Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwei Reisen

Der und der eine zweite Heimat gefunden – und mit dem Pfarrer Lambert reden – von diesen zwei Gedanken kam der Franz nicht weg. Nicht im Wachen und nicht im Schlaf; denn selbst in den Traum hinein glitt es ihm nach: Eine zweite Heimat suchen! und: Sich einem anvertrauen! Nur schien ihm der Pfarrer Lambert bei aller Güte und Teilnahme nicht der Rechte dazu: alte Leute sind auch für die Entschlußkühnheit andrer zu zaghaft.

Indes, ein andrer tauchte bei solcher Gedankenfolge in Franzens Erinnerung auf: der Hochschulprofessor Woitschek, der, in aufrichtiger Sympathie ihm gewogen, des öfteren und so zuletzt noch beim Abschied gesagt hatte: »Wenn Sie je einen Freund brauchen, Kogler, denken Sie daran, daß Sie in mir einen haben!« Und so dachte er also jetzt daran; denn jetzt war es ihm, als brauche er einen. Und mit solchem Nachdruck legte sich ihm jene gewichtige Äußerung in den Kreislauf seiner Erwägungen hinein, daß er trotz aller Zweifel sich versucht fühlte, sie wenigstens nicht unerprobt zu lassen.

Und somit wandert der Franz bereits an einem der nächsten Morgen zur Station Samkirchen hinüber, sitzt auch schon alsbald in der Eisenbahn und dampft die Strecke zurück, die er vor drei oder vier Wochen hergekommen ist. Damals bedrückt und verdüstert von der Sorge um Afra, jetzt zerrissen und gequält von den Erlebnissen seitdem. Er ist allein in seinem Abteil und hat darum Muße genug, in Gedanken für den Professor Woitschek sozusagen eine Übersicht herzustellen von seiner Stimmung, ihren Beweggründen und Folgerungen. Und so klar ist er sich darüber, daß er die einzelnen Punkte und Unterpunkte, wie das die Professoren von ihren Lehrbüchern und Kommentaren her so lieben, mit Groß-A, Groß-B, Klein-a, und Klein-b, mit Griechisch-α, Griechisch-β und so fort bezeichnen könnte, wenn auch die Resultante immer nur ein und dieselbe ist: Freiheit und Wahrheit.

Dann aber steigt eine Frau zu ihm ein und eröffnet gar bald die Unterhaltung. »Verzeihen S'«, fagt sie, »und nehmen Sie's nicht übel! Aber sind jetzt Sie nicht der Herr Primiziant Kogler von Würfling?«

Ja, der sei er allerdings, bestätigt der Franz.

»Wissen S', ich bin früher gar oft nach Würfling kommen. Weil ich vom Würflinger Bäck die Woch zweimal 's Brot hab holen müssen. Aber no, seit einem halben Jahr haben wir in Unterwiesen selber eine Bäckerei und da braucht 's dös nimmer. I bin nämlich die Kramerin von Unterwiesen.«

Das freue ihn, sagt der Franz.

Und der hochwürdige Herr Primiziant, meint die Kramerin, könnte ihr gewiß in einer sehr wichtigen Sache die denkbar beste Auskunft geben, wenn er erlaube, daß sie ihm die Angelegenheit darlege.

Was bleibt da übrig? Man muß schon. Und also legt die Kramerin dar:

Sie habe sechs Kinder, das älteste fünfzehn und das jüngste vier Jahre, und was das für eine Witfrau heiße, das wisse ein jeder. Unter diesen sechs Kindern nun befinde sich eines, der elfjährige Ludwigl nämlich, das ein wahrer Ausbund von Intelligenz sei und deshalb vom hochwürdigen Herrn Pfarrer aus zum Studieren kommen solle.

