Karl Kraus
Glossen bis 1914
Karl Kraus

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Conrad von Hötzendorf

– wie Trateratata klingt das, haben uns die Feuilletonisten oft und oft erzählt, wenn sie so um das Lagerfeuer saßen und von gewonnenen Schlachten träumten. Das mag alles sehr berechtigt sein, denn kein Name ist unverdient. Nur muß man sich ihn verdienen. Einer, der etwa Kotschitschka von Lilienfeld hieße, hätte es schwerer, aber der erste Sieg gäbe dem Namen Pathos. Hinwieder kann oft eine Trompete zu früh losgehen. Mit Recht hat der sogenannte Conrad von Hötzendorf einem Interviewer gesagt, daß man einen Feldherrn eigentlich erst nach seinen Taten beurteilen könne. Nur hatte er nicht Recht, es einem Interviewer zu sagen. Er ist wahrscheinlich der bedeutendste Feldherr aller Zeiten und niemand würde ihm persönlich einen Vorwurf aus dem Frieden machen, der ihn verhindert, es zu beweisen, wenn er nicht gerade vor dem Vertreter des Neuen Wiener Tagblatts bescheiden wäre. Sonst kennt man ja von ihm wirklich nicht viel mehr als dieses Interview. Richtig: noch eine Zuschrift an die Neue Freie Presse. Zwar nur achtungsvoll, aber doch eigenhändig. Und kann man sich denn sonst gar kein Bild von ihm machen? Oh doch, im »Interessanten Blatt«, in der »Woche«, in den »Wiener Bildern« ist es bereits zu sehen. Nun, werden die Beschützer eines großen Feldherrn sagen, berühmte Männer kommen da eben hinein, ob sie wollen oder nicht. Denn wenn es auch ein Recht am eigenen Bilde gibt, so können berühmte Männer doch nicht verhindern, daß sie zwischen Wer weiß etwas?, einer Probiermamsell, Herrn Treumann und dem deutschen Kaiser auf der Sauhatz ihren Platz finden. Freilich könnte man antworten, es komme darauf an, wie sich die berühmten Männer photographieren lassen und ob sie schon bei der Aufnahme gewußt haben, für welchen Zweck sie bestimmt sei. Wenn Wilhelm II: dem Tier den Genickfang gibt, so steht ein Photograph auf dem Anstand und jener – sagen wir – kann nichts dafür. ist unschuldig wie der Hirsch. Es war ein Moment. Dichter lassen sich – mit Ausnahme des Herrn von Hofmannsthal, der ein Buch liest – nicht bei der Arbeit photographieren. Wie nimmt man Generalstabschefs auf? Ich schlage vor: Brustbild, ganz ungezwungen, ein freundliches Gesicht, auch wenn es draußen wettert. Aber um Gotteswillen nicht so. – »Der österreichisch-ungarische Generalstabschef Conrad von Hötzendorf beim Studium der Balkankarte«! Das ist doch beinahe Verrat militärischer Geheimnisse! Auch nicht so: »Der Chef des Generalstabs G. d. L Conrad von Hötzendorf studiert mit seinem Flügeladjudanten Major Rudolf Kundmann die Balkankarte.