kleine Menage völlig in der Tasche und von da aus die ganze Gesellschaft.«

»Ein Jammer und Schade.« Philipp Marschall erinnerte sich. »Ihr hättet sie zu Pferde sehen sollen, den Prinzen und den Don – . . .«

»Wir trösten dich nachher über die Rennpokale, die sie verachteten, Phil. Ich sterbe vor Neugierde. Kommt jetzt der romantische Teil, Baron?«

Guntram Walmodens Lächeln war bedeckt. »Man wird es nicht anders bezeichnen können, Baronesse«, sagte er.

»Ich brauche Ihnen zu Gefallen nicht das geringste zu erfinden. – Er war übrigens selber Dichter, Don Lund, und ein ausgezeichneter Geigenspieler. – Es gab sehr wenig, was er nicht gekonnt hätte, wenn er es anfaßte. – Mit den Frauen fing es natürlich an. Aber er hatte überhaupt einen eigentümlichen Einfluß auf Menschen. Klärend, heilend, befeuernd vor allem. Vielleicht irgendeine magnetische Beziehung . . . Die Ärzte machen das ja alles mit Suggestion ab. Nun – lebendige Kräfte gingen von ihm aus!« –

»Wir sind ganz eingenommen von ihrem Don Lund!« Onkel Rhaban sah stärker interessiert aus als sonst.

»Ich redete ihn mal an auf das Magnetische«, sagte Guntram Walmoden. »Er lachte: Er wüßte gar nichts von einer solchen Begabung. Jeder Fischer bei ihnen auf der Hallig verstünde mehr davon. Aber es war irgend etwas um seine körperliche Nähe. Man spürte Meerwind, Freiheit. Man dachte – man hätte die Zügel in der Hand . . .« Guntram Walmodens Lächeln wurde fast schmerzhaft. Sein Blick streifte Amey.

»War es ihm wirklich ernst vorhin?« Wie draußen im Wintergarten wollte unerträgliche Wehmut Amey überfallen. – Aber noch stärker als vorhin empfand sie dieses Sich-zur-Wehr-setzen, während irgendeine Spannung dazu trat. Ein fremdes, erregtes Erwarten. »Wir müssen Herrn Pfarrer Bruns nachher bitten«, sagte sie schnell. »Er muß uns erzählen. Er kommt ja auch daher, wo die Schäfer perfekte Doktoren sind. – . . . Wie war nun das Ende?«

»Er wurde enorm gefeiert.« Philipp Marschall hatte den heimlichen und dringenden Wunsch, mit diesem zum Schluß zu kommen und zugleich gegen den nicht Anwesenden anständig zu handeln. »Er war direkt Mode. Wer etwas erreichen wollte bei den Herrschaften – kurz – und eines Tages . . .« Er verwirrte sich. –

»Und eines Tages . . . .« Amey war des Glaubens, der Ton ihrer Stimme habe keinerlei Anspruch auf Ungeduld.

»Natürlich – . . .« Der Baron Walmoden hatte seinen Ausdruck jetzt wieder völlig in der Gewalt. Seine Art zu sprechen, war auch wieder die tändelnd sarkastische. Man konnte wirklich die Dinge nicht so wichtig nehmen. Er kam dem jungen Leutnant bei dem heikeln Thema zu Hilfe. »Es war eine Angelegenheit mit einer Dame.«

»Ach so.« Amey brach ab. Irgendwie hatte sie dieses erwartet. Und doch fühlte sie sich enttäuscht. Oder . . . verletzt? . . . Inwiefern? – »Und dann?« sagte sie gleichgültig.