»Trägt also der Herr Pfarrer alle Kosten?«

Alle ja gerade nicht, sagt die Kramerin, aber schon mit Hilfe, sie wisse nicht mehr, welcher Stiftung den größten Teil; doch bleibe an ihr, der Kramerin, allerdings auch noch ein Stück hängen. Aber der Ludwigl sei eben dermaßen talentiert, daß er alle Kosten leicht wieder hereinbringe. Ja, er sei eigentlich eine Kapitalsanlage.

»Und was sagt der Ludwigl dazu?«

»Der Ludwigl? Ja, den hab ich noch nicht gfragt; denn man weiß ja doch, wie die Kinder sind, Herr Primiziant. Es fehlt ihnen noch zu sehr der Verstand. Und so sagt halt der Ludwigl immer, seit wir einen eigenen Bäcker in Unterwiesen haben und der Ludwigl 's Brot austragt, er will nur Bäcker wern und sonst nichts. Aber der Herr Pfarrer sagt, er bringt den Buben, wenn ich will, ins erzbischöfliche Knabenseminar. Und was sagen jetzt Sie, Herr Primiziant: werden mich da noch sehr hohe Kosten treffen?«

»Das weiß ich nicht. Aber ganz bestimmt weiß ich, daß Sie zu allererst den Buben fragen müssen, was er werden will. Und bleibt er auf der Bäckerei bestehen, gut, dann machen Sie einen Bäcker daraus und sonst nichts. Verstehen Sie?«

Der Kogler Franz hat das mit Heftigkeit an die Frau hingesagt, so daß die auf einmal ganz verdutzt dasitzt und den Primizianten groß anschaut wie etwas noch nie Gesehenes. Den Mund hat sie dabei halb offen, kurz, der Kogler Franz geht über ihr Fassungsvermögen.

»Ja, ja,« sagt er darum, »es ist schon so, wie ich sag: zuerst der Bub. Und erst recht, wenn er so intelligent ist, wie Sie sagen. Es muß nicht jeder Gescheite studieren, und Bäcker und Bauern wollen auch nicht bloß die Dummen kriegen.«

»Da bin ich jetzt schon ganz verhofft«, sagt die Kramerin von Unterwiesen; »denn so was hab ich grad von Ihnen, Herr Primiziant, nicht erwartet.« Und sie schüttelt den Kopf wie jemand, der nun einmal etwas nicht verstehen kann.

Es ist auch so nach und nach die Zwiesprach ins Stocken geraten und zuletzt ganz verstummt. Übrigens stieg die Frau bald aus.

Und dann, nach ein paar Stunden, stand der Kogler Franz vor dem Professor Woitschek. Der saß an seinem Schreibtisch im behaglichen Armstuhl und lud den Franz ein, auf dem für Besuche minderen Grades bereitgestellten Sessel, schräg vor ihm, Platz zu nehmen. Sein Gesicht war aufgeschlossen, sein Benehmen eine Mischung von Bonhomie und Würde. Erhoben hatte er sich wegen dieses, dem sanften Kollegienzwang kaum entronnenen Jüngers nicht.

»Und nun, mein lieber Kogler, was wünschen Sie von mir?«

So und jetzt leg los! Vor dem ordentlichen, öffentlichen Professor der Gottesgelehrtheit, dem Doktor utriusque iuris, dem Geistlichen Rat, dem päpstlichen Hausprälaten! Ja, wenn es um die Befreiung vom Kollegiengeld ginge oder um ein Stipendium oder eine Promotionsschrist und ihre Druckkosten oder um Examensschwierigkeiten! Aber sag ihm, du habest in seiner Suppe ein Haar gefunden und das hätte dir die weitere Eßlust verdorben, also, daß du es für besser und würdiger hieltest, dich an einen andern Tisch zu setzen! Und frag ihn, ob er einen solchen wüßte und dir etwa einen Platz daran vermitteln könnte und wollte! Und du wirst sehen, wie das offene, gutmütige, jugendfreundliche Gesicht Zug um Zug sich schließt, eine knappe Strenge annimmt und gegnerischen Abstand wahrt.

