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Ein Überfall der Justiz

Der Wiener Appellsenat genießt einen Weltruf. Denn seine Methode, schlechte bezirksgerichtliche Entscheidungen zu bestätigen und vernünftige abzuändern, ist unfehlbar. Aber es gehört kein Mut zur Dummheit, wenn viere über einen kommen. Da hat am 25. Mai der Vorstand des Bezirksgerichts Josefstadt, Landgerichtsrat v. Heidt, wegen Beleidigung des Herausgebers der ›Fackel‹ den Leiter des Cabarets »Nachtlicht«, Herrn Achille Vaucheret, genannt Henry, zu einer einmonatigen Arreststrafe und seine Freundin Marie Biller, genannt Delvard, zu einer Geldstrafe von 300 Kronen verurteilt. Er hat zu solcher Strafbemessung nicht erst der Erinnerung an jenen Ministerialerlaß bedurft, der auf Verhängung von Arreststrafen in Fällen schwerer Ehrverletzung dringt. Er überblickte die ungeheuerliche Situation, in der sich ein Schriftsteller dem artistischen Leiter eines Champagnergeschäftes gegenüber befindet, der ihn wegen einer kritischen Bemerkung angefallen hat und sich dann öffentlich und um dem Geschäft die Preßgunst zu sichern, der Faustschläge, aber nicht der antisemitischen Beschimpfungen rühmt, mit denen er den Schriftsteller regaliert hat. Er mag auch die Situationen erwogen haben, die erst herbeigeführt würden, wenn sich der Überfall auf einen verhaßten Publizisten mit einer Geldstrafe begleichen ließe. Nicht nur daß mancher Rowdy einen Kapitalisten fände, der in seiner Freude über die Verprügelung des Störers der Wiener Gemütlichkeit gern ein paar Hunderter »springen ließe«; vielleicht fände auch manch ein Kapitalist einen Rowdy, der die Arbeit zur Zufriedenheit des Auftraggebers ausführte. »Sitzredakteure« sind für solche Fälle schwieriger aufzutreiben, aber »Verantwortliche«, denen die Strafsumme vom Unternehmer bezahlt wird, gibt es in Fülle. Herr Vaucheret selbst hatte sich, wie gerichtlich festgestellt ist, vorher nach der Höhe der zu gewärtigenden Geldstrafe erkundigt und seine Geneigtheit, sich's eventuell tausend Kronen kosten zu lassen, gesprächsweise kundgegeben. Hatte der Erstrichter zudem jenen Paragraphen im Auge, der ihm ausdrücklich die Berücksichtigung der angegriffenen Person vorschreibt, so war es klar, daß hier dem Sinn der Strafe erst durch die Statuierung eines Exempels Genüge geschehen konnte. Bei einem Wirtshauskonflikt zweier Privatleute mag die Buße das Äquivalent der Tat bedeuten. Ward einem Schriftsteller die Ausübung seines kritischen Berufs brachial vergolten, so soll die Strafe perspektivisch auch als Schutz gegen künftige Möglichkeiten physischer Vergewaltigung aufgefaßt, sollen dem Täter gegenüber die Vorstrafe eines andern, der ähnlich gehandelt hat, und die Neigung anderer, dem Beispiel zu folgen, als erschwerend angenommen werden. Die Tat könnte ein Beispiel sein, also sei die Strafe ein Exempel. Bedenkt man schließlich, daß noch kein Raufer mit einer Tat, die er vor Gericht demütig mit Trunkenheit entschuldigt, in ähnlich berechnender Weise vor der Öffentlichkeit von hundert Zeitungen geprunkt hat, wie jener Herr Vaucheret, so muß man die von der ersten Instanz bemessene Strafe gerecht, wenn nicht milde finden, so drakonisch sie vom Gesichtspunkt einer schlechten Praxis – nicht des Gesetzes, das bis zu sechs Monaten geht – erscheinen mag.