»Dann?« Guntram Walmodens Stimme war gewissermaßen ihm selber zum Trotz doch wieder ernst geworden. »Wenn Baronesse mir gestatten das zu sagen: in diesem Fall war der Mann ganz ohne Schuld. Dies war das Sonderbare überhaupt: Man hat ihm, soviel ich weiß, niemals etwas einer Frau gegenüber vorwerfen können. Aber sie ließen ihn einfach nicht in Ruh.« Er brach ab. Wie vorhin Philipp Marschall. Man konnte vor Amey gewisse Dinge nicht behandeln. »Es betraf eine Dame in sehr ausgesetzter Position.« Er konstatierte jetzt einfach. Seine Stimme war kühl und sachlich. »Ganz klar hat man niemals gesehen. Es wurde sehr viel geredet damals. Für Don Lund in seiner ungeheuern Anständigkeit war es, glaub ich, abscheulich. Soweit das möglich war, hat er die Sache einfach auf sich genommen.«

»Und dann«, sagte Amey langsam.

»Er ist auf und davon, ohne den geringsten Versuch, sich zu entlasten. Er mochte wohl einfach nicht mehr mitmachen. – Verzeihung. – Er hat Medizin studiert, irgendwo in Süddeutschland. Speziell Augensachen. Er soll da sofort wieder eine phänomenale Entdeckung gemacht haben. Irgendeine Heilmethode von Star, glaube ich, auf nicht operativem Wege. Und dann kam Eifersucht von den Herren Kollegen. Charlatanerie – hieß es. Und so weiter.«

»Und das Ende?« fragte Amey.

»Er soll als Schiffsarzt viel gereist sein. Er hat auch längere Zeit in Kleinasien sich aufgehalten, in Ägypten und in Indien.«

»Sie stehen noch in Verbindung mit ihm?«

»Ja – nein – wie man will. Nicht direkt. Man hat gemeinsame Bekannte . . .« Guntram Walmoden sprach schneller als vorher, seine matte Stirnhaut rötete sich sonderbar. Die Eile seiner Worte strafte die Gleichgültigkeit seiner Stimme Lügen. Er wußte nicht, was ihn veranlaßte, sein Zusammentreffen mit Don Lund vor gerade einer Woche in Berlin auf dem Leipziger Platz zu verschweigen und den Eindruck, den dieser in noch stärkerem Maße als in früheren Zeiten auf ihn gemacht hatte. Er sah es zum Greifen nah, dieses kühne Gesicht, von einem warmen und bronzenen Braun, wie das Fell eines freien und edlen Tieres. Er stand unter dem fremden Adel dieses hellen Blickes, der alles zu wissen schien, an dem gar nichts vorübergegangen war und dem eine tiefe Güte zugefallen war und ein feinstes Verstehen als Beute vieler dunkler und gefährlicher Fahrten. Er spürte den Meerwind und die Weite und die Sonne. – Es gab zwei Menschen im Leben Guntram Walmodens, die den Grund in ihm berührten, der verschüttet stand: einen Mann und eine Frau. – Die Frau hatte sich ihm heut versagt. Den Mann mied er schon lange, weil sein Übergewicht ihn erdrückte. Denn er hatte nicht mehr die Kraft, durch Freundschaft sich ihm anzugliedern. –

»Ein interessanter Mensch«, sagte Onkel Rhaban. Er erinnerte sich jetzt deutlich. Isseradens erzählten von ihm in Rom. »Wir müßten ihn einmal auf der Burg haben. Amey, meinst du nicht?« Aber Amey schob die Unterlippe vor. Sie zog die schlanken Augenbrauen über der Nasenwurzel zusammen und wiegte ihr feines Köpfchen hin und her. »Ach, eigentlich sind wir doch immer enttäuscht worden, wenn die andern alle jemanden so unwiderstehlich fanden.« – Sie lachte, und sie errötete plötzlich. Und die schönen und argen Hexen in den Wäldern ihrer Augen spielten ein wenig. »Aber nun müssen wir endlich von Stavoren hören, wo die gottlosen Leute den guten Weizen ins Meer versenkten, und von den schrecklichen Meermenschen, die mit einem Pull Seetang als Kopf durch den Nebel gehen!« Sie sah Pfarrer Bruns an, zärtlich und leidenschaftlich bittend, als hinge ihr Leben an diesen Dingen.

Als man dann von Spukgeschichten und dem zweiten Gesicht bei Swedenborg gelandet war, kam man auf Tolstoi, und niemand hätte später sagen können, wie man über den Kubismus hinweg, mit dem Paris soeben die Menschheit beunruhigte, in der Architektur, als dem Urschoß aller Künste, zum Frieden gelangte.