Der Franz sah nicht nur diesen langsam, aber stetig sich steigernden Wandel, sondern stählte daran als echter Kogler, den Widerstand nur unbeugsamer machte, sogar Willen, Kraft und Geist zu einer Beredsamkeit, die selbst des Professors schnell geweckte Abneigung aufhorchen ließ. Der Schwung der Gedanken und ihre geordnete Reihung, der Schmuck der Sprache, der zwanglose Vortrag mit klangvoller und doch schmiegsamer Stimme zeugten ebenso für angeborene Begabung wie erworbene Bildung und somit für Eigenschaften, die schon im allgemeinen ihrer seltenen Häufung wegen bewundert, an einem Priester aber ganz besonders gerühmt zu werden pflegen. Den Professor Woitschek, der anfänglich mit ganz grobem Geschütz hatte antworten wollen, veranlaßten sie sogar, zuletzt dieses zu sagen: »Herr Kogler, ich kann für Sie nichts tun. Wenn Sie mich an mein wiederholtes Versprechen erinnerten, gegebenenfalls für Sie hilfsbereit als väterlicher Freund einzutreten, so möchte ich feststellen: es bezog sich das selbstverständlich nur auf Möglichkeiten innerhalb des priesterlichen Berufes. Was Sie mir jedoch erzählen, liegt außerhalb. Für einen, der seinem durch die Priesterweihe für immer besiegelten Stand den Rücken kehren will, kann und will ich nicht eintreten. Das einzige, was ich für Sie tun kann, ist das Versprechen, daß alles, was Sie mir gesagt haben, unter uns bleibt, und ist die Mahnung: Überwinden Sie die augenblickliche Versuchung durch Gebet und Demut und erhalten Sie Ihre Begabung, dieses Geschenk Gottes, dem auserwählten Stande seiner Priester! Damit Gott befohlen!«

Er reichte dem Franz die Hand, und der Franz war draußen.

Auf der Heimreise unterbrach er die Fahrt in Brunnselden. Denn in dem ansehnlichen Marktflecken wohnte, schon von der ersten Klasse des Gymnasiums her mit Franz befreundet, der Blum Michl, eines kinderreichen Kleinhandwerkers Sohn, der nur deshalb erst um zwei Jahre später mit seinem Theologiestudium zu Ende kommen sollte, weil er, ganz andere Rosinen im Kopf, nicht gleich vom ersten Hochschulsemester an sich dem Priesterstande ergeben wollte, sondern sich erst, wie seine begnadeteren Kommilitonen es nannten, in einer anderen Fakultät die Hörner abstoßen mußte. Es hatte nämlich der Blum Michl, obwohl mit dem Kogler Franz aus klerikaler Mittelschule hervorgegangen, anfänglich Geschichte und Philologie studiert. Gerade aus diesem Grunde aber suchte der Franz ihn auf und erzählte ihm von seiner mit dem Professor verlebten Stunde.

»Ich versteh dich gar nicht«, sagte der Blum Michl. »Wie hast denn nur grad zum Woitschl laufen können! Hast denn wirklich geglaubt, der wird dir helfen, wenn du ihm sagst: Adje und i mag jetzt nimmer? Selbst wenn er dir helfen möchte, könnte er nicht; sonst wackelt er selbst mit seinem ganzen Katheder. Franzi, ich hätt dich für gscheiter gehalten. Aber aufrichtig gesagt: ich hab dich schon früher nicht verstanden. Du mit deinem Haufen Geld! Heut noch lauf ich ihnen davon und kriegen tun sie mich ein zweites Mal nicht mehr, wenn ich deinen Geldsack hab.«

»Auf dem der Vater draufsitzt«, ergänzt der Franz aus seinem Nachsinnieren heraus.

