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Im Zwergerhof

Als die Mariann von ihrer Wallfahrt wieder heimgekommen war, hatte sie noch am selben Tag dem Vater zu seiner nicht geringen Freude erklärt: »Vater, ja, mir is 's recht: ich Heirat den Schlickerwast«, und hatte alles Weitere einzuleiten und anzuordnen ihm überlassen. Der Zwerger sagte daher schmunzelnd sür sich: »So a Wallfahrt! zur rechten Zeit hat scho sei Guats, wann 's a Unkösten macht.« Und als ein paar Tage darauf im Nachbarhof drüben von seiner Reise der Franz wieder eintraf, fand er den Alten in übelster Laune darüber, daß sein Sohn sogar auch noch in der weiten Welt herumfahre, bevor er zur Segenspendung in den Zwergerhof gegangen sei, und der Koglerbauer stellte denn auch sogleich den Heimgekehrten darüber erregt zur Rede.

»Morgen nacher, Vater. Gleich morgen vormittag«, beschwichtigt der Sohn. »Heut is 's ja doch schon zu spät.«

»Was? Z' spat? Zum Segen für an neugweihten Priester is 's nia z' spat. Muaß i dir dös sagen? Heut gehst no umi! Hast ghört? Glei iatz gehst umi! I laß mi nimmer länger herfoppen. Auf der Stell gehst!«

Und der Franz weiß nur zu gut: dem Vater ist nicht zu trauen in solcher Stimmung; Aufschub ist ihm so viel wie Weigerung; Widerspruch und – mit einem Purzelbaum, nein, mit einem Salto mortale ist er mitten drin in Wut und Krach. Und darum geht der Franz heute noch.

Die Sonne rutscht eben schön langsam den schwarzen Wäldern zu, dahinter sie für die Nacht versinken soll. Und damit wird gleich die Stunde da sein, so halb noch Tag und halb schon Nacht, von der einst daheim unser Thomas so seltsame, gruselige Dinge gewußt und durch Dutzende von Beispielen erhärtet hat. So absonderliche Geschichten, daß der Nußbaum, darunter sie im sommerlichen Feierabend der Thomas uns Kindern erzählt hat, sein Geflüster einstellte und still war. Und ich zweifle nicht, selbst Schiller und Goethe hätten geschwiegen, bis der Thomas Zehentner mit seiner Geschichte fertig gewesen wäre, und so lange schwieg auch der Nußbaum. Ein solcher Erzähler war unser Thomas. Und so viel ist mir heute klar: wär' der Thomas nicht ein Roßknecht gewesen, er hätte ein Dichter sein können. Manch ein »Dichter« wär' dafür vielleicht besser unter die Roßknechte gegangen. Von dieser Zwielichtstunde aber hat der Thomas gesagt, daß sie den selbigen, die zwar schon lang nicht mehr auf die Welt gehören, aber doch von ihr nicht lassen können, solang ihr Blut noch über die Felder und Landstraßen geht, daß sie diesen Ruhelosen gleich noch lieber ist als die Mitternacht. Denn, hat er gesagt, sie möchten ja ihre Nachkommen noch werken sehen und reden hören, und um die Mitternacht liegt alles in tiefem Schlaf. Soweit nicht etwa einer, hat der Thomas leiser beigefügt, mit seinem Rausch noch unterwegs ist, der aber jene nicht interessiert.

In dieser Stunde also kam der Franz, vom Vater getrieben, mit seinem Primiziantensegen auf den Zwergerhof.

Niemand vor dem Haus. Niemand im Hofraum. Niemand im Hausflur. Er klopft an die Stubentür.

»Herein!« Und die Mariann steht vom Tisch auf, an dem sie mit einer Nähterei gesessen ist.

»Grüß Gott, Mariann!«

»Grüß Gott, Franz!« Und sie geht auf ihn zu und gibt ihm die Hand und ihr bleiches Gesicht ist die Freude, die still verklärende, wie sie wohl einmal in fernen Zeiten und einsamen Tagen, da noch wenig Menschen das Land bewohnten, der Gruß zu wecken vermocht hat: grüß Gott.

