Karl Kraus
Glossen bis 1914
Karl Kraus

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Der Rückwärtige

»Die Wachleute mußten sich an den Händen nehmen, um, eingekeilt in die vorne und rückwärts andrängen Menge...«

Wie war das also? Wenn die Menge vorne andrängt, so drängt sie ja eben rückwärts, und die Wachleute sind dann nicht eingekeilt. Schlimm ist die Situation nur dann, wenn die Menge vorne und hinten andrängt, denn die Menge, die vorne andrängt, drängt rückwärts, und die Menge, die hinten andränge, drängt vorwärts. Man müßte also, um das auszudrücken, entweder schreiben, daß die Menge vorne und hinten, oder daß sie rückwärts und vorwärts angedrängt habe. Aber das wäre nicht österreichisch. Deutsch ist, daß man vorne und hinten steht, nach vorne und nach hinten geht oder vorwärts und rückwärts. In Österreich steht man zwar vorne, aber nur rückwärts, nicht hinten, und geht »nach« vorwärts und »nach« rückwärts. Ich habe schon einmal erklärt, wieso das kommt. Der Österreicher fühlt sich beim Wort »hinten« so sehr ertappt, daß er die größten sprachlogischen Opfer bringt, um es zu vermeiden. Er setzt für das zuständliche Adverb das Richtungswort, ergänzt es dort, wo es wirklich die Richtung bezeichnen soll, durch das tautologisch »nach« und erfindet eigens das schöne Adjektiv »rückwärtig«. Alles das, weil er sich bei jeder nur möglichen Gelegenheit an den Rückwärtigen erinnert fühlt.

Die Volkszählung

hat ergeben, daß Wien 2,030.834 Einwohner hat. Nämlich 2,030.833 Seelen und mich.

»Entführung eines Autotaxi«

Wie herzig das klingt. Und nie noch ist eine notwendiger gewesen als diese:

Ein eigenartiger Diebstahl ereignete sich heute in der Hegelgasse. Der Chauffeur des Mietautomobils A II 681 wollte in dem an der Ecke der Schwarzenbergstraße und der Hegelgasse befindlichen Kaffeehaus eine Schale Tee trinken. Er stellte den Motor seines Wagens ab, ließ den Wagen ohne Aufsicht stehen und ging in das Lokal. Wenige Minuten später kurbelte ein fremder Mann den Motor an und fuhr, bevor er daran gehindert werden konnte, gegen den Ring zu in raschem Tempo davon. Der Chauffeur machte sofort die polizeiliche Anzeige.