Philipp Marschall verstand von alledem nicht sehr viel. Er hörte kaum zu. Alle seine Gedanken und Sinne umrankten Amey. Er war glücklich, daß er den fernen Nebenbuhler als landesverwiesen betrachten konnte.

Auch Pfarrer Bruns hörte jetzt wieder mehr, als daß er selber sprach. Er ließ sich freudig umsprühen von den Paradoxen, die zwischen Onkel Rhaban, Amey und Guntram Walmoden hin und wieder sprangen, wie geschickt geschleuderte und ebenso geschickt parierte Tennisbälle. Das Wunder dieser Art von Unterhaltung lag für ihn nicht in dem Kulturwissen dieser Menschen, das Jahrtausende ebenso wie den ganzen Erdball umspannte. Vielmehr staunte er darüber, und es erfüllte ihn mit einem feinen und zugleich schmerzhaften Lustgefühl: daß diese Menschen selber eigentlich die äußerste Blüte aller Kultur darstellten. Einen letzten und durch nichts mehr zu überbietenden Gipfel. Eine Essenz gewissermaßen.

»Für sie ist Jahrtausende lang gedacht, erfunden und gearbeitet worden,« mußte Pfarrer Bruns denken, »gesät und geerntet, gekämpft und gelitten. Alles Blut und aller Schweiß, alle Tugenden und Laster, – ja, Rausch und Erniedrigungen sind nur dazu da gewesen, ihnen zu dienen. Das alles mußte ihnen helfen, ihre Art und ihr Wesen recht vollkommen auszuwirken! – Es ist sehr wunderbar,« dachte Pfarrer Bruns, »sie sind nicht produktiv, sondern allein Ästheten.« Seine Gedanken kamen nicht ins Klare. Denn wie verstanden sie zu genießen! Waren sie selber dadurch nicht eine Art Kunstwerk geworden? – »Nur auf diese Weise erklärt es sich«, dachte der Pfarrer, der in seinem niedrigen Pfarrhaus, hinter den gekappten Linden, unweit der Wesermündung und zwischen den wie aus Eichenholz geschnittenen Fischergesichtern ein Lebenlang so freudig gearbeitet hatte und dennoch immer nach einer fremden und feineren Schönheit ein wenig gedarbt – »nur so erklärt es sich, daß sie einen Gegenstand mit so wenig Worten von so verschiedenen Seiten beleuchten können, daß gar nichts weiter darüber zu sagen bleibt. – Und mit dieser Anmut! – Wie ein Knecht steht man und sucht und sucht! – Sie aber – mit einem einzigen kleinen Satz haben sie indessen alles ausgedrückt. Das Bedeutende spielend und das Geringfügige reizvoll.«

»Goldne Amey«, sagte Onkel Rhaban in diesem Augenblick. – Man war bereits in das Gobelinzimmer zurückgekehrt, und Amey kauerte, Hände um die Knie geschlungen, auf einem Schemel vor dem Kamin und zu Füßen Onkel Rhabans, wie sie jeden Abend zu tun pflegte.

»Goldne Amey?« Amey fühlte die warme Blutwelle in ihrem Nacken. Dieses Zärtlichkeitswort, das ebenso wie ihr seltsamer Name aus der Geschichte der Ahnfrau von Brentano stammte, war eigentlich ein Familiengeheimnis. Ihre Mutter hatte sie so genannt. Als man ihr das winzige Geschöpfchen, dessen Leben sie mit ihrem eigenen erkaufte, zum ersten und letzten Mal an die Brust legte. –

Ameys Vater hatte seine Tochter niemals so gerufen. Er kannte sie kaum. Seit dem Tode der abgöttisch geliebten Frau reiste er beständig. Aber Europa und alle Weltteile vermochten nicht, was im Sommer 1875, da die Bulgaren die Serben besiegten, einer kleinen Kugel bei Slivnitza gelang: diesem unruhvollen und heimwehkranken Herzen den Frieden zu geben.