« Ja, wie macht man das? Nun, der Chef des Generalstabs sitzt auf einem Tisch, neben ihm steht der Major und beide starren auf die Balkankarte. So sieht das also aus, wovon der Ruhm kommt? Wer hat den Photographen ins Zimmer gelassen? Warum haben sich die Herren nicht im Studium der Balkankarte unterbrochen, als der Photograph kam? Ist es denn möglich, daß sie, als der Photograph kam und etwas Apartes machen wollte, das Studium der Balkankarte erst begonnen haben? Nun, trotzdem kann ja noch immer eine Schlacht unter Conrad von Hötzendorf mit einem glänzenden Sieg enden, kein Zweifel. Aber die Feinde hätten doch noch mehr Angst, sie lebten jedenfalls mehr in der Ungewißheit, wenn sie nicht Gelegenheit hätten, den österreichisch-ungarischen Generalstabschef Conrad von Hötzendorf beim Studium der Balkankarte zu sehen. Man soll das nicht so herzeigen, man soll nicht. Hat man einen Kopf, so genügt Brustbild. Hat man keinen, so nützt die Balkankarte auch nichts, im Gegenteil. Und darunter steht. – »Zum Wechsel in der Leitung des österreichisch-ungarischen Generalstabes«. Ja, wie war das also früher? Hat der frühere Generalstabschef nie die Balkankarte studiert? Oder anders? Wird's jetzt ernst? Gewiß, die Herren Schemua und Auffenberg haben sich durch ihren Verkehr mit Humoristen, Fakiren und Journalisten nicht vertrauenswürdig gemacht; es ist nicht gut, wenn von hohen Militärs zu viele Leute behaupten können, daß sie sie persönlich kennen. Von Conrad von Hötzendorf hatte man nur den Schall, kein Gerücht. Es war nicht angenehm, daß sein Name öfter von dienstuntauglichen Leuten mit einer Trompete verglichen wurde. Aber sei's drum, und wenn die Trompete statt der Kanone losging, er konnte noch immer der tüchtigste Feldherr sein. Er ist es wahrscheinlich. Aber vom bulgarischen Generalstabschef haben uns die Plauderer erzählt, wie er bei der Nachtlampe arbeite. Sie haben es nicht gesehn, sie haben es gehört. Kein Photograph wurde ins Zimmer gelassen, und trotzdem gab es bulgarische Siege. In Österreich wurde es ernst. Da wurde Conrad von Hötzendorf Generalstabschef. Da studierte er die Balkankarte. Da siegte am Hofe die Friedenspartei und da trat der Hofphotograph Scolik ein. »Eine kleine Spezialaufnahme wenn ich bitten darf –!« »Für die Weltgeschichte?« »Nein, für das interessante Blatt.« »Aha, zur Erinnerung an die Epoche!« »Ja, für die Woche.« »Ich bin aber grad beim Studium der Balkankarte –« »Das trifft sich gut –« »Wirds lang dauern?« »Nur einen historischen Moment wenn ich bitten darf –« »Soll ich also das Studium der Balkankarte fortsetzen?« »Gewiß Exzellenz, setzen ganz ungezwungen das Studium der Balkankarte fort – so – ganz leger – nein, das wär' unnatürlich – der Herr Major wenn ich bitten darf etwas weiter zurück – nein, nur ganz ungeniert – kühn, bitte mehr kühn – es soll eine bleibende Erinnerung an die ernsten Zeiten sein – so ists gut, nur noch – bisserl bitte – so – machen Exzellenz ein feindliches Gesicht! – jetzt – Ich danke.«