Es ist die Wohnstube des wohlhabenden Bauernhofes mit dem großen, massiven Tisch im Herrgottswinkel. Die vier Wände entlang, nur von der Tür in die Kammer und der auf den Flur unterbrochen, zieht sich die bäuerliche Holzbank, die auch um den weitbauchigen Kachelofen herumläuft. Müßte gut Heimgarten halten sein hier, war' Platz fürs halbe Dorf. Ist aber die Mariann ganz allein und sonst höchstens noch der Vater da und zur Essenszeit die Ehehalten. Zu den vier Fenstern – zwei auf den Hofraum und zwei gegen Süden, dem See zu – wächst sacht die Dämmerung herein.

»Hab mich schier nimmer recht rübertraut so spät. Aber der Vater hat's haben wollen, daß ich heut noch komm. Und du kennst ihn ja. Also bin ich da.«

»Haben dich auch schon langmächtig erwartet. Und hab schier gfürcht in der letzten Zeit, du kommst überhaupts nimmer.«

»Oho! Wie kannst denn nur glauben – Aber sag: der ganze Hof ja wie ausgestorben. Und der Vater hat gemeint, grad jetzt wärt ihr alle beieinander.«

»Wären wir auch. Aber der Vater is mit dö Knecht noch gschwind ins Holz nunter. Sind uns ja heut beim hellichten Tag vier Stämm umgschnitten worden. Bringen sie s' nicht heut noch rauf, is 's Holz über Nacht weg. – Aber setz dich doch!« Und die Mariann bietet einen Platz am Tisch an. »Gar z' lang werden s' nimmer aus sein.«

Indes, der Franz dankt. Es spreche sich leichter im Stehen, sagt er; und er hätte auch an die Mariann eine Frage, die es schon wert sei, daß man sie stehend vorbringe.

So stehen sie also ungefähr in der Mitte der Stube, und zu den vier Fenstern wächst sacht die Dämmerung herein.

»Was denn gar für eine Frag?« sagt die Mariann und es soll heiter klingen. Aber ihr müdes Lächeln macht die Heiterkeit unglaubwürdig.

Der Franz besinnt sich eine ganze Weile. »Weil es sich halt grad so gut schickt,« sagt er gewissermaßen zur Entschuldigung, »und die Frag absolut nicht für andre Ohren ist. Is 's denn wahr, Mariann, daß du den Schlickerwast heiratst?«

Die Mariann schweigt.

Aber wie? Sitzt jetzt da nicht plötzlich auf der Bank an der Wand eine fremde Frau, die vorher nicht dagewesen ist? Das Gesicht so aschfahl, die Hände so welk, die ganze Gestalt wie fließend und leise schwankend oder wehend, und so rot, so gramvoll tränenrot die Augenränder und die Augen selber wie in fiebernder Angst auf den Franz und auf die Mariann gebannt. So, genau so, hat sie uns der Thomas beschrieben: fließend und wehend, hat er gesagt, und jedes Wort nur ein Hauch und jeder Hauch nur Grabeskälte. Wer bist du, fremde Frau?

Und jetzt, auf der Ofenbank noch eine! Auch sie schattenhaft ungewiß und doch in jedem Zug deutlich: schön und stolz. Sollt' es die sein, deretwegen der Kogler ist hinausgeschmissen worden aus dem Zwergerhos? Von der sie ja heut noch sagen, sie sei die Schönste gewesen, aber auch die Stolzeste auf zwanzig Stunden in der Rund. Jawohl, die ist's. Es sind die Augen der Mariann. Sieh, Sünderin, wie sich dein lüsterner Blick im frommen Spiel der Natur zu Unschuld und Reinheit und Tiefe gewandelt hat! Sieh und erkenne dich! Doch sie rührt es nicht. Hatte ja bis ans Ende nur für die Oberfläche Sinn, und wie der Baum fällt, so liegt er.