Onkel Rhaban hatte den Zärtlichkeitsnamen übernommen. Aber nur, wenn sie ganz unter sich waren, nannte er Amey auf diese Weise, und allein die alte Ariane kannte das Liebeswort und machte einen heimlichen Gebrauch davon.

»Goldne Amey!« Onkel Rhaban nahm sich zurück. Seine Augen schienen sich plötzlich hinter einem feinen Nebel zu verbergen. Aber das Wort war ausgesprochen, und alle hatten es gehört. Nur das war sonderbar: niemand schien irgendwie befremdet, daß in die sprichwörtliche Zurückhaltung Herrn von Hellbergs damit eine Lücke gebrochen wurde. –

Als Amey empfand, wie natürlich dieses Liebeswort den andern erschien, verebbte langsam das Blut in ihrem Nacken. Wie vorhin überkam sie dieses feine, rauschartige Lustgefühl: »Ich werde geliebt! Wie jung ich bin! Wie bin ich schön, weil ich geliebt werde!«

Aber in diesem Erhöhtsein, und während sie Onkel Rhaban zulächelte, durchschoß sie jäh eine andere Empfindung: »Und das Letzte?« fragte etwas atemlos in ihr. »Das Geheimnis hinter den Bergen?« –

Leises Staunen und gespannte Sehnsucht trat in ihre Augen. Ohne daß sie darum wußte, wendete sie sie fort von Onkel Rhaban.

So behielt Onkel Rhaban nur diesen Blick des Erhöhtseins bei sich, als er an diesem Abend in sein Zimmer ging, und den einer berauschten Freude, die sich in ihm geborgen hatte. – – – – – – – – – – –

 

Am andern Morgen öffnete der alte Joseph, von einer unerklärlichen Unruhe getrieben, sehr leise und früher als gewöhnlich die Tür zum Ankleidezimmer seines Herrn. Seit vierzig Jahren bediente er ihn. Er war mit ihm verwachsen wie ein Glied. Und wie ein Glied spürte er, wenn im Körper etwas nicht völlig stimmte.

Es war ihm sehr unlieb gewesen, daß der gnädige Herr am Abend seine Dienste abgelehnt hatte. »Etwas mit seinem Herzen ist nicht in Ordnung«, sagte der alte Getreue zu sich, wie er wehmütig und sorgenvoll den weißen Kopf schüttelte. »Sein Herz ist sehr aufgeregt heute Abend. Ich merke es an seinen Augen. So habe ich ihn nur einmal gesehen: als die selige gnädige Frau zum ersten Male auf die Burg kamen, und der verstorbene Herr Baron waren auf Reisen und hatten seine spätere gnädige Fräulein Braut noch niemals gesehen!«

Nach diesen Betrachtungen hatte der alte Diener ein Glas mit Tropfen, die vom Arzt für außerordentliche Fälle vorgesehen waren, mit einem bedeutsam bittenden Blick vor seinen Herrn hingestellt.

Onkel Rhaban saß schon vor dem Schreibtisch im Schlafzimmer. Amey hatte diesen profanen Namen mit »die schöne Abgeschiedenheit« übersetzt. Die Schränke, das Bad und Ankleidegegenstände befanden sich im Zimmer nebenan, und das fußlose Empirebett aus einem dunkelroten Holz mit feinen Bronzeverzierungen wirkte nur wie ein erlesenes Dokument der Ruhe in diesem Raum. Er war im Geschmack des Salin de Montfort ausgestattet, der seinerzeit die Umbildung eines Teiles der Würzburger Residenz aus dem Rokoko in den Empirestil übernahm.

In einer Vitrine befanden sich jene so seltsam verinnerlichten Polychromköpfe ägyptischer Kunst des fünfzehnten und vierzehnten vorchristlichen Jahrhunderts. Es waren Originale oder Nachbildungen aus der Epoche des Aechnaton, der früher Amenophis IV. hieß, und die Götter des Niltals entthronte, um den großen Einen: Rah-Heramachis an ihre Stelle zu setzen. Dieser seltsamen Epoche der Vergeistigung auf Grund reifster sinnlicher Erkenntnis und erhöhter Gefühlserlebnisse, mit denen der Ausdruck künstlerischer Vollendung unmittelbar Hand in Hand ging – fühlte Onkel Rhaban sich seltsam verwandt. Die leise Note einer sich vorbereitenden Dekadenz, die jenem Zeitabschnitt und jenem Könige eignete, weckte in ihm die Bewußtheit wehmütig reizvoller Zusammenhänge.