»Dafür gibt's ein Recht, mein Lieber, und ein Gericht und eine Pflicht des reichen Vaters, seinen Sohn nicht verhungern zu lassen.«

»Pfui!« sagt der Franz.

»O ja; gewiß; kann man sagen. Aber dann, bitte, nicht lamentieren, sondern ertragen. So wie ich auch und wie alle andern im Priesterseminar. Oder doch sicher neunzig Prozent davon.«

»Oho!«

»Du hast eine Idee! Gib einem jeden von uns deine Möglichkeiten, und wie viel, glaubst du, daß noch drin bleiben?«

»Warst ja doch selber schon draußen und bist wieder hinein!«

»Weil's immer noch leichter ist, drinnen Theologie zu studieren als draußen zu hungern. Zwei Jahr Hab ich's ja ohnehin ausgehalten. Dann aber grad noch im letzten Augenblick, bevor mir die Kartoffelstauden hinten rausgewachsen sind, – bin ich nach Kanossa gegangen. Zum Woitschl. Und der hat mich räudiges Schaf liebend aufgenommen. Ich meinerseits Hab mich abgefunden: die Weltgeschichte kommt ohne mich auch ans Ziel, soviel ich sehe, die Altphilologie wird sich auch ohne mich gegen die faulen Schlingel zu behaupten wissen, und mein Lebensunterhalt ist gesichert. Dies aber ist für einen armen Teufel, der nun schon einmal durch Gottes Zulassung von der humanistischen Windmühle ist erfaßt worden, das Wesentliche.«

Da war nun freilich der Kogler Franz genau so gescheit wie zuvor und setzte in dieser Erkenntnis die Heimfahrt fort. –

Zur selbigen Zeit war auch die Mariann in die Hochspannung banger Verworrenheit hineingeraten: hier drängte der Vater auf endgültige Entscheidung bezüglich seines Schlickerwast-Projektes, dort verstrickte der Jugendfreund, anstatt ihr Ruhe und Versöhnung zu bringen, sie in seine eigene Wirrnis.

Dem frommen Heimatbrauch in derlei Zwiespalt folgend, sagte sie zum Vater, sie möchte noch eine Wallfahrt zu Unsrer lieben Frau nach Buchenstein machen, und der Vater, die fromme Heimatsitte ehrend, sagte nichts dawider. Und so wanderte denn auch die Mariann, jedoch zwei oder drei Tage vor dem Franz, nach Samkirchen, bestieg dort ebenfalls die Eisenbahn, fuhr aber in entgegengesetzter Richtung, d. h. weiter dem Gebirge zu, nach Hohenzell, dem Einfallstor für Buchenstein.

Das liegt schon tief in den Bergen, so klein und sonnig und wunderlieblich wie ein verlorenes Kindesgebet. In dreistündiger Wanderung, einem rauschenden Wildwasser entgegen, wird es von Hohenzell aus auf schmaler Talstraße erreicht. Winters nur von Holzfuhrwerken befahren, ist der Weg in der kurzen Sommerzeit fast belebt; denn der Ruf Buchensteins für Gebetserhörung aller Art ist ausgezeichnet. Einzeln, in Gesellschaft und in schlichten Prozessionen mit Kirchenfahne und Priester kommen und gehen da die frommen Waller nach und von dem Gnadenort, und manch einer oder eine tut noch ein übriges durch allerlei selbst auferlegte Erschwerungen, um so Bitte und Gebet besonderer Würdigung zu empfehlen. Auch zum Dank, o ja, für diese und jene Schicksalsgunst erscheinen die Leute; doch sind solcher nicht zu viele.