»Mariann, sag! Ich bitt dich, Mariann« – und der Franz hebt in der Tat die Hände wie ein bittendes Kind – »heiratst du wirklich den Schlickerwast?«

»Ja«, sagt die Mariann halblaut und senkt den Kopf.

»Mariann«, schreit aber der Franz. »Seit wann ist dir dös eingfallen, Mariann?«

»Seit ...«

Aber da sitzen sie ja jetzt gar an allen vier Wänden hin! Einer neben dem andern, Männer und Frauen, wirr und eng, durcheinander! Viele in einem Gewand, wie es längst nicht mehr Brauch ist. Und alle zusammen mit unbeweglichen Augen nur beim Franz und bei der Mariann! – Was wollt ihr bei den Lebendigen? Geht! Im Namen der allerheiligsten Dreifaltigkeit geht hin, woher ihr gekommen seid! – Doch keiner rührt sich und regt sich, und schon der Thomas Zehentner hat ja gesagt: Einer zieht den andern von der nämlichen Freundschaft nach und gehn tut keiner, kannst sagen dazu, was du magst.

»Seit ich weiß«, sagt die Mariann und hebt Kopf und Blick zu ihm und stockt und sagt: »Seit ich weiß, daß du in deinem Stand unglücklich bist.«

Da beugt jene erste Frau an der Wand gramdurchfurchten Gesichts sich vor, wie jemand, der kein Wort überhören will von Red und Gegenred. Und auch alle übrigen an den vier Wänden hin bis ganz zurück auf den sonderbaren Kauz in schier urweltlicher Gewandung spitzen und luren voller Begier; denn annoch geht ihr Blut mit der Mariann und mit dem Franz über die Felder und Landstraßen. Item: die seltsamen Heimgartenleut sind die Ahnen der heutigen Zwerger und Kogler. Denn man weiß schon, hat der Thomas Zehentner gesagt und es sogleich mit den überzeugendsten Beispielen belegt, daß Lieb und Haß nicht sterben, sondern mit der armen Seel' hinüber müssen, um ihr, wenn sie es vor Heimweh nicht mehr aushalten kann, den Weg zu weisen zurück aus dem Jenseits in die Menschenwelt.

»Daß ich in meinem Stand unglücklich bin«, wiederholt der Franz sinnend vor sich hin.

Und die Mariann sagt: »Und wenn du leiden mußt, will ich auch leiden. Es ist das einzige, was wir zwei miteinander haben können.«

»Mariann!« schreit da der Franz auf und schlingt die Arme um das Mädchen und zieht es an seine Brust. »Mariann, wie bist du gut! Dich laß ich nimmer, Mariann.«

Entsetzlich ist die Aufregung, die damit über die von drüben kommt. Grausig. Unbeschreiblich. Hier springt wie zum Protest ein Mann unter einem vorzeitlichen Spitzhut auf, schier wie ein Herrischer anzusehen aus der Schwedenzeit, und dort eine Frau mit der hohen Feiertagshaube aus Biberpelz, und vom Herrgottswinkel her drohen ein paar mit den Fäusten und fletschen dazu die Zähne. Und die einen verzerren ihre Gesichter zu scheußlichen Lachgrimassen, und andre wieder zeigen voll Hohn auf das priesterliche Gewand des Franz. Und nur auf wenigen Gesichtern liegt es wie Teilnahme oder Schmerz oder gar wie ein Schimmer der Hoffnung. So auf dem jener gramvollen Frau.

»Nimmer, nimmer laß ich von dir!« Und die beiden halten sich umschlungen und küssen sich wieder und wieder. »Und jetzt, Mariann, sollst du's wissen: so hat's mit uns zwei meine Mutter haben wollen.«

Da erhebt sich an der Wand die Frau mit den verweinten Augen und segnet die zwei aus der Ferne. Und so viel steht fest: die Frau mit dieser großen, leidenden Liebe kann nur die Mutter des Franz sein. Aber das Weib neben dem Urweltlichen, deren Mundwerk schon die ganze Zeit her gegangen ist wie eine unhörbare Klappermühl, die ist gegen den Muttersegen mit sprühendem Blick und abweisender Hand und lautlosem Plappermaul, das man noch extra hätt' erschlagen sollen, damit es nicht auch noch unter den Schatten Unfried stifte und Verleumdung säe. Denn auf sein lautloses Geschwätz hin schnellen fast alle andern von ihren Sitzen empor und drohen der unglücklichen Mutter, weil sie die Liebe will und nicht auch den Haß. Da sinkt die Arme auf ihre Bank zurück und bedeckt, wieder in ihre Hoffnungslosigkeit hineingescheucht, das Gesicht mit beiden Händen.