Zwei hohe Bücherborde waren mit den Schriften der Mystiker gefüllt. Ein lebensgroßer Christuskopf aus altem gelblichen Elfenbein mit einem seltsam kühnen Ausdruck der Leidverklärung schaute von der Wand über alles Erdgebundene dorthin, wo Gleichnisse und Symbole fremde Sonnen und Wirklichkeiten wurden. –

Beim ersten Blick schien dieser Christuskopf der einzige Beherrscher der mild umwölkten Zimmerwände. Erst wenn man sich genauer umsah, erblickte man an einer Stelle, die vom Bett Onkel Rhabans wie von seinem Schreibtisch aus in gleich günstigem Sehfelde lag, ein Bild. Es war ein langes, schmales Gemälde in einem kostbaren Rahmen florentinischer Schnitzerei, über deren Gold ein Hauch von Asche gestäubt schien. Das Bild erschien in Farben und Formen seiner Umgebung unveränderlich gliedhaft eingefügt. Es stellte Amey dar, fünfzehnjährig, in dem silbergrauen Pagenanzug.

Der alte Joseph hatte sich sonst keine Gedanken darüber gemacht, wenn sein Herr, nach Vollendung der Nachttoilette, sich noch einmal an den Schreibtisch setzte. Diesmal wollte er sich einen bescheidenen Einspruch erlauben, wie seine vierzigjährige Dienstzeit es ihm wohl gestattete. Aber gerade da hatten der Herr Baron ihm die Hand auf die Schulter gelegt und ihn angesehen. So etwas Fernes und Verklärtes hatten der Herr Baron im Auge gehabt, das ihm jedes Wort verschlug.

Am Morgen, als er, ohne den Glockenruf abwarten zu können, wieder hereintrat, – saß sein Herr, wie er ihn abends verlassen hatte. Sein Gesicht trug noch denselben verklärten Ausdruck. Aber es erschien von dem gleichen elfenbeinernen Weiß, wie das Haupt des Gekreuzigten an der Wand.  – – – – – – – – – – –

 

Amey verlangte, daß man sie allein in Onkel Rhabans Zimmer ließe. – Die alte Ariane stand verstört und sich bekreuzigend vor ihrem Bett. Amey warf einen losen Überwurf über ihr Nachtkleid. Ihr Haar floß gelöst und weich und verschwenderisch.

»Onkel Rhaban!« Sie schien mit diesem Namen zugleich nach etwas Unbegreiflichem zu fragen. Sie bückte sich über ihn, und sie wartete ein wenig. Sank nicht ihr Herz langsam und lautlos?

»Onkel Rhaban!« Ihre Stimme war um noch einen Hauch leiser geworden. – Und wieder wartete sie und fühlte ihr Herz sinken. – Und plötzlich konnte es nicht tiefer mehr sinken. Und Amey hatte begriffen. –

In einer fremden, forschenden Art sah sie die Augen an. Gestern hatten sie sich enthüllt. Heute waren sie verschlossen. Für immer. Von den Augen ging ihr Blick zu dem Mund, mit diesem rätselhaften, erhöhten Lächeln. Da bückte sich Amey, und noch immer mit dem Gefühl, daß ihr Herz ganz aus ihr herausgesunken war, küßte sie zum ersten Mal in ihrem Leben diesen feinen, edlen Mund, dessen Wehmut selbst durch dieses Lächeln nicht ausgelöscht werden konnte. –

