Karl Kraus
Glossen bis 1914
Karl Kraus

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Aus dem dunkelsten Österreich

»Hotelier Sukfüll führte aus, ... der Gast bestehe vor allem darauf, dem Personal, das ihn bedient, nach seinem Belieben Trinkgeld zu geben. Auch die Angestellten seien mit dem System der Prozente nicht zufrieden. Der Gast, der in Österreich ein Hotel aufsuche, sei gewohnt, individuell bedient zu werden. In vielen Betrieben Österreichs suchen die Gäste die Kellner durch ein Trinkgeld im vorhinein für sich zu gewinnen. Der Landesverband für Fremdenverkehr möge die Frage ruhig den Hoteliers überlassen.«

Wie wahr, wie wahr! Wenn der Österreicher von der Mutterbrust wegkommt und ins Leben hinaustritt, setzt er seinen eigenen Kopf auf. Er läßt sich seine Freiheit nicht nehmen. Er besteht darauf, dem Personal Trinkgeld zu geben. Wenn ihm wer in den Arm fallen will, wird er schiech. Auch will er kein Herdentier nicht sein, sondern im Hotel sofort als Individualität, die er ist, durchschaut, anerkannt und darnach behandelt werden bitte. Um vom Kellner richtig bedient zu werden, bedient er zuerst den Kellner. Er lebt, um Kellner für sich zu gewinnen. Er hat überhaupt keinen andern Daseinszweck, wenn es ihm zufällig versagt ist, selber ein Kellner zu werden. Er ist es von Natur, aber er verfehlt zuweilen seinen Beruf und wird Gast. Das erste, was er tut, wenn er ins Hotel kommt, ist: er sucht den Kellner zu beeinflussen. Hat er ihn auf seine Seite gebracht, ist es ihm gelungen, ihn durch ein Trinkgeld zur Annahme eines Trinkgeldes zu bewegen, das er dann aber auch nach Belieben verabreichen will, und hat er es sohin erreicht, als Individualität gewürdigt zu werden – so hat er ein Recht, an den Kellner, der ihm die Speisekarte hinhält, die Frage zu richten: »Was können Sie mir empfehlen?« Sagt der Kellner: »Was auf der Karte steht«, so wird der Gast lebensüberdrüssig, denn er erkennt, daß der Kellner ihn für einen von den vielen hält, für einen, der bloß essen will und weiter nix. Essen, ohne zu hören, was es Neues gibt. Manchmal kommt es dann vor, daß der Gast den Kellner barsch zur Anerkennung seiner Individualität zwingt, indem er ihn anschreit: »Was stehn S' denn da und empfehlen S' nicht?« Empfiehlt der Kellner und hat der Gast eine Dame neben sich, so hat die Empfehlung zu lauten: »Laßt sich die Dame ein schönes Schnitzerl machen oder ein Ramsteckerl oder vielleicht ein Ganserl die Dame!« Der Beisatz »die Dame« ist nichts weiter als eine Zuspeis' der individuellen Behandlung, die sich auch auf die Dame erstreckt. Die Empfehlung hat vor der toten Karte entschieden das eine voraus, daß dischkuriert wird und zwar sowohl vorher wie nachher. Denn was auf der Karte steht, ist nicht mehr da und wird vor den Augen des Gastes einfach gestrichen, während nach der Empfehlung der Kellner in die Küche geht und erst viel später und mit dem ausdrücklichen Bedauern, nicht mehr dienen zu können, zurückkommt. Hat ein Gast es solcher Art in Wien durchgesetzt, als Individualität anerkannt zu werden, so kann er unter Umständen sogar Hotelier werden. Der Hotelier ist der höchste Vorgesetzte des Gastes. Vom Hotelier gegrüßt zu werden, ist eine Annehmlichkeit, der zuliebe der Österreicher überhaupt ins Gasthaus geht. Vom Hotelier gekannt zu werden, ist eine Ehre, die nicht jedermann zuteil wird. Aber vom Hotelier angesprochen zu werden, ist die höchste Entschädigung, die einem für den Ärger über einen Schlangenfraß zuteil werden kann und dafür, daß man einen Kellner, der einen weder individuell noch anders bedienen will, durch kein Trinkgeld für sich gewinnen kann. Wer von uns, die wir einen Namen haben und deshalb im Gasthaus nicht unbeachtet bleiben, hat es nicht schon erlebt: man sitzt da, verlassen und verkauft, verwünscht diese niederträchtige österreichische Romantik der Lebensmittel, sehnt sich zu den Hottentotten oder nach Berlin, also dorthin, wo der Wiener infolge Bequemlichkeit »Abfütterungsanstalten« vermutet, möchte mit Tellern werfen und mit Messern stechen, kann es aber nicht, weil man gerade im Stadium der Auflösung ist – da beugt sich ein käsweißer Mann über dich, ein Todesengel namens Zeppenzauer, und spricht, mählich lebhafter werdend, die Worte: »Das Wetter scheint sich nach der letzten mineralogischen Diagnose zu klären und dürfte auch wieder der Zuspruch ein regerer werden, waren gewiß verreist, schon recht, ja jeder hat heutzutage zu tun, man merkts überall im Gewerbestand, die Einflüsse von der letzten Entspannung, ein Doktor, auch von der Zeitung, was im Ministerium die rechte Hand is, hat selbst gesagt, mirkwirdig, hm, aber mir scheint, heute keinen rechten Appetit, grad heut, schade, das Vordere, alle Herren loben sichs, nun dafür das nächste Mal ein Protektionsportionderl von der Zeppezatierschnitte – Poldl abservieren, schlaft wieder der Mistbub, also djehre djehre – »