»Die Afra«, sagt der Franz und hält die Mariann in seinen Armen, »hat 's noch auf dem Sterbbett gesagt, daß unsere Heirat der Wunsch meiner Mutter gewesen ist, und vom Vater selber weiß ich seit ein paar Tagen: er hat mich einzig und allein nur deswegen studieren lassen, weil er es hat erleben wollen, daß vor seinem Sohn, nämlich vor mir, wenn ich den Primiziantensegen erteile, dein Vater knien muß.«

»Nicht möglich!« ruft die Mariann.

»Der Vater selber hat's mir ganz offen gesagt. Aber nur du sollst das erfahren, Mariann; denn nur von dir will ich nicht verachtet sein. Nur nicht von dir. Wenn ich kein Geistlicher mehr bleiben kann und will.«

»Verachtet sagst du, wo ich nur dir gehören will für Zeit und Ewigkeit.« Und die Zwergertochter umhalst den Koglersohn, und in dem langen Kuß der Mariann versinkt die Zwietracht von Jahrhunderten.

Das wollen aber die nicht gelten lassen, die hassend gelebt haben und unversöhnt gestorben sind, und es ist nur gut – und das hat schon der Thomas Zehentner festgestellt – daß sie lautlos sich gebärden müssen, die da um uns herum kommen und gehen, ungerufen, unbedankt. Denn der Zwergerhof müßte in sich zusammenstürzen, käme der Lärm des Widerspruchs, so jetzt ob dem Kuß der Mariann die Wände entlang sich erhebt, der entstellenden Leidenschaftlichkeit der vielen fahlen Gesichter gleich. Der Spitzhut vor allem giert und geifert gegen das Friedens- und Liebeszeichen. Wirst wohl, du herrischer Spitzkopf, du, der Sebastian Kogler sein, der Hochmutsteufel von Anno dazumal, der noch auf dem Sterbebett dem zur Versöhnung mit dem Nachbarn mahnenden Pfarrer erwidert hat: »Ja, recht, warum nit? Aber erst wenn die Katz mit den Tauben übers Hausdach floigt, den Schwanz voran, und ehender nit.« Und wenn du schon der bist und auch die feuchte Totengruft nicht dein Hassen kühlt, brauchst du nicht selber auch Barmherzigkeit? Willst du denn ewig zwischen Himmel und Erde kreisen und niemals hören den sanften Ruf: »Nun, da du gesundet bist von deiner Erdenwirrnis, so komm und ruhe aus in mir!« Und Haß, Sebastian Kogler, ist Erdenwirrsal, und nur mit der Liebe ist das Paradies.

»Was schaust du? Was hast du?« fragt plötzlich der Franz, da die Mariann sich von ihm löst und befremdet in der Stube sich umsieht. »Nichts kann uns mehr trennen. Wir gehören zusammen für Leben und Tod.«

Indes, die Mariann begründet: »Es ist auf einmal so kalt, so unheimlich kalt. Grad als ob's geschauert hätt.«

Und der ganze Heimgarten nickt und lächelt ein »Glaub's gern«. Und auch das hat unser Thomas gesagt: Sind ihrer mehr beisammen, geht eine Kälte von ihnen aus, daß es unsereinen in seinem Schafspelzmantel noch frieren könnt.