Wie sie dann, noch immer in sich hineinstaunend, das elfenbeinblasse, kühle Haupt in die Arme nahm und in den losen Haarmassen an der Wärme ihres bebenden Körpers barg, fielen ihre Augen auf ein Briefblatt. Die Schriftzüge waren klar und in der schwingenden zarten Künstlerschrift, die sie so sehr liebte. Zwei einzige Worte waren geschrieben worden in dieser Nacht. Sie hießen: »Goldne Amey!« – –

 

Wie wunderbar das war! Dieser Karsamstag, an dem sie Godehard Maria Rhabanus, Freiherrn von Hellberg-Arwinde, ehemalig Königlich Hannoverschen Kammerherrn, Erbherrn auf Arwinde, Bandeln, Söderheim, Gulgen, Manestedt und Osterten, Ritter des Kronenordens, des Schwarzen Adlerordens, des St. Georgs-Kreuzes und anderer hohen Orden, zur Ruhe bestatteten! Sein Leibpferd Grane, der sprühende Goldfuchs, schritt langsam und den schmalen Kopf tief gesenkt hinter dem Sarge. Zwölf junge Burschen aus zwölf Hellbergschen Dörfern trugen ihn auf ihren Schultern zu dem schlanksäuligen, griechischen Tempel.

An der Stelle des Parks, wo die Hängeweiden ihre Zweige tief in den See hinabtauchen, stand der Tempel. Die Zypressen, die sich feierlich und dunkel wie Trauergefolge um ihn reihten, waren genau so alt wie er selber. Der Hellberg, der den Grundstein zu der Familiengruft legte, hatte auch die Zypressen gepflanzt. Damals war die stolze Burg noch keine Ruine. Von Kaiser Ludwig dem Frommen, hieß es, demselben, dem die Gottesmutter den Dombau zu Hildesheim auftrug, sei den Hellbergs die Herrschaft Arwinde verliehen worden. Mit dem Wunschberg und drei Nebengütern und vielen Vorwerken, Sägemühlen und Kornmühlen, Wäldern, Wiesen und Äckern.

In den letzten hundertfünfzig Jahren hatten die Hellbergs fast nur noch unter sich geheiratet. Früher holten sie ihre Frauen von weither. Darum waren in der Galerie des Westflügels Wappenschilde und Bildnisse nicht nur des einheimischen Adels, der Stockhausen, Walmoden, Adelebsen, der Busche und Hacke vertreten. Ein kluges, durchgeistigtes Fuggergesicht hob sich ab von der derben, festen, ein wenig nüchternen Schrift märkischer Züge. Und der bizarre Reiz einer kleinen Potocka spottete der kühlen Augen und der hinreißenden Müdigkeit einer York.

Unendliche Vergangenheiten versippter Geschlechter hatten sich mit denen der Hellbergs durchblutet. Viele Meilen im Umkreis waren Jahrhunderte lang mit ihrem Gut und Böse erfüllt worden. Aber alle mußten zuletzt mit einem schmalen Raum zufrieden sein, in einem kleinen, feinen griechischen Tempel. Alle standen sie in schmucklosen Metallsärgen nebeneinander und übereinander, in einem tiefen, modrigen Gewölbe. Schwarze Molche mit apfelsinengelben Flecken schlüpften durch vergitterte Fenster dicht über dem Erdboden aus und ein bei ihnen und breite Kröten mit Edelsteinaugen und den Rücken voller Warzen.

Sie durften sich nicht in den warmen, dunklen Schoß einnisten, der sie hergegeben hatte vor Zeiten. – Nackt und frierend mußten sie stehen. Und einmal hatte ein gräßliches Geschick sich dort ereignet. Irgendeine lange vergessene Not hatte den Toten kein Metall, sondern nur armes Holz für ihre Särge gönnen mögen. Da hatte es nicht lange gedauert, daß jeden Abend ein abscheuliches grünes Licht im Grabgewölbe zu sehen war, bis niemand mehr sich in die Nähe getraute.