Der Dieb, ein Freund des Fortschritts, auf der Stelle bereit, diesen gegen die Ansprüche der seßhaften Wiener Chauffeure zu verteidigen, hat etwas getan, was ihm in diesen langsamen Zeiten hoch angerechnet werden muß. Er fand den typischen Anblick der Automobildroschke mit der vorgesteckten Bestelltafel unerträglich. Er erkannte blitzartig, daß ein Automobil nicht so sehr dazu diene, den Chauffeur ins Beisel, als den Passagier ans Ziel zu bringen. Er für seine Person hätte vielleicht warten können, bis das Schalerl geleert war. Aber er entschied die Angelegenheit rein prinzipiell. Er wartete nicht einmal ab, bis der Wasserer, der Türlaufmacher, der Grüßer und die andern Funktionäre herbeigeeilt waren, die der Wiener Fortschritt aus dem tierischen Betrieb so komplett herübergerettet hat, daß stündlich die Rückbildung des Chauffeurs in den Fiaker zu erwarten ist. Er wollte von nichts wissen, sah nichts, hörte nichts, überlegte nicht, ob es ein billiger oder teurer Wagen sei, einer, dem ein oder zwei Pferde fehlen, besann keines der Wiener Probleme: ob man sich schon an der Grundtaxe ruinieren solle oder erst später, von welcher Gesellschaft der Wagen sei, ob Zick kostspieliger als Watt, rote Fahne gefährlicher als gelbes Rad, und ob der Taxameter deshalb eine ungerade Ziffer zeige, weil man fünf Heller sich weder zurückgeben lassen noch geben kann und somit gezwungen ist, mehr zu geben. Vielleicht zog all dies an seinem Geiste vorüber, er gedachte der Vielen, die da im Leben standen, rasch an ihr Tagwerk gelangen wollten und an dem Widerstand der Chauffeure, die Zeit haben, verbluten mußten, und er beschloß, der Qual ein Ende zu machen, ehe sie begonnen war. Vielleicht auch fiel ihm ein: Der Kerl wird doch einmal herauskommen, aber dann, wenns losgeht, überfährt er mir den Wachmann an der Ecke, der den Straßenverkehr zu regeln hat. Und waren es auch nicht Gedanken, wars nur die Vision von Hindernissen und Gefahren, die ihm das Stilleben dieses verlassenen Autotaxi bot, es riß ihn hin, er kurbelte an, schwang sich empor und ward nicht mehr gesehn. Ein Fahrzeug dient zum Fortkommen, sagte er zu seiner Rechtfertigung. Und weil es ein Automobil ist, kann es sich auch ohne Chauffeur weiter bewegen. Und schneller. Eine Sonderauffassung, die meinen Beifall hat. Nur möchte ich finden, daß dem Verkehr noch besser durch die Entführung der Chauffeure gedient wäre. Denn wenn sie ohne Automobil zurückbleiben und auf dem Trottoir herumstehen, haben wir erst recht nichts vom Fortschritt. Das einzige, was sie »sofort« machen können, ist die polizeiliche Anzeige, und selbst die bringt uns nicht weiter. Wie dem immer sei, nie ist ein Diebstahl organischer aus den bestehenden sozialen Verhältnissen hervorgegangen. Hier ist ein Langfinger auf eine offene Wunde gelegt worden. Mit moralischem Nasenrümpfen wird man dem Mutigen nicht beikommen. Alle Werke des Fortschritts wären ungetan geblieben, wenn die Welt gewartet hätte, bis die Chauffeure ausgetrunken haben.

Der Hosenrock

ist mir nicht angenehm. Er markiert das Recht der Frauen auf einen Vollbart. Er bedeutet eine Ungerechtigkeit gegen Herrn Sudermann, den sich niemand gern in einer Rockhose vorstellt, dem man sie aber unbedingt im Laufe der Zeit wird konzedieren müssen. Oder wer von uns hat nicht schon unter einem der blondbärtigen Untiere gelitten, die Sommers, auf irgendeiner Esplanade, mit der Manneszier exhibitionierten und sie extra durch kurze Höschen zu einer peinlichen Kontrastwirkung brachten? Von da ist nur ein Schritt zu der selbstmörderischen Vorstellung, daß Herr Professor Minor in Jupons Seminar hält. Nein, darum mag ich die Frauen in Beinkleidern nicht sehen. Höchstens jene, die den Mädchenhandel bekämpfen. Nimmer jene, die die natürlichen Anlagen haben, ihm zum Opfer zu fallen. Die uns in das Mysterium ihres Geschlechtes einführen, brauchen keine Tracht, als obs in ein Salzbergwerk ginge. Bis zur kurzen Hose gehe ich noch mit!

Zweiunddreißig Minuten

und sechzehn Stationen hat neulich abends die Elektrische vorn Schwarzenbergplatz bis zur Oper gebraucht, weil vorn einer aufgestellt war, der eine beschwörende Pantomime machte, weil ein Automobil vorüber wollte, vor dem ein Passant erschrak, der links ausgewichen war, weil ein Einspänner kam, dem ein Fiaker rechts vorfahren wollte, indem er Hoah rief, um einen Leiterwagen zu überraschen, der nicht weiter konnte, weil vor ihm ein Radfahrer war, der hinter einem Handwagen fuhr, dem ein Lastwagen nicht Platz machen wollte, dessen Kutscher Hüah rief, weil eine Bewegung entstand, indem der vorübergehende Truchseß Dobner von Dobenau sich anschickte, einen vorüberfahrenden Hofwagen zu grüßen, in welchem Herr Salten saß.