»Jetzt spür ich's auch«, sagt der Franz. »Wie sonderbar!«

Aber schon schreit ihm das lautlose Plappermaul etwas zu, das wohl lauten soll: »Was da sonderbar, du Kogler-Zipfel? Durchaus natürlich; denn wer tagsüber fünf Schuh tief in der Grube liegt, kann abends unmöglich aufgewärmt daherkommen.«

Was geht das den Franz an? Sein Glück ist für ihn wichtiger. Und er zieht es aufs neue an sich und umarmt und küßt es. »Mariann, du, mir ist dieses Viertelstundenglück zu schön, als daß ich fragen möcht, was nachher sein wird.«

»Nachher?« sagt die Mariann und lächelt zu ihm auf wie ein Kind, dem man von etwas gesprochen hat, das sein Verstand nicht faßt. »Es wird immer so schön sein; denn immer bin ich bei dir. Immer und überall.«

Und jetzt, ihr Zwerger und Kogler, die ihr da an den Stubenwänden hin beisammen hockt aus tausend und mehr Jahren her, hört und seht doch – weil ihr nämlich schon wieder eure Mäuler zu höhnendem Grinsen verzerrt und verkrampft – hört und seht, wie eure Nachkommen, noch umringt von eurem Haß, für die Wesenheit der Liebe zeugen; denn nur sie hat mitten in der Bitternis des Lebens so süße Worte, wie sie jetzt die Mariann flüstert.

»Ich könnt dich stundenlang das gleiche fragen, Franz, und stundenlang das gleiche hören.«

»Also frag!«

»Du – du hast mich gern, Franz?«

»So gern, Mariann!« Und er umarmt und küßt sie. »So gern, daß es mir ist, als war ich erst jetzt zum Bewußtsein meines Lebens gekommen.«

»Sag's nochmal!«

»So gern, daß ich meine, jetzt erst ist's für mich Tag worden.«

»Und ich, ich hab nicht gewußt, Franz, daß 's auf der Welt so schön is.« Und Lächeln und Blick verklären das schlichte Liebeswort. Es erweckt sogar die trauernde Mutter dort an der Wand, daß sie die Hände vom Gesicht nimmt und sich aufrichtet und ein kurzer Abglanz des Kinderglückes, das Grab überwindend, über die Züge der Toten geht.

»Und ich nicht, Mariann, daß deine Liebe das Größte ist, was ich je erleben kann. Das Sterben müßt dagegen nur ganz was Kleines sein.«

»Red doch nicht vom Sterben, wo's Leben erst angeht!«

Das Sterben etwas Kleines? Das Sterben? Aber – einer der Seltsamen nickt gar zustimmend zu diesem Wort! Ist somit, von der unglücklichen Mutter abgesehen, der erste aus der ganzen Schar, dem endlich an den zwei jungen Leuten etwas paßt. Kann mir's auch denken warum. Erkenne ihn an der klaffenden Schädelwunde über die Stirn herein. Und an der besondern Bauerntracht, die heutigen Tags nur noch zu sehen ist, wenn die Oberlandschützen ausrücken oder einer sich das Bild der Bauernschlacht am Sendlinger Kirchl betrachtet. Der Leonhard Zwerger ist's aus der blutigen Weihnachtsschlacht von 1705, und es kann schon sein, daß ihm das Sterben etwas Geringes war; denn mit einem solchen Pandurenhieb ins Hirn hinein geht's schnell und leicht. Sein Prozeß mit den Koglerischen um die Schelchinsel unten im See, diesem Zankapfel der beiden Familien seit unvordenklicher Zeit, ist jedenfalls um vieles langsamer gegangen, und hätte nicht der jähblütige Johann Kogler die Geduld verloren und in der Hitz die ganze Prozessiererei hingeschmissen, der Landrichter Blunzer hätte vielleicht noch Jahre an der Rechtsfrage herumgetüftelt und zu Vergleich und Eintracht gemahnt, derweil draußen im Leben Zank und Zwietracht weitergingen. Oder ist es etwa nicht so, Johann Kogler, da vorn am Fenster? Jaso mit dem Reden haben sie es nicht, die Unrastigen, oder wenigstens nicht in der Art, daß unsereins etwas verstünde davon, mag einer, wie in diesem Augenblick der Johann Kogler zum Beispiel, auch noch so beredt seine Kinnladen auf- und zuklappen. Wird vielleicht ein Fluch gegen seinen Prozeßgegner von dazumal sein, was der Johann Kogler also kauend spricht; denn, hat unser Thomas erklärt und dazu den Zeigefinger gar eindringlich erhoben, sogar in der andern Welt prozessieren noch die Bauern fort.