Wenn Herr Harden glaubt

daß ich seine Frage »Was wünscht sich Michel unter die Weihtanne?« nicht über setzen kann, so irrt er. Michel wünscht sich unter die Weihtanne, daß Herr Harden einmal, einmal nur die Courage habe, »Deutschland« und »Weihnachten« zu schreiben. Das wäre eine Überraschung! So aber gibts alleweil nur Ärgernis. In Deutschland und soweit der Dreibund reicht. Uns nennt Herr Harden wohl die Austriaken. Gut, schlucken wir's hinunter. Aber die Italiener – wie glaubt man, traktiert er die Italiener? Schlechtweg als Italiäner, Italier, Italer, Italersprossen, Italiens Einwohner, Italioten? Nein. Nennt er sie verächtlich Welsche? Nein. Welschlandbewohner, Welschländer? Nein. Ich habs: Rinderlandbewohner, Rinderländer? Nein (aber auf eine gute Idee hat er mich gebracht, sagt jetzt Herr Harden). Wie also? Wie nennt er sie? Wie? Nicht erschrecken, gefaßt sein – wir haben ja alles Mögliche schon erlebt, es trifft uns nicht unvorbereitet – Brüder, Mut – er nennt sie:
Stiefelinsassen!

Fern sei es von mir, den »Professor Bernhardi« zu lesen

denn läse ich ihn, ich fühlte mich hingerissen, ihn zu zitieren, und zitierte ich ihn, man läse ihn richtig. Denn ihr alle wisset doch schon, daß die Dinge, die ihr anderorts mit Wohlgefallen betrachtet, hier plötzlich ein anderes Gesicht annehmen, indem sie das werden, was sie sind. Denn mir ist ein Engel erschienen, der mir sagte: Gehe hin und zitiere sie. So ging ich hin und zitierte sie. Und kann Existenzen dem Hungertode preisgeben, bloß dadurch, daß ich sie hier noch einmal und wörtlich das sagen lasse, wodurch sie Reichtümer erwerben. Und wahrlich ich sage euch, ich besitze eine Skizze von Salus, welche in der Sonntags-›Zeit‹ erschienen ist. Und wenn ich sie abdrucke, wird sich Europas Sorgenantlitz glätten und es wird wieder sein wie vor dem Kriege. Ich aber tue es nicht, weil ich ein anständiger Mensch bin. Diese geheime Kraft, die mich befähigt, die deutsch-österreichischen Autoren vor Gott und Menschen mißliebig zu machen, übe ich mit Bedacht. Schnitzlers Zeit ist noch nicht vollendet. In zehn Jahren wird man wissen. Und aber in zehn Jahren wird man nicht mehr wissen. Fern sei es von mir, seine besten Sätze abzudrucken. Denn er ist allen sympathisch und alle würden von mir sagen, ich sei ungerecht gegen ihn. Was ich aber schon heute verraten kann, ist, was ich nur vom Hörensagen weiß. Es soll ein ernstes Stück sein, ein soziales Stück, und Priester und Arzt reichen sich die Hand über dem Abgrund. Das habe ich gehört und mache mir Gedanken. Ich weiß, daß es nicht das Lustspiel ist, das sie von ihm erwartet haben. Denn jegliche Saison, wenn das Fest der Laubhütten kam, gingen die zehn Ältesten hinaus zu ihm und sahen nach, ob er ihnen schon das Lustspiel geschenkt hatte. Aber immer kehrten sie um und sagten: Noch nicht, aber fast. Er sei berufen, seinem Volk dereinst im Volkstheater das Lustspiel zu geben. Aber er gab es nicht, und die zehn Ältesten kehrten um und sagten: Noch nicht, aber fast. Und sie sahen, daß er sich mit unreinen Dingen abgab, mit der sogenannten Erotik. Das verdroß sie im Herzen und sie fragten: Siehe, warum gibt dieser hier, wenn er schon nicht das Lustspiel gibt, nicht wenigstens das ernste Schauspiel, das seriöse mit den sozialen Problemen, wo man hineinführen kann die Tochter? Und er gab nicht das Lustspiel, aber er gab das ernste Schauspiel, das seriöse mit den sozialen Problemen und sie wollten hineinführen die Tochter, aber die Zensur erlaubte es nicht. Dieses war Professor Bernhardi. Und sie sagten: Seine erotischen Probleme haben bei aller Feinheit der Psychologie nicht immer Wohlgefallen ausgelöst, jetzt aber, wo er ernst ist und gediegen, wird er verboten? Sitzt Glossy nicht im Beirat und gibt er nicht preis die Kunst dem Rotstift des Schergen, der päpstlicher ist als der Papst? Soll es nicht erlaubt sein einen Spiegel vorzuhalten, so lasset verschwinden Nathan und den Pfarrer von Kirchfeld und die Perlen von unseren Bühnen. Wieso erblickt man im Hauptproblem den Stein des Anstoßes, wo es doch einen Kardinalpunkt der kirchlichen Lehre bildet? Die Kirche scheut doch selbst nicht die »öffentliche Darbietung des Konflikts zwischen Dies- und Jenseits«, warum erlaubt man ihn nicht als Premiere im Volkstheater? Ist es gerecht, wenn man auf der Bühne nur erlaubt die Probleme des Ehebruchs, »als ob unser Liebes- und Eheleben aus lauter solchen Späßen bestünde«? Der so fragte, war ein hervorragender Rechtslehrer und er nannte sich so und verschwieg seinen Namen. Denn die Stimme des Herrn gebot ihm, zu schreiben gegen die geheime