Das hätte ich nicht erfinden können

[Ein vierfacher Wagenzusammenstoß.] Durch die Unvorsichtigkeit eines Kutschers wurde gestern nachmittag auf dem Franz Josefskai der Zusammenstoß von vier Wagen verursacht. Gegen 3/4 6 Uhr abends stand ein Fiaker, den der Kutscher Oskar Schner lenkte, vor dem Café Residenz auf dem Franz Josefskai 31. Der bei der Internationalen Transportgesellschaft bedienstete Kutscher Franz Ertel kam mit seinem zweispännigen, mit Kisten beladenen Wagen vom Morzinplatz auf den Kai und wollte ordnungswidrig die Kurve schneiden. Er fuhr an den Fiaker derart heftig an, daß der Türschlag beschädigt wurde. Als nun die beiden Wagen aneinandergefahren waren, war die Straße verlegt, und der Kutscher Georg Erschinger wollte, als er von der Marienbrücke mit seinem zweispännigen Paketwagen der Poststation Simmering, Am Kanal Nr. 527, gegen den Morzinplatz fuhr, den beiden Wagen ausweichen. Er fuhr aber bei dem Versuch an einen entgegenkommenden Straßenbahnwagen der Linie »EK« an. Durch den Zusammenstoß wurde Erschinger vom Bocke geschleudert. Er blieb zum Glücke unverletzt. An dem Motorwagen wurde die Vorderwand eingedrückt. Ertel ist an dem doppelten Unfalle schuldtragend. Die Strafamtshandlung ist eingeleitet.