»Hörst, Franz, nicht vom Sterben reden!« bittet die Mariann noch einmal.

Übrigens, auch die von drüben hören nicht gern davon. Ist ihnen zu langweilig, hat der Thomas Zehentner gesagt. Sie wollen das Leben sehen und hören, das verlorene Leben, und wollen saugen daran mit Aug und Ohr in unstillbarem Verlangen, bis daß der letzte ihres Blutes stirbt, ihr Lebenshunger erlischt und ihr Geist in Ewigkeiten Ziel und Heimat findet.

Nichts aber, hat der Thomas gesagt, ist ihnen lieber als ein Triebauf und Durcheinander ohnegleichen, das ist ein Geschehen voll Sinnenglut und Handlungssturm; denn, hat er erläuternd beigefügt, sogar im Jenseits noch möchte der Mensch gerade das, was er selber nicht hat.

Jetzt hört man Schritte vor dem Haus. Eilig von einem der vier Fenster weg sich entfernende Schritte. Und hätten die zwei drinnen auch nur für eine kleine Ablenkung Zeit gehabt, sie hätten zuvor einige Augenblicke lang hart an der Glasscheibe des einen auf den Hofraum gehenden Fensters ein sehr angelegentlich in die Stube blickendes Gesicht sehen können, das Gesicht des Pfannamichl, das jetzt der Langbeinige mit Siebenmeilenschritten dem Koglerhof zuträgt.

Dort, in der mehr und mehr sich breitenden Abenddämmerung späht der Michl sich schier die Augen nach der Nelly heraus. Birscht sich, da er endlich das Mädel über den Hof gehen sieht, vorsichtig an – denn er möchte doch um keinen Preis dem Bauern in die Hände laufen – und macht zuletzt, die Stimme dämpfmd: »Bst! Bst! Nelly! Du! Paß auf! D' Äpfi san zeitig! Gschwind! Geh mit mir!«

»Laß mi in Ruah! Depp, damischer!«

»Magst as denn not beinander sehgn, dö zwoa? San in unserner Stuben drin glei no hoamlicher mitanander, als wia s' vor 'm Wurzenhäusl gwen san.«

»Wer?«

»Ja wer denn sunst als enker Hochwürden und unser Mariann?«

Da gibt es nun allerdings für die Nelly kein Halten mehr, und wie im Flug ist sie hinter den Siebenmeilenschritten drein zum Nachbarhof hinüber.

»Stell di nur dort hart ans Fenster hin! Dö zwoa drin sehgn di nöt vor lauter Schnäbeln und Busseln.«

Die Nelly stellt sich ans Fenster und äugt – und mit welcher Begier! – in die Stube.

»So, ja, scho recht«, flüstert der Michl. »Siehgst, wia s' anander abschmatzen!« Er selbst schaut über des Mädchens Schulter weg der Liebesszene zu. »Ha, ha, ha!« kichert er. »Tuat dös dem hochwürdigen Herrn so sauwohl!«

Und somit sieht die Nelly, daß nur noch dieser eine Zweifel möglich ist: hält da drinnen der Franz die Mariann oder die Mariann den Franz umschlungen? Weil aber die Nelly nicht so pedantisch veranlagt ist, daß sie augenblicklich für das Vordringlichste die Aufhellung besagter Ungewißheit hielte, und weil sie andrerseits für ihren blitzartig sich aufdrängenden Entschluß auch gar nicht mehr zu sehen braucht, so rennt sie, so schnell nur ihre flinken Beine sie tragen, zurück zum Koglerhof. Und auch der Pfannamichl hat sich genug gesehen und geht befriedigt in seine Kammer.