Fehme, wenn auch anonym, und den Satz zu schreiben von den »Gönnern, die zwar ihre schönen Namen gerne in den Dienst einer humanen Sache stellen, die aber in dem Augenblicke sich verkriechen, wo sie Männer sein sollen«. Dieser hier aber verkroch sich in dem Augenblick, wo er seinen schönen Namen in den Dienst der humanen Sache stellen sollte, und tat es anonym, was den Zweifel ausschloß, daß es ein Universitätsprofessor sei. Ich aber sage euch, es gibt deren viele. Und keiner von ihnen ist, der nicht bereit wäre, für die Überzeugung einzutreten, daß Gott die Welt unmöglich in sechs Tagen erschaffen haben kann. Und keiner von ihnen ist, der nicht bei der Vorstellung des »Professor Bernhardi« erschüttert wäre, aber unbewegt bei der Vorstellung, daß vor dem Premierenpublikum des Deutschen Volkstheaters vom Sakrament gesprochen wird. Und keiner von ihnen ist, der nicht bereit wäre, anonym die Behörde anzugreifen, weil sie die Frage, ob der Priester im Sterbezimmer zu erscheinen habe, kurzerhand durch die Verfügung erledigt hat, daß er nicht vor dem Auswurf der Menschheit zu erscheinen habe. Ich sage euch, es gibt einen Typus, der verderblicher ist als Hunger, Pest und Meer. Er nennt sich einen hervorragenden Rechtslehrer oder eine besondere Seite, er kann ein Historiker sein oder ein Nervenspezialist oder er muß auch nichts von Frauenleiden verstehen. Er ist in jedem Falle ein Freidenker und hat einen warmen Vollbart. Ist man sensibel, so kann man gegen den Typus nichts unternehmen, weil man als Kindheitseindruck irgendeine schäbige Maxime aus solchem Mund durchs Leben trägt und sich noch in reiferem Alter von einem Bart, der sich einst über ein Gitterbett beugte, gekitzelt fühlt. Ist man brutal, so sieht man in solchen Attrappen den Feind, bereit, sie überall anzuspringen, wo sie sich vor Kunst und Leben stellen. Diese Akkoucheure jeglicher Banalität stehen noch immer mit ihren Umgangsformen dem Geist im Weg. Viel mag von dieser Vollbärtigkeit im Professor Bernhardi, im Helden, im Werk und im Dichter stecken, nur daß hier als ornamentaler Hintergrund noch ein weites Land dazugehören mag. Der Gedanke aber, der in die starrste Konsequenz kirchlicher Formen verläuft, kommt von noch weiterem her. Das Sterbesakrament beginnt noch nicht einmal dort, wo das Sterbefeuilleton aufhört. Anonyme, aber hervorragende Rechtslehrer sehen in diesen Dingen eine Gelegenheit, sich in die Mannesbrust zu werfen, mit dem Voll- und Ganzbart zu protestieren, und sie loben einen Causeur erst dort, wo er sich endlich auch thematisch in ihren Horizont begeben hat und zum Leitartikel emporwächst. Denn Gott ist ihnen etwas, was sich überlebt hat, die Weltanschauung des Vereins katholisch Geschiedener ist ihnen etwas, was einen Dichter begehrenswert macht, und das Geschlechtsleben, um das sie so sicher Bescheid wissen wie um die Religion, ist etwas, was man nach der Arbeit betreibt, aber kein eines ernsten Menschen (der im Leben steht) würdiges Studium. Schnitzlers erotische Probleme haben nicht ihr Wohlgefallen ausgelöst. Aber was denn auf der Welt sollte Wohlgefallen auslösen, wenn nicht Schnitzlers erotische Probleme? Beunruhigt haben sie noch keinen hervorragenden Rechtslehrer, selbst wenn sein Eheleben aus lauter solchen Späßen wie Ehebruch bestünde. Es ist alles beim Alten geblieben, kein Mißverständnis zwischen den Geschlechtern wurde beseitigt und um Schnitzlers willen werden noch in hundert Jahren die Freidenker ruhig schlafen können und die Freidenkerinnen unruhig schlafen müssen, und die Welt wird nicht mit Schnitzlerischen Gedankenkeimen zur Welt kommen, und wenn es geschähe, würde es ihrer Verdauung auch nichts schaden. Gegen das Liebesleben der Leute hat er nichts unternommen. Darum war es höchste Zeit, daß er auch etwas für ihre Gesinnung getan hat. Um sie erotisch zu unterhalten, muß man mindestens ein Mikosch sein. Ein Gedanke würde ihnen die Nacht verderben. Psychologie verpatzt ihnen nur den Abend. Schnitzler hat sich rehabilitiert, als wäre er früher Strindberg gewesen. Der Professor Bernhardi ist »eines der besten seit lange geschriebenen Dramen«. Zu wissen, wer so urteilt, und zu wissen, was darin vorkommt, möge dem Wissenden genügen. Ich stehe ganz auf dem Standpunkt des humanen Arztes und bin dagegen, daß man dort, wo die Kunst stirbt, es ihr auch noch sage. Und als Priester würde ich ihr nicht einmal Trost spenden und keine Absolution gewähren. Wie die Schnitzlersche Patientin hinter der Szene ist sie verloren, »aber glaubt sich genesen«. Überlassen wir alles Weitere den Freidenkern und bleiben wir im Vorraum.