Nun hieß Albanus von Hellberg Hexen suchen. Auf dem Marktplatz der Stadt sollte man sie an das Marterhölzlein binden. Es konnte nicht anders angehen, als daß sie die Gruft und die Hellbergs dem Bösen verzollt hatten. Es fanden sich auch schnell genug drei Hexen. Zwei davon waren arme alte dürre Weiblein, die nie ein Übles vollbracht hatten, die fügten sich bitterlich seufzend in ihr elendes Schicksal. Die dritte aber war böse und war jung und sehr schön, und sie wollte nicht sterben. Und da der Rauch und die Flammen über ihren schmalen, nackten und köstlichen Gliedern aufbäumten, verfluchte sie den frommen und harten Herrn Albanus: sein Weib solle ihr gleichen dereinst, und wenn er ihrer genösse, so solle es ihn sengen wie die Flammen ihren armen Leib jetzt sengten. Aber Herr Alban lachte ihres Fluches. – Er führte den Oberpfarrer von St. Aegidi in die Gruft. Um Mitternacht mußte er mit dem Kruzifix neben Herrn Alban stehen. Der hielt das Schwert.

Das grüne Licht wuchs greulich und groß wie ein Mensch, und der geistliche Herr betete mit klappernden Zähnen. Als aber alle Turmuhren in der Stadt Mitternacht ausriefen, gab es einen furchtbaren Knall, und das grüne Licht lief in tausend Flammen und Flämmchen durch die Gruft. Der hochwürdige Herr hätte sich salvieren wollen, aber der Hellberg drückte ihm so ehern die Hand auf die Schulter, daß er in die Knie brach und im kalten Schrecken den Geist aufgab.

Die Gruft war am Morgen dunkel. Die hölzernen Särge lagen in faulen Stücken, und Schädel und Gliedmaßen greulich verstreut. Der Hellberg hieß einen festen eisernen Kasten machen und sie alle hineinsammeln. Groß und Klein, Männlein und Weiblein. Sie mußten zusehen, wie sie am Gerichtstag ihr armes Gebein auseinanderfanden. Später vermählte er sich mit Yolanthe, von der die Leute in der Stadt sagten, sie gliche der jungen Hexe auf ein Haar, und deren Wappen zerschnitten wurde. –

»Hier?« erschrak Amey plötzlich. »Hier hinein wollen sie Onkel Rhaban bringen?« Warum sollte er nicht auf dem grünen Friedhof liegen, unten im Dorf, wo diese kleine graue Kirche wie eine gute Henne über ihren Kindern hütete? Wo die Bienen im Sommer in den Kuppeln der Linden brausten, und wo alles weiß und rot sein würde von Narzissen und Zentifolien und den zarten gebrochenen Herzen mit der tropfenden Träne?

Und plötzlich, wie sie eben rufen wollte: »Nein – nicht hier!« – sah sie wieder alle die nackten, armen Metallsärge da unten stehn und frieren und sich aneinanderdrängen. »Wir gehören zusammen«, sagte plötzlich etwas in Amey und wurde still und groß. »Wir müssen zusammenhalten im Höchsten wie im Tiefsten. Wir dürfen keine eigenen Wege suchen, voll Sonnenflecken und warmer kleiner Lieblichkeiten. Wir sind verklammert ineinander in Blut und Seele und Böse und Gut.«

Da stand sie wieder unbeweglich. Wie eine wehmütig schmale, geheimnisvolle Kostbarkeit in ihren schwarzen, schleppenden Kleidern und Schleiern.

Ellenhohe, mit schwarzem Flor umwundene Kerzen brannten zu beiden Seiten des Katafalks, der mit schwarzem Sammet verhängt war. Viele tausend Nadeln hatten vor Jahrhunderten mit silbernen Fäden springende Elche hineingenäht, das Wappen der Hellbergs.

Der schmale Zinnsarg war überschüttet mit Maiblumen, die den laulich süßen und müden Duft der Warmhäuser in diese strenge, kühle Totenhalle hineintrugen. Aber vor dem Tempel brauste der Frühlingssturm, und ein wunderlich starker und aufreizender Geruch wie von jungen Menschenleibern war um den Tempel her. Der kam von dem grünen Bast der Weidenzweige.

Pfarrer Bruns gab seinem Freunde die Geleitworte, da jener die geheimnisvolle Pforte durchschritt.