In der Stube aber geht das Liebesspiel weiter um Blick und Kuß und Wort und Lächeln, und starrte ihm nicht der Haß jahrhunderttief entgegen, es müßten von der Reinheit dieses Liebesglücks und seiner Bildkraft sogar die unbarmherzigen Toten sich rühren lassen und noch in ihrer Grabessprache hauchen: wir grüßen dich, ewige Jugend des Lebens!

Plötzlich aber kommt es anders über den Franz. »Und was wird in einer Stunde sein, Mariann?« fragt er ernst.

»Du.«

»Und was wird morgen sein?«

»Du.«

»Und was in Monaten und Jahren?«

»Für mich nur immer du. Nur du.«

»Und so, von dieser Stunde an, Mariann, sollst auch für mich du alles sein: mein Weg und mein Ziel.«

Auffallend, daß die an den Wänden hin gerade darüber sich nicht erregen. Gerade als ob ihnen auf einmal alles recht wäre oder doch gleichgültig. Selbst der Liebes- und Treuschwur, von den Zärtlichkeiten nicht zu reden, die sie doch bisher bloß verlacht und verhöhnt haben. Oder fühlen sie etwa – denn schon der Thomas Zehentner hat uns gesagt, daß sie dafür eine ausgezeichnete Witterung haben, schier, hat er gesagt, eine Nase wie die Vorstehhunde – fühlen sie etwa den nahenden Schritt des Schicksals? Weil nämlich niemand mehr auf die zwei Liebenden schaut, alle nur auf die Tür ihre starren Augen richten.

Und die Tür geht auf, und herein kommt der Vater der Mariann, bleibt aber nach ein paar Schritten stehen, unsicher, ob das, was er sieht, eine Täuschung ist oder die Wirklichkeit: nämlich seine Tochter in den Armen des – Primizianten. Des Jungpriesters. Des Koglerbauernsohnes; und die Arme seiner Tochter um den Hals des Sohnes seines Feindes. Und er fährt sich deshalb mit der Hand über die Augen.

»Ja, Vater, es is schon so«, bestätigt ihm jedoch sein eigenes Kind, ohne sich von der Stelle zu rühren oder vom Franz zu lösen. »Der Franz und ich sind eins. Und wir lassen nimmer voneinander.«

Der Zwerger schweigt noch immer.

Da geht der Franz, die Mariann an der Hand, auf ihn zu. »Nachbar,« sagt er, »ich versteh Eure Überraschung. Es ist aber alles für uns zwei« – er weist auf sich und die Mariann hin – »grad so unerwartet gekommen, und darum haben wir Euch vorher nichts sagen und hab ich Euch nicht früher um die Mariann bitten können. Aber jetzt tu ich's: Nachbar, ich bitt Euch – gebt mir die Mariann zur Frau!«

»Ja, Vater, der Franz und ich, wir lassen nimmer voneinander.«

Der Zwerger schweigt noch immer.

Er ist keiner von denen, die das Maul zu früh aufmachen und die, wenn es einmal in Gang ist, es nicht mehr zubringen. Er ist ein wortkarges, verkniffenes Männlein, bei dem die kleinen, siechenden Augen von Haus aus mehr zu sagen hatten als der meist fest geschlossene Mund. Er hat sich so daran gewöhnt, in Handel und Wandel immer erst die andern mit ihrer Red herauszulassen, daß er auch in dieser Angelegenheit schweigend wartet.

»Vater, glaub's: der Franz und ich, wir gehören zamm, und nichts kann uns mehr trennen.«

»So?« sagt der Zwerger als sein erstes Wort.