Die Polizei und die Zeitungen selber

« ... Der Oberstadthauptmann erwiderte, es müsse als ausgeschlossen betrachtet werden, daß die Polizei über Ort und Zeit des Zweikampfes Kenntnis gehabt hätte. Denn wäre dies der Fall gewesen, so hätte sie auf jeden Fall das Duell verhindert. Daß die Polizei von dem Duell keine vorherige Kenntnis haben konnte, beweist auch der Umstand, daß die Zeitungen selber über den Zeitpunkt des Zweikampfes nicht im klaren waren ...«

Wiener Faschingsleben 1913

Unter dieser Devise, an leitender Stelle eines Wiener Abendblattes, dessen erste Seite die heitere Seite des Lebens vorstellt, während der Ernst der Politik mehr hinten kommt, habe ich, der am Schreibtisch verbrachten Nächte überdrüssig, gefunden, was ich gesucht habe. Ich stürz mich in den Strudel, Strudel hinein:

Ein kurzer Fasching, wie der heurige hat seinen eigenen Reiz. Man hat nicht Zeit, tanzmüde und blasiert zu werden, Vergleiche anzustellen und lange zu wählen. Im flottesten Dreivierteltakt eilt man von Genuß zu Genuß, man läßt mehr das Herz sprechen, das rascher entscheidet als die kühl berechnende Vernunft. Man amüsiert sich rasch und denkt nicht an morgen, denn es gilt, den kurzen Karnevalstraum rasch zu genießen, ehe der Aschermittwoch-Morgen dämmert und an den Ernst des Lebens mahnt. So kommt ein flotteres Tempo in diese ohnehin raschlebige Zeit, in der Nächte zu frohen Stunden werden und Wochen zu einem kurzen Taumel der Lust. – – Man merkt dem Wiener Nachtleben schon die Kürze des Faschings an. Alles hat die Tendenz, sich gleichsam von vornherein für den späteren Ausfall zu entschädigen, rasch noch eine frohe Stunde und noch eine dem Leben abzuringen. – – Die Wiener Hausgeister, die Gemütlichkeit und der Frohsinn, schwingen siegreich ihr Zepter, und nur, wenn hie und da noch eine Musikkapelle ein patriotisches Lied intoniert, denkt man der ernsten Tage, in welchen wir leben. Aber das ist nur ein Augenblick, dann läßt man wieder froh die Gläser klingen: »Ein Prosit der Gemütlichkeit!« Wer's nicht glaubt, der sehe einmal mit eigenen Augen nach, der begleite uns auf einer kleinen Rundfahrt durch das fidele Wien bei Nacht von heute oder er wähle selbst und empfinde die Qual der Wahl unter diesen gleich empfehlenswerten Adressen, die unter dem Titel »Wiener Faschingsleben« im Inseratenteil unseres heutigen Blattes zusammengefaßt sind.

... Wer vom Sophiensaal oder aus der Stadt auf den Ring kommt, wird nicht widerstehen können, Dobners musterhaft vornehm geleitetem Café Stadtpark einen Besuch abzustatten. Wer seinen Weg über den Franzensring nimmt und insbesondere, wer vom Burgtheater kommt, wird nicht versäumen, in's Künstlercafe einen Abstecher zu machen. Besucher der Hofoper können am einladenden Café Fenstergucker (Scheidl) nicht vorbeikommen, ohne hier eine Erfrischung zu nehmen. Wer den Alsergrund zu durchqueren hat, dem seien das eben renovierte gemütliche Café Maria Theresia und das gegenüber der Volksoper gelegene renommierte Café Hofstötter bestens als Ruhe- und Erfrischungsstationen empfohlen. Freunde eines guten Tropfens und kreuzfideler Stimmung werden die Residenz-Weinstube in der Annagasse zu finden wissen sowie Gourmands in Mariahilf und in der Stadt sicherlich in das Restaurant Leber (Deierl) gehen werden. Aus dem Lustspieltheater, Zirkus Busch-Varieté, Carl-Theater, Intimen Theater geht man selbstverständlich in das Admiral-Café (Rosner) im Lloydhof (Praterstraße). Besucher des Strauß-Theaters finden von selbst das renommierte bürgerliche Restaurant »zum roten Rößl« in der Favoritenstraße. Reich genug ist die Auswahl fürwahr, und wer es versucht, diese Rundfahrt zu machen, wird überall auf seine Rechnung kommen. Denn es ist ein kurzer aber eben darum doppelt lustiger Fasching, der von 1913!