Wiener Totschlag

Im Kot erstickt. Der 23jährige Hilfsarbeiter Stephan W. hatte sich gestern wegen eines folgenschweren Roheitsaktes zu verantworten. Er hatte sich am 19. Februar in einen Streit, den der Taglöhner Ludwig R. mit mehreren Burschen hatte und der ihn gar nichts anging, eingemengt, dem R. einen Stoß versetzt und dem Fliehenden einen Stein nachgeworfen, der den R. so unglücklich am Hinterhaupt traf, daß er niederfiel und im Straßenkot erstickte. W. stand nun gestern wegen Totschlages vor den Geschwornen ... Die Geschwornen erkannten den Angeklagten schuldig, worauf der Gerichtshof ihn zu zwei Jahren schweren Kerkers verurteilte.

Der Zustand der Wiener Straßen ist ein nicht nur das Leben, sondern auch das Delikt der Körperverletzung erschwerender Umstand. Er führt unbedingt den Tod herbei und würde deshalb selbst die Tat eines Hilfsarbeiters, der einen Taglöhner bloß um die Erd haut, als Totschlag qualifizieren. Auch ohne Steinwurf muß die Sache letal enden. Maßgebend ist allein, daß der Betroffene auf der Straße lag, daß also eine Situation gegeben war, die den Erstickungstod herbeiführen mußte. In anderen Städten wäre es ein schlechter, vielleicht ein roher Spaß, einen hinzulegen. In Wien ist es die Tat eines Unholds. In anderen Städten ist die Behauptung, daß man im Straßenkot ersticke, eine Metapher. In Wien bezeichnet sie einen Tatbestand.

Gefährlich

sind hierzulande auch die Osternummern der Tagespresse. Während in anderen Städten ein Zeitungsblatt bloß eine Bedrohung der geistigen Gesundheit bedeutet, wächst es sich in Wien immer mehr auch zu einer Gefahr für die körperliche Sicherheit heraus. Bei einem Streit, den der Taglöhner Vinzenz Ühlein mit dem vazierenden Hilfsarbeiter Jaroslaw Wlk hatte, zog er die »Zeit« aus der Tasche und verletzte den Gegner nur unerheblich, während und dieser, wie der Wachmann Krziz behauptet, im Besitze der Osternummer des »Neuen Wiener Tagblatts« war. Ühlein erlitt mehrere Rißquetschwunden sowie eine Luxation des rechten Schultergelenkes. Wlk wurde deshalb wegen schwerer Körperverletzung und wegen Übertretung des Waffenpatents zu sechs Monaten verurteilt. Die Sachverständigen hatten ausgesagt, daß die Nummer, deren Umfang 216 Seiten betrug, unter Umständen den Tod herbeiführen konnte. Das Gericht erkannte auf Saisierung des Kleinen Anzeigers. Dagegen wurde der Staatsanwalt mit dem Antrag auf Strafverschärfung durch Lektüre des Textteiles abgewiesen, was das Gericht mit dem Hinweis auf den Grundsatz »minima non curat prätor« begründete.