»Nachbar, ich bitt Euch nochmal: gebt mir die Mariann!«

»Du bist ja doch a Geistlicher. Derfa 'leicht dö Geistlichen heiretn? Und seit wann? Und wo is dö Pfarrei, auf dö du heiretn willst?«

»Ich bin kein Geistlicher mehr, Nachbar. Noch vor einer halben Stund, wie ich in Euern Hof herein bin, um euch allen den Segen zu erteilen, war ich's. Jetzt bin ich frei.«

»Dös geht gschwind bei dir«, sagt der Zwerger, und alles sagt er so ruhig und beherrscht, und nur die Blässe seines Gesichts läßt auf Erregung schließen. »Hab alleweil ghört, Geistlicher bleibt oaner sei Lebtag.«

»Aber doch sicher nicht länger, als er will.«

»Soso«, sagt der Zwerger. »Du muaßt as freili besser wissen. Hast ja so lang studiert drauf. So lang! Daß 's schier schad is, wannst as iatz so gach wegschmeißt. Aber laß da sagen: oans hast bei deiner Gstudi, scheint mir, doch übersehgn – oder is 's 'leicht in dein Büachl nöt drin gstanden? – daß 's nämlich dö größt Schand is, wenn oaner sei geistliche Weich wia a alts Hemad wegschmeißt. A solchene Schand, daß si nur bloß a ganz a schlechts Mensch an an solchenen Hurenkerl hinhängen ko.«

»Vater!« schrie da die Mariann auf und warf sich vor dem Bauern auf die Knie und hob die Hände bittend zu ihm auf. »Vater, mach mi nöt schlecht! I bin's nöt.«

Er aber wehrte sie mit einer Bewegung und dem Ausdruck des Abscheus von sich ab. »Verfluachte Matz!« murmelte er zwischen den Zähnen. »I will di nimmer sehgn! Heut nimmer und morgen nimmer und gar nia nimmer!«

»Vater nicht!« schreit die Mariann mit bittenden Händen zu ihm auf.

Und in diesem Augenblick, da er den Schmerz der Mariann und ihr vergebliches Bitten und Flehen sieht, wirft sich dem Bauern auch der Kogler Franz zu Füßen: »Nachbar, Barmherzigkeit!«

Der Zwerger aber hat für Demut und Bitte nur das verbissene Wort: »Hurenbagaschi, verdammte! Marsch aus mein Haus! Oder –«

Und wie die sittsamen Schulkinder sitzen schon seit dem Eintritt des Zwerger die vielen Unheimlichen an den Wänden hin da. Wie brave Schulkinder, so still und aufmerksam, auf daß ihnen ja nichts entgehe von dem wertvollen Anschauungsunterricht über das heute zwischen den Hügelhöfen obwaltende Gefühl: Haß oder Liebe.

Jetzt geht aber noch einmal die Tür auf und herein stürmt, von der Nelly herbeigeholt, der Kogler. Seit ihn damals der Pfannamichl hinausgeworfen hat, ist er nicht mehr im Zwergerhof gewesen. Und darf jetzt nicht sehen, wie der Zwerger vor dem Sohn des Koglerbauern kniet, muß vielmehr die Umkehrung seines Haßgebildes, mit dem er die vielen Jahre her sich selbst umschmeichelt hat, erleben: – muß sehen, wie vor seinem Todfeind kniet sein eigener Sohn und muß hören, wie der eben noch einmal fleht: »Nachbar, Barmherzigkeit!«

Da hat die Wut in jähem Überfall den Koglerbauern aller Menschlichkeit beraubt, also, daß er in viehischem Ansturm auf seinen Sohn zustürzte und ihm ins Gesicht spie. Und er schrie: »Hurenbock, ausgweichter! Verfluacht sollst sei mitsamt dein scheiheiligen Saumensch!«

Aber schon hatte der Franz sich erhoben und mit ihm sich die Mariann, die seine Hand ergriff. Und so, Hand in Hand, flohen sie beide aus dieser Hölle, die hinter ihnen alsbald wieder zu der großen, stillen Bauernstube wurde mit den vier Fenstern auf Hof und See, zu denen jetzt schon allgemach die Dunkelheit hereinkam, und mit der ausgiebigen Bank um die vier Wände herum, darauf so gut Heimgarten halten sein müßte und jetzt wieder Platz genug war fürs halbe Dorf. Ist aber nur der Zwerger ganz allein da und geht die Stube auf und nieder, auf und nieder, die Hände auf dem Rücken und den Kopf gesenkt. Und immer mehr kommt zu den Fenstern die Nacht herein.


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