Ich bin dabei, ich mache mit, ich will mehr das Herz sprechen lassen. Rasch den kurzen Karnevalstraum genossen und hinein zum Dobner. Ich wollte widerstehen, aber es ging nicht. Ich kann nur sagen, es war toll. Vornehm geleitet, aber toll. Nun war ich nicht mehr zu halten. Man denke: durch fünfzehn Jahre ausgehungert! Nun eilte ich im flottesten Dreivierteltakt von Genuß zu Genuß. Was sage ich, eilte: ich taumelte. Die kühl berechnende Vernunft sagte mir: Geh nach Hause, Alterchen. Ich aber ließ mehr das Herz sprechen und versäumte deshalb nicht, ins Künstlercafe einen Abstecher zu machen. Dort waren lauter Künstler. Ein augustisches Zeitalter schien angebrochen. Schon aber dämmerte auch der Aschermittwoch-Morgen und mahnte an den Ernst des Lebens. Ja, Schnecken! Eheu fugaces, Postume, Postume! Drahma um! Wer wird an morgen denken? Ich zog weiter. Nur die Qual der Wahl trübte mir das bacchantische Glück, weshalb ich einen Wachmann fragte, wo hier die Wiener Hausgeister siegreich ihr Zepter schwingen. Er sagte: Gleich rechts um die Ecke, dann links, im Café Hofstötter. Nachdem ich den Alsergrund durchquert hatte, was an und für sich schon eine Hetz ist, wußte ich in kreuzfideler Stimmung die Residenz-Weinstube zu finden. Hierauf wollte ich am Café Scheidl vorbeikommen, ohne eine Erfrischung zu nehmen. Das war aber leichter gedacht als ausgeführt. Ich konnte einfach nicht vorbei, ich mußte hinein. Dort ging es drunter und drüber, das fröhliche Treiben erreichte seinen Höhepunkt, und auch ich nahm eine Melange und hierauf eine Erfrischung. Gourmands in Mariahilf, sagte ich mir, gehn jetzt natürlich zum Deierl. Ich sage nichts als: Evoe! Mein Gang war beschwingt, als ich wieder auf die Straße kam, und nun wollte ich in das renommierte bürgerliche Restaurant zum roten Rößl. Ich fragte einen Wachmann, wo es sei, der aber antwortete: Das finden S' von selbst! Tatsächlich fand ich es von selbst. Ich verbrachte dort eine tolle Stunde. Ein Passant, der später des Weges kam, fragte mich, ob ich noch ins Admiralcafe gehe. Selbstverständlich, sagte ich und ging ins Admiralcafe (Rosner). Es war das im Lloydhof (Praterstraße) und hier war des Jubels kein Ende. Alle Besucher aus dem Lustspieltheater, Zirkus Busch-Varieté, Carltheater und Intimen Theater hatten sich eingefunden. Die Leute standen Kopf an Kopf und nur mit Mühe konnte ich mir ein Plätzchen erobern. Was hier geboten wurde, überstieg alles. Man hatte nicht Zeit, blasiert zu werden. Ich beschloß, hier zu bleiben, in der Hoffnung, daß nunmehr auch ein flotteres Tempo in diese ohnehin raschlebige Zeit kommen werde, um Nächte zu Stunden und Wochen zu einem kurzen Taumel der Lust zu wandeln. Als ich wieder auf die Straße trat, traf ich einen Wachmann, fragte ihn, wo man hier noch eine frohe Stunde und noch eine dem Leben abringen könne. Denn der Fasching sei kurz. Und man wolle sich eben für den späteren Ausfall entschädigen. Der Wachmann sah mich an und sagte: »Waren S' schon im Admiralcafe?« Ich sagte: »Selbstverständlich«. »Gehn's zum Dobner!« »War ich schon.« »Gehn's zum Deierl!« »War ich auch schon.« »Gehn's zum roten Rößl, dös finden S' von selbst!« »War ich schon.« »Laßn S' das Herz sprechen und gehn's zum Scheidl!« »Kenn ich auch schon.« Ja, was wollen's denn nacher haben? Wenn einer eh schon alls mitg'macht hat und is noch nicht zufrieden –! Mirkwirdik san die Menschen!« Ich torkelte nach Hause. Am nächsten Tag stand ich mit einem fürchterlichen Katzenjammer auf. Ein Freund suchte mich zu überreden, mit ihm ins Cafe Stadtpark zu gehen. Ich widerstand. Er sagte, ich sei blasiert.


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