Der Fackel-Kraus

ist eine Bezeichnung, die zu den unverlierbaren Privilegien des Franz Josefs-Kai gehört. Es ist der ortsübliche Ausdruck einer Lebensbetrachtung, die das Werk nicht nach dem Mann, sondern den Mann nach der Ware bezeichnet. Er bezeugt die unselige Popularität, die ein grinsendes Wien verleiht, welches die Individualität auf hundert Schritte herausfindet und wie das Mutteraug unter allen Schlesingers den Paprika-Schlesinger sogleich erkannt hat. Wenn im herbstlichen Ischl Regenfluten die Kanaille weggeschwemmt haben und man endlich hofft, von Blicken unbetastet seiner Wege gehen zu können, zischt noch aus der Konditorei wie die Natter aus dem Gebüsch das Aviso: Mama der Fackelkraus! Und es sagen's aller Orten die Jourbesucher. Aber die Gefahr, die so bezeichnet wird, fühlt sich durch die Furcht bedroht, durch die Aufmerksamkeit erschreckt und möchte Ruhe haben. Weiß Gott, ich wünsche jedem, der's ausspricht, die Angina an den Hals. Oder zum wenigsten, daß alle diese glotzenden Spaziergänger, die vom Aug in den Mund leben, einmal zusammen auf den Potsdamer Platz getrieben würden. In Berlin, wo die Nullen sich nicht vor den Einser stellen, sorgt die heilige Regel dafür, daß man auf der Straße ein Privatmann bleibt. Eine trostlose Ausnahme bilden nur jene Berliner, die durch vorübergehenden Aufenthalt in Wien aus den Scharnieren geraten sind. Zum Beispiel Herr Paul Schlenther, der hier sogar mehrere Jahre lang das Burgtheater geleitet hat und wiewohl ihm Herr v. Berger auf dem Fuße gefolgt ist, kein gutes Andenken hinterläßt. Aber mit wahrem Bedauern sah man, daß er nach der Glanzperiode des Löwenbräus in Berlin als Theaterkritiker frisch angeschlagen wurde. Als solcher nun begann er kürzlich ein Referat mit den folgenden Worten:

Schon vor mehreren Jahren machte in Wien der kleine »Fackel-Krauß« in einer der positiven Anwandlungen seines verneinenden Geistes den Versuch, Frank Wedekinds zweite Lulutragödie »Die Büchse der Pandora« auf die Bühne zu bringen. Es geschah sogar mit Hilfe von Hoftheatermitgliedern ...

Das ist richtig. Vielleicht erinnert sich sogar Frank Wedekind an diese Aufführung. Was nun die Kontrastierung der Kleinheit des Veranstalters und der Größe des Wagnisses betrifft, so ist es Geschmacksache, ob es nicht in solchen Dingen ausschließlich auf den Erfolg ankommt, und ob nicht das Mißverhältnis zwischen Herrn Schlenther und einem Dezennium Burgtheatergeschichte krasser ist. Was aber die Ornamentierung und Orthographie meines Namens anlangt, so ist zu sagen, daß ich solche Scherze nicht liebe. Gewiß, der dicke Burgtheaterschlender hat sich damals, als er seinen Schauspielern die Erlaubnis zur Mitwirkung an den beiden Abenden der »Büchse der Pandora« erteilte, sein Verdienst um die moderne dramatische Literatur erworben. Gebe ich dies aber auch mit meinem Danke zu, so berechtigt es den Mann noch zu keiner Intimität. Wir sind nie beisammen im Löwenbräu gesessen, und obschon er ein alter Leser der Fackel ist, so haben wir doch nie mitsammen die Schweine gehütet, sondern er weiß, daß ich es im Umkreis der Wiener Presse ganz allein besorgt habe und ihm oft zur stillen Freude. Was soll das also! Der Mann weiß ganz genau, wie mein Name geschrieben wird. Er ahme nicht die Nonchalance der literarhistorischen Sippe nach, die wenn sie schon einmal so tut, als ob sie mich nicht kennte, den Lehrerwitz macht, meiner Schärfe mit einem scharfen ß gerecht zu werden. Es ist kleinlich von mir, aber ich wünsche das nicht, lieber Schlenter. Wir wollen uns in hundert Jahren wieder sprechen, lieber Schlenter. Wir wollen sehen, wers länger aushält. Hofrat werde ich bis dahin bestimmt nicht. Auch wird es von mir nicht heißen, daß ich zwar alle möglichen Mängel hatte, aber doch ein gemütliches Huhn war. Und dennoch fürchte ich, daß man dann den richtigen Schlenther, wiewohl es sicher nur einen des Namens gibt, aus der Menge von Stammgästen nicht herausfinden wird, wenigstens solange nicht, bis jemand erklärt, er meine ja den dicken Löwenbräu-Schlemmter. Während es bei mir, der zeitlebens bloß sich satt gespottet und das Blut seiner Feinde getrunken hat, näherer Hinweise nicht bedürfen wird.


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