»Wie gut, daß wir ihn hier haben, Onkel Rhaban,« redete etwas in Amey, »jemanden, der viel zu viel Ehrfurcht hat, um die letzten Geheimnisse mit menschlichen Begriffen zu betasten! Unser lieber, vorzüglicher Ackermann, er meint es so herzlich gut,« ein kleines mütterlich wissendes Lächeln ging um ihren Mund, – »aber er kennt sich im Jenseits soviel besser aus, als wir in unseren täglichen Zimmern. Heute wäre es nicht am Platze gewesen. Wirklich nicht.«

Der Oberhofmarschall, der zur Beisetzung von weither gereist gekommen war, konnte sich nicht lange aufhalten. Er sagte: diensthalber. Der Grund war, daß er mit seiner Frau verflossenen Winter, bei Gelegenheit eines Besuches, Auseinandersetzungen über Amey gehabt hatte.

Amey war vollkommen ahnungslos. Sie dankte dem Onkel Oberhofmarschall abwesend und dennoch mit einem Schein dieses Lächelns, das selbst der Schmerz um ihren Toten nicht völlig auszulöschen vermochte.

»Alberta, die gute, hat nicht ganz unrecht,« dachte der Oberhofmarschall reuevoll, »selbst in Trauerkleidern . . . gewissermaßen . . .« Der Satz, der das »gewissermaßen« einleitete, schien sich zu einem grammatikalischen Monstrum ausbilden zu wollen. Der alte Herr, von dem beschleunigten Tempo des Blutumlaufs unter seiner Trauerweste eigentümlich bedrängt, hielt die Hand Ameys wie ein zerbrechliches Porzellan.

Der Oberlandesjägermeister mußte durchaus noch an demselben Abend zurück. Der Auerhahn und die Schnepfe waren im Anzuge bei seinem Freunde Maltzahn. Und Rhaban – ja – es hieß nun doch wohl der »selige« Rhaban? Wenngleich bei diesen verrückten, um nicht zu sagen – gottlosen Ideen . . . Nun – er stand jetzt vor seinem Richter. Und Amey . . . Übrigens hatte Tante Alwine sich ja als Ehrendrache angeboten. Und natürlich hatten Hellbergs ihren Rechtsanwalt in der Stadt. Und Kammerherr Rieß, jawohl, Leopold Rieß lebte doch auch noch, und die alte Hacke mit ihren drei Töchtern und Asseburgs. Er hatte sie bei der Beerdigung alle gesehen. –

Philipp Marschall und Herr von Walmoden baten, Amey die ersten Unbequemlichkeiten abnehmen zu dürfen. Amey hatte im Augenblick nicht begriffen, weshalb Tante Alwine mit den vielen haushohen Koffern und der gestickten Handtasche angetreten war. »Natürlich sind die jungen Männer ganz scharmant, liebe Amey« . . . Ja, so. – Amey hatte mit einem kleinen, blassen Lächeln der alten Dame höflich recht gegeben.

Als von den jungen Männern dann wirklich alles getan war und Tante Alwine eines Tages die Absicht äußerte, den Wunschberg zu besuchen, nahm Amey ihren Vetter und Guntram Walmoden beiseite. »So vielen, vielen Dank für alles.« – Und jedes Wort dieser dunklen zärtlichen Stimme erschien den beiden wie ein unersetzliches Kleinod. Aber nachher sagte Amey doch, wie untröstlich sie wäre, gegen die Gastfreundschaft vorläufig sündigen zu müssen . . . Und außerdem ein Mittel müßte erfunden werden, gleichviel welcher Art, aber auch Tante Alwine . . . ein Trauerhaus biete doch wenig Unterhaltung . . .

Die beiden küßten Amey die Hände und sahen sie an. Sie gelobten Amey alles, was sie verlangte. Und ehe Tante Alwine die Sachlage nur im entferntesten erahnt hätte, war sie von zwei überaus höflichen und rücksichtsvollen jungen Männern mit all ihren Koffern und der gestickten Handtasche bereits in den Berliner D-Zug gesetzt worden. – –

 


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