Am 7. September hatte ich endlich das Vergnügen, eine Verhandlung vor dem Wiener Appellsenat aus eigener Anschauung kennen zu lernen. Ich bedaure es nicht. Möchte im Gegenteil wünschen, daß auch einmal der Justizminister, der ja, einem dunklen Gerücht zufolge, ein »moderner Mensch« sein soll, sich die Herrschaften ansehe. Beileibe nicht, um die Unabhängigkeit ihrer Gedankenarmut anzutasten! Aber das Menschenmaterial sollte er kennen lernen, das in Österreich für das Strafrichteramt herangezogen wird. Schon die Verlesung des Referats durch einen Landesgerichtsrat, der jeden französischen Eigennamen als Verkehrshindernis empfindet, ist aufschlußreich. Und diese Physiognomien! Was nützen in solchem Milieu alle modernen Erlässe der Justizverwaltung! Der Pissoirgeruch des Wiener Landesgerichts dringt durch die Tünche, mit der es kürzlich renoviert wurde. Als ich diese Richter sah, wußte ich sofort: Hier wird dem Angeklagten Trunkenheit als wesentlich mildernder Umstand zugebilligt! Ja, auf diesen Gesichtern lag volles Verständnis für das wichtigste Argument der Verteidigung. Übrigens eine ziemlich verbreitete Erscheinung unter österreichischen Richtern. Ein böhmisches Kreisgericht hat einst einen Menschen, der wegen boshafter Sachbeschädigung angeklagt war – er hatte die Einrichtung des Wirtshauses, in dem er zehn Minuten auf das Bier warten mußte, demoliert –, als mildernden Umstand »die begreifliche Aufregung des Angeklagten« zugebilligt. Und im Prozeß Rutthofer wurde neulich der Münchener Psychiater scharf ins Gebet genommen, weil er den getöteten Herrn Landesrat wegen eines täglichen Liters Wein als »Alkoholiker« zu bezeichnen wagte. Im allgemeinen macht man die Erfahrung, daß die österreichische Justiz den Geschlechtsverkehr für ein belastendes, Trunksucht für ein entlastendes Moment ansieht. Wer sich hierzulande Mut zu einer Gemeinheit antrinkt, findet mehr Entgegenkommen bei Gericht, als einer, der den Mut schon hat. Auch wer im Rausch eine größere Gemeinheit begeht, als er nüchtern geplant hat. Er versetzt sich in einen Zustand, in dem er für sein Tun nicht verantwortlich ist, sollte also schwerere Verantwortung tragen. Aber die Justiz straft ihn nicht für seine Verwandlung, sondern entschuldigt sein Tun. Wer Hemmungen ausschaltet und dann zufällig eine Straftat begeht, müßte den Zustand so verantworten, wie die Tat. Wer Hemmungen ausschaltet, um eine Straftat zu begehen, müßte ihn schwerer verantworten. Es ist geistlos, mit Trunkenheit eine Tat zu exkulpieren, aber es ist die ausgemachteste Justiztorheit, mit ihr auch einen Plan zu tilgen. Und in beiden Fällen ist es verfehlt, »Volltrunkenheit« nachsichtiger zu behandeln als »Angetrunkenheit«. Denn weil es unverantwortlich ist, sich unverantwortlich zu machen, müßte es verantwortet werden. Der Einzelrichter des Prozesses Henry, der offenbar von der Meinung ausging, daß Besoffenheit kein besonderes Verdienst sei, wurde von dem Bierrichtersenat des Landesgerichts eines Bessern belehrt. Dieser sprach dem Angeklagten das Verdienst, das ihm die Zeugen bestritten hatten, ohne weiters zu. Zwar hatte sich Herr Vaucheret ein paar Stunden nach der Tat aller Details erinnert und konnte sie jedem Reporter, der da gelaufen kam, aufzählen; hatte seine Heldenleistung in Interviews des Lippowitzblattes – die Schere putzt das Nachtlicht – besingen lassen und sich bei reichsdeutschen Blättern, die sie nachdruckten, später bedankt. Immerhin machte ihn schon die Ausrede der Trunkenheit dem Appellsenat sympathisch. Und so kam es, daß dieser enunzierte, der erste Richter habe »die hochgradige Aufregung infolge übermäßigen Alkoholgenusses nicht genügend gewürdigt«. Der erste Richter hatte bloß die Zeugen gehört, die aussagten, Herr Vaucheret sei nicht betrunken gewesen. Der Appellsenat hörte den Angeklagten, der ein anheimelndes Zugeständnis machte. Der erste Richter schöpfte sein Urteil aus dem Verhör der Tatzeugen, aus fast unmittelbarer Anschauung der Situation. Der Appellsenat stößt das Urteil um, weil ihm der Angeklagte nach fünf Monaten sagt, es sei doch anders gewesen. Man sieht, wie notwendig die »Überprüfung« des erstrichterlichen Urteils durch einen Appellsenat ist. Aber so eine zweite Instanz ist auch erfinderisch. Warum Herr Henry statt eines Monats 600 Kronen Geldstrafe bekommen mußte, war klargestellt. Wie aber sollte die Umwandlung der 300 Kronen des Fräuleins Delvard in 150 motiviert werden? Keine ihrer Beschimpfungen war in Abrede gestellt worden. Da überraschte der Appellsenat den Verteidiger mit der Entdeckung, das Wort »Pest« sei nicht erwiesen worden. Aber da die Dame nicht wegen eines Wortes, sondern wegen eines Satzes geklagt war, so muß sie in jener Nacht offenbar den Ausruf getan haben: »Wien würde mir danken, wenn ich es von dieser ... befreite.« Die Pest als die gefährlichste Krankheit schien dem Appellsenat immerhin 150 Kronen wert, also genau soviel, wie alle anderen Beschimpfungen und Tätlichkeiten zusammen ... Ei nun – ein Überfall der Justiz, durch den sie sich wenigstens die Zufriedenheit des ›Neuen Wiener Journals‹ erworben hat.


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