Die Mariann ging allein. Mit ihren Gedanken, Sorgen, Zweifeln, Bangigkeiten und Ängsten allein. Und sie hatte die Entfernung Hohenzell–Buchenstein sich nicht so groß vorgestellt. Schon zwei Stunden ging sie und noch war kein Ende abzusehen, und soviel bei dem beengten Ausblick zu erkennen war, stiegen Wetterwolken auf. Sie gedachte daher, eine ihr entgegenkommende Bäuerin zu fragen, wie weit es wohl noch nach Buchenstein sei. Schnellen Schrittes und barfuß kam die Frau daher, in der Rechten eine brennende Laterne – beim hellichten Tag. Und selbst als die Mariann sie fragte, verlangsamte die Frau ihren Gang nicht, geschweige denn, daß sie stehengeblieben wäre. Die Mariann wiederholte darum ihre Frage. Umsonst. »Hast 'leicht a Gelübde gmacht? Weilst nix sagst und so rennst.« Die Frau nickte aber nur und eilte weiter.

Bald schon fielen die ersten Regentropfen; dann sah es sogar bedenklich nach Landregen aus. Aber die Wolken waren noch zu hoch dafür und die Regentropfen zu groß. Immerhin hatten zahlreiche Frauen einer ländlichen Bittprozession, die jetzt, auf der Rückkehr von Buchenstein, laut betend an der Mariann vorüberwallte, bereits fürsorglich zu Schutz und Schonung die rückwärtige Hälfte ihrer Feiertagsröcke über die Schultern geschlagen. Eine darunter aber, eine handfeste Bäurin, hat dabei versehentlich auch ihren einzigen Unterrock mit emporgenommen und da sie, wie sie oft schon sich gerühmt, ihrer Lebtag noch kein Beinkleid an sich hingebracht hatte, so war ihr augenblicklicher Aufzug eigentlich wenig gottesdienstlich. War aber doch andrerseits auch nicht so, daß die hinter ihr her betende Männerwelt daran hätte Ärgernis nehmen müssen. Sie schmunzelte lediglich. Und als die Frau endlich ihres Versehens inne ward und, schnell fertig, wie Frauen nun einmal sind, die Verantwortung für ihren Fehlgriff einfach dem Gatten aufbürden wollte, weil der, obwohl unmittelbar hinter ihr schreitend, zu allem geschwiegen habe, da rechtfertigte sich der zu Unrecht Belastete mit der Erklärung: »I han gmoant, du hast as als Buaß aufkriagt.«

Bald indes, wie es überhaupt ein wetterwendischer, schwüler Tag gewesen war, hörte der Regen wieder auf. Auch traten die Hänge zu beiden Seiten der Straße mehr und mehr zurück und lag zuletzt vor der Mariann in einem anmutigen, vom Gipfel des Hochkiring beherrschten Bergkessel das Dorf Buchenstein mit seinen wenigen Häusern, seiner behäbigen Gastwirtschaft und seinem uralten, spitztürmigen Gnadenkirchlein. Die Mariann besorgte sich ein Nachtquartier, stärkte sich und suchte dann die Kirche auf.

Dort waren, die letzten Stunden des Tages zu nutzen, schon eine stattliche Anzahl Wallfahrer versammelt, deren Augen flehend an dem wundertätigen Marienbildnis über dem Hauptaltar hingen. Viele, von den Andächtigen vor dem Altar aufgesteckte Wachskerzen erhellten die den Raum füllende Dämmerung. In einem Beichtstuhl spendete der Wallfahrtspriester das Sakrament der Buße.