Das hätte ich nicht erfinden können. Es ist ein Stück Wiener Natur, gesehen durch das Temperament eines Weltblattes. Es ist die endgiltige Plastik des hiesigen Daseins, das vor seiner Unabänderlichkeit zum dasigen Hiersein zwingt. Nicht, daß sie zusammenstoßen müssen, wenn hier vier Wagen fahren, und nicht, daß was hier geschieht, auch in seiner Unmittelbarkeit gesehen wird, sondern die Identität des Geschehens und Sehens schafft das Bild dieser Welt. Es ist so: auf der Straße des Wiener Lebens hat jeweils nur eine Individualität Platz: der Kutscher Oskar Schner oder der Kutscher Franz Ertel oder der Kutscher Franz Erschinger oder der Straßenbahnwagen, der auch eine Individualität ist, denn wenn man auch nicht weiß, wie der Motorführer heißt, so heißt jener doch »EK«. Nur eine Individualität hat Raum, Will sich ausleben, gesehen werden. Nun geschieht es aber, daß der Kutscher Oskar Schner um 3/4 6 Uhr abends auf dem Franz-Josefs-Kai steht. Aber wo? Bei Nr. 31. Was befindet sich dort? Das Café Residenz, das unter der bewährten Leitung steht. Wir würden uns gern dabei aufhalten, aber es handelt sich jetzt nicht um den Cafetier, sondern um den Kutscher. Er steht da. Vor dem Café Residenz, welches sich auf dem Franz-Josefs-Kai 31 befindet. Das ist klargestellt. Da kommt nun der Kutscher Franz Ertel, der bei der Internationalen Transportgesellschaft bedienstet ist – für Details ist keine Zeit – mit seinem zweispännigen, mit Kisten beladenen Wagen. Von wo? Vom Morzinplatz. Wohin? Auf den Kai. Und fährt den Fiaker, eines der gediegensten Zeugeln, heftig an, so daß. Nachdem nun einmal der Türschlag beschädigt ist, bleibt die Straße verlegt. Der Ausblick war schon durch die riesenhafte Erscheinung des Kutschers Oskar Schner gesperrt, jetzt ist es auch der Verkehr, der sich bis dahin doch mühsam durchquetschen konnte. Wenn man nur wüßte, wie der Wachmann heißt, der nicht da ist! Dafür ist plötzlich der Kutscher Georg Erschinger da. Sehen wir uns einstweilen den Kutscher Georg Erschinger an, von wannen er kam und wohin er fahren wollte. Er kam von der Marienbrücke mit seinem zweispännigen Paketwagen der Poststation Simmering, Am Kanal Nr. 527, und fuhr gegen den Morzinplatz. Ja, was will denn der da? Das ist ja ein dritter! Wir möchten uns vor Zerstreuung bewahren, aber er ist nun einmal hier und zieht uns in seinen Bannkreis. Er wollte ausweichen, wollte sich unserer Beachtung entziehen, aber wenn eine Individualität ausweichen will, stößt sie bei dem Versuch unfehlbar an einen entgegenkommenden Straßenbahnwagen der Linie »EK« an. Das verwirrt vollends. Das hat uns noch gefehlt! Durch den Zusammenstoß wurde Erschinger vom Bocke geschleudert. Das ist bedauerlich, er blieb aber gewiß in der Luft hängen, wie auf einem Bild von Schönpflug, von dem ja dieser ganze Zusammenstoß und dieses ganze Wiener Leben überhaupt ist. Er blieb zum Glücke unverletzt. Zum Glücke: da klingt das goldene Wiener Herz! Aber es kann ja auch nicht anders sein; was vom Schönpflug kommt, fällt nicht auf die Erde. Was geht, steht; was steht, fällt. Das sind Gefahren. Aber – zum Glücke – was fällt, hängt; was hängt, steht; was steht, bleibt; was bleibt, ist ein Dreck. Also eine Individualität. Drei waren zuviel. Man soll das Schicksal nicht versuchen. Es kann einmal schief gehen. Seien wir froh, wenn nur das geschieht, was ich nicht hätte erfinden können.

Falsch verbunden

»Eine interessante Statistik über die Verteilung der Telephonanschlüsse in der ganzen Welt wird von der Zeitschrift La Lumiere electrique veröffentlicht. ... Unter den europäischen Ländern steht an erster Stelle Dänemark mit 107 153 Apparaten bei 2 589 000 Einwohnern: es besitzt demnach jeder 24. Däne einen Telephonanschluß. Den zweiten und dritten Platz nehmen Schweden und Norwegen ein. Es kommt dann die Schweiz mit einem Telephonanschluß auf 41 Personen. Weiter folgt Deutschland mit 1 154 518 Telephonanschlüssen, so daß auf 56 Personen ein Apparat kommt. Hinter Deutschland kommen England, Luxemburg, Island und Holland. Den zehnten Platz erst behauptet Frankreich, wo man nur 260 998 Telephonanschlüsse zählt, so daß auf je 150 Franzosen ein Apparat kommt. An den letzten Stellen stehen Bulgarien, Griechenland und Bosnien, wo je 1500 – 2000 Einwohner nur über einen einzigen telephonischen Apparat verfügen können... .«

Es wird ja nicht schöner in der Welt sein, wenn auf jeden Menschen ein Apparat kommen wird. Aber da es der Weg ist, muß er gegangen werden. Österreich dürfte in der Statistik garnicht vorkommen. Mit Recht, weil es hier überhaupt keine Telephonanschlüsse gibt. Das österreichische Telephon spielt nur in der älteren satirischen Literatur eine Rolle; selbst die Witze, die man darüber machen kann, sind veraltet. Nichts liegt mir ferner als Polemik. Ich lebe still und harmlos, hin und wieder ruft mich die brasilianische Gesandtschaft an, weil sie mit der portugiesischen sprechen will. Ach, die einzigen Verbindungen, die ich noch mit der Außenwelt habe, sind die falschen!

Wie ich einen Hotelportier dazu brachte, über die Unzulänglichkeit des menschlichen Wissens nachzudenken

»Hat der Zug der Tauernbahn, der hier in Salzburg nachts ankommt, Schlafwagen?« »Nein.« »Sie, Ich erinnere mich gelesen zu haben, daß er Schlafwagen hat.« »Woher denn!« »Bitte sehen Sie doch vorsichtshalber im Fahrplan nach.« »Herr, wenn ich sage, er hat keinen Schlafwagen –« »So hat er vielleicht doch einen!« »Herr, er hat keinen! Dazu bin ich da! Wenn unsereins das nicht wissen sollt!« – – –

»Sie Portier, denken Sie sich, gestern nacht ist jemand mit der Tauernbahn im Schlafwagen hier angekommen!« »Im Schlafwagen? Der Zug hat sein Lebtag kein' Schlafwagen!« »Woher wissen Sie das eigentlich?« »Weil i ihn selbst gseh'n hab.« »Wen? Den Schlafwagen?« »Na! Den Zug!« »Aber ich hab den Schlafwagen gesehn!« »Was S' net sagen! Is möglich?« »Ja!« »Mirkwirdig, sehn S', auf die Fahrplän'; is kein Verlaß!« »Es ist aber doch so.« »Das ist mir neu!« »Hat Schlafwagen!« »Nicht möglich!« »Doch doch, und Sie haben gestern fest und steif behauptet –« »Weil i's g'wußt hab'.« »Und was sagen Sie jetzt?« »I sag', daß auf die Fahrplän' kein Verlaß is.« »Auf die Fahrpläne? Sie haben doch selbst den Zug gesehn und keinen Schlafwagen bemerkt?« »Ja, bei der Nacht kann so etwas leicht passieren!« »Schlafwagen verkehren doch nur bei der Nacht?« »Aber grad da is finster, an Speisewagen erkenn i!« »Was steht im Fahrplan?« »Im Fahrplan steht nix.« »Woher wissen Sie das?« »Weil i's selbst net hab' glauben wollen und nachg'schaut hab'.« »Bei Tag?« »Bitte, hier ist der Fahrplan – dös wer' mer glei hab'n –!« »– Nun?« »Vielleicht überzeugt sich der Herr selbst?« »Gut, ich werd's Ihnen aufschlagen – Nun, was steht da?« »Nix steht da von an Schlafwagen, sehn S'?« »Ja natürlich seh ich, hier steht: Schlafwagen Triest-Stuttgart.« »Wo.« »Do!« »Wirkli wahr, i hab nur unten g'schaut, unten steht nix bei Salzburg.« »Aber oben steht es, sehn Sie?« »Unbegreiflich! Jetzt hab glaubt, im Fahrplan steht nix von an Schlafwagen, daweil stehts do! I sag's ja, auf die Fahrplän' is kein Verlaß! – « »Worüber denken Sie denn nach?« »Jetzt waß i selber net, hot er an Schlafwagen oder hot er kan?« »Er hot an!« »Ja, wenn S' glauben –«

(Kopfschüttelnd ab in die Loge.)


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