Die enge Traulichkeit des Raumes mochte die Vorstellung des Mütterlich-Familienhaften wie das Gefühl des Geborgenseins erwecken, und Vorstellung und Gefühl hinwiederum öffneten den Wünschen und Sehnsüchten, so gerade die Stunde regierten, die Tür. Und was nun da alles vor der mild darauf herabblickenden Gottesmutter zum Vorschein kam, das läßt sich nicht beschreiben, es sei denn, daß einer das ganze Heer menschlicher Bedrängnisse vorführen könnte. Körperliche Gebreste und geistige Mängel hinauf bis zum Großvater, herab bis zum Enkelkind, Trunksucht des Mannes und Untreue der Frau, Geiz und Härte der Eltern und Großeltern, Undank der Kinder, Unbotmäßigkeit der Dienstboten wie Feindseligkeit der Nachbarn, fehlender oder zu kräftiger Kindersegen, Heirat und Zwangsversteigerung, Erbschaftsstreit und Fahrtrechtsprozeß, Roßtausch und Betrugsverfahren, Viehseuchen, Mißwachs und Mäuseplage, Steuerdruck und Gemeindewahl – alles, alles und vieles in höchst einseitiger Darstellung wurde da vor der Mutter des Herrn ausgebreitet, auf daß sich alles zum Guten wende.

Es wurde Abend. Die Wetterwolken hatten sich vor die untergehende Sonne gelegt. Sie befreite sich aber noch einmal und ihr letzter Strahl traf die Stirnseite des Kirchleins, durchdrang die zwei vielfarbigen Fenster und breitete durch die Dämmerung einen bunten Teppich von den Stufen des Altars bis zurück zur Kirchentür. Die knarrte in diesem Augenblick, und ein bloßfüßiges Mädchen, in den Händen einen wirren Blumenstrauß, das Gewand voller Flicken, kam herein. Schritt unhörbar über das Sonnenspiel vor zum Altar und legte die Blumen unter das Madonnenbild, schnell und wunschlos, nur weil sie draußen in seine Sommerfreude so hereingewachsen waren. Und auf dem Sonnenstrahl entfernte sich wieder das Kind. Wieder knarrte die Tür, die Sonne war weg.

Die Beter gingen. Die Kerzen brannten aus, eine nach der andern. Die Mariann allein blieb in dem zunehmenden Düster. Und jetzt erst erschloß sie, als hätten vorher die andern ihre Gedanken hören können, ganz ihr Herz: »... und wenn meine Lieb zu ihm sündhaft ist, indem daß er die Priesterweih empfangen hat, dann zeig mir, du gütige, du trostreiche Mutter der Betrübten, du sichere Führerin der Blinden, – zeig mir, was ich für ein Opfer bringen soll! Denn für ihn und um ihn ist mir keins zu schwer.« Und es war ihr für einen Augenblick, als lächle, jenseits aller Erdenqual, aus einem ewigen Tag das Altarbild mild und verstehend ihr zu. Und in dieser Vorstellung verließ sie die Kirche. Draußen aber umfing die Dunkelheit Leib und Seele.

Denn mittlerweile war das Gewitter heraufgekommen. Aus schweren Wolken, die ein plötzlich sich erhebender Südsturm über das Tal hinwegtrieb, schlugen die ersten Tropfen herab. In den Fichten und Tannen verfing sich die Nacht. Nur über den Bergen auf der Westseite lag noch, vom Sonnenuntergänge her, eine fahle Helle, ein unheimliches Licht, und mitten drinnen, scharf sich abhebend, stand das Kreuz des Hochkiring. Am Kreuz vorüber, gleich mitleidigen Schleiern, wallten und wogten zerrissene Wolken, grau und gelb, und wie verhüllte Trauergestalten, im Schmerz sich beugend und wieder aufrichtend, standen die wehenden Bäume den dunklen Berg hinan. Solches Naturgeschehen spiegelt sich mit schweren Schatten in den Seelen wider. Spiegelte sich auch so in der Seele der Mariann.

Unter solchen Schatten stand sie, als sie vom Fenster ihres Zimmers aus zum Hochkiring und seinem Kreuz hinüberschaute, während grelle Blitze die Nacht des Tales zerrissen und auf Sekunden die aus seiner Vereinsamung hinausführende Straße erkennen ließen. Unter solchen Schatten flüsterte sie: »Zeig mir auch den Weg, der aus meiner Nacht hinausführt, allerseligste Jungfrau Maria!«


 << zurück weiter >>