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Nur im aufsteigenden Jahr

Es ist schon wahr: Ruhe kann in den Bauernstand nicht hineinkommen. Ist es nicht der miserable Zollschutz, der die Gemüter in Wallung bringt, so tun es um so sicherer die unsinnig hohen Steuern und Umlagen oder die Aufsässigkeit und Landflucht der Dienstboten. Und die Behörden schauen zu und verlassen sich auf den lieben Gott, der ihrer Meinung nach ohnehin alles, was zum Leben gehört, Getreide und Brot und Milch und Fleisch, den Bauern in die Stuben hineinwachsen läßt.

Wär' freilich recht das, ist aber nicht so, und als Beweis dafür dient schon allein die Schellmoser Zenzl, die Störnäherin. Dreihundert Tag im Jahr flickt und schneidert sie auf den Bauernhöfen herum, an Hemden und Spensern, an Hosen und Röcken, und dreihundert Tag im Jahr müssen die Bauern sie bar entlohnen. Wächst Bargeld auch in die Stuben hinein? Und dazu macht sich dann die Regierung, wenn es ihr gerade einfällt, noch den Spaß, die Zenzl nach Belieben in ihrem Tagwerk aufzuhalten oder gleich gar von ihrer Arbeit zu verscheuchen. Warum und wieso, wird man sogleich sehen.

Das Anthropologische Institut der Universität München nimmt nämlich seit einiger Zeit an der Bevölkerung des Alpenvorlandes Messungen vor, um aus Körpermaßen und Blutgruppen Rassenmerkmale festzustellen, die hierlands besonders ausgeprägt sein sollen, und eine eigene Regierungskommission bereist zu diesem Zweck die Gegend.

Als nun die Abordnung auf dem noch zur Gemeinde Würfling gehörigen Einödhof in Rinnsteig ihrer Aufgabe obliegt, da weist der schlitzohrige Rinnsteiger zum Schluß nach dem Obergeschoß und sagt: »Da droben, meine Herrn, da hätt i halt no oane, a ganz a seltsame; dö wann S' no vermesseten, i woaß 's gwiß, dös taat Eahna nöt reuen.« Droben aber sitzt die Schellmoser Zenzl auf der Stör, im Schmuck ihrer Tugenden, als da sind Fleiß und Geschicklichkeit, doch auch im Vollbesitz ihrer Mängel, als welche nun einmal allenthalben gelten ein Buckel wie ein inwendiger Rucksack und eine Halsschwarte wie von einer Kuh.

Ganz heiß ist die anthropologische Studienkommission auf die verheißenen Rassekennzeichen und kaum zurückzuhalten in ihrem Forschungsdrang. Der Rinnsteiger indes sagt, man müsse die Zenzl erst vorbereiten, und dazu brauche es bei dem unwirschen Weibswesen Zeit. Worauf die Kommission für diesen Tag sich entfernt, um am nächsten noch einmal vorzusprechen. Die Zenzl jedoch erklärt, hinunterrutschen, ja, könnten ihr die Stadtherrn den Buckel, abmessen aber nicht, und bleibt der Sicherheit halber tags darauf überhaupt aus.

Sie hockt sich dafür, wiederum mit allen Tugenden und Gebresten, zum Zwerger nach Würfling, und weil die Reihenfolge ihrer Störplätze dem Rinnsteiger nicht unbekannt ist, so setzt das Schlitzohr die enttäuschte Kommission auf die neue Fährte. Und somit marschiert die Anthropologie gegen Würfling und den Zwergerhof auf.

»Was?« schreit aber die Zenzl, da der Zwerger sie benachrichtigt: »San s' heut da aa scho wieder! Dös is ja do dö reinste Unschuldsverfolgung!« und packt eilends ihre Siebensachen und entweicht, während die Kommission vor dem Haus auf das Kabinettstück wartet, durch die Hintertür. »Heut fahr i no zu meiner Basen auf Tölz nei«, schreit sie noch. »I ko mir mei Brot anderswo aa verdean.«

Und die Schellmoser Zenzl kommt auch nicht mehr. Beim Rinnsteiger und beim Zwerger liegen halbfertige oder gar nur halb zugeschnittene Hemdlein und Hemden, und in mindestens drei Gemeinden schimpfen die Bäuerinnen tagaus, tagein über die ihnen unverständliche Übergenauigkeit der Regierung. »Warum a so a alts Leut no vermessen?« fragen sie in ihrem aufgewühlten Rechtsgefühl. »Daß der Zenzl ihr Hals a bissei z' völlig und ihr Buckl nöt ganz pfeilgrad is, dös sell ham ma ja so gwußt, und auf an viertel oder an halben Meter geht's ja da gar nia nöt zamm. Derf denn der Bauernstand gar koa Ruah nöt kriagen!«

Der Zwerger Mariann hat aber die Zenzl, bevor sie ausgerissen ist, noch dieses aufs Herz gebunden: Kein größeres Glück hätte sie sich denken können, als vom hochwürdigen Herrn Primizianten gesegnet zu werden, und sie habe auch gehofft, im Laufe ihrer Stör auf dem Zwergerhof dieser Gnade teilhaftig zu werden. Nachdem aber die Regierungskommission auch noch darum sie gebracht, lasse sie, die Kreszentia Schellmoser, den hochwürdigen Herrn Primizianten bitten, ihrer wenigstens in seinem Gebet zu gedenken. Und auf die Hand mußte die Mariann der Zenzl die Anbringung ihrer Bitte bei dem Jungpriester geloben.

Der Mariann kam der Auftrag sehr zupaß. Trug sie sich doch mit der Absicht, an den Franz eine vertrauliche Frage zu richten, deren Beantwortung für ihr eigenes Tun bestimmend sein sollte, und fand nur den schicklichen Vorwand nicht, ihn um eine kurze Unterredung zu bitten. Jetzt hatte sie ihn. Und sogleich ließ sie den Franz wissen, er möchte doch um die zweite Nachmittagsstunde zur Nikolaus-Kapelle kommen; sie hätte ihm etwas auszurichten und bitte ihn herzlich um die Begegnung. Seit dem Zusammentreffen vor dem Wurzenhäusel hatte sie mit ihm nicht mehr gesprochen.

Die Nikolaus-Kapelle steht seitwärts von Würfling unter den ersten Bäumen eines Buchenschlags, der sich eine sanfte Anhöhe hinaufzieht, und die frommen Bittsteller, so zur Audienz des Heiligen erscheinen, treffen es nicht uneben hier, insofern sie, je nach Belieben, für die Abtötung einen Betschemel und für die Bequemlichkeit eine Sitzbank, diese zwar ohne Lehne, vorfinden. Alles indes vor der Kapelle, unter dem grün-goldenen Blätterdach; die Kapelle ist nämlich sehr klein und bietet nur für den Heiligen Raum. Denn wo käme man hin, wollte man in diesem Lande der Kapellen immer gleich mit einer richtigen Kircheneinrichtung aufwarten! Da müssen eben auch die himmlischen Herrschaften sich bescheiden und bedenken: Bargeld ist rar wie die Tugend, und auf Kapellen gibt es weder Bankgeld noch Hypothek. Nun, der heilige Nikolaus, als Bischof noch von seinem Erdenwallen her von dem menschlichen Gefrett hinlänglich unterrichtet, macht auch weiter keine Ansprüche; allerdings auch nicht viel Umstände mit Gebetserhörung und Wunscherfüllung seiner Klienten, so daß das alte Hutzelweiblein, das soeben mit einer Reisiglast aus der Waldestiefe herauskommt, vielleicht nicht ganz mit Unrecht im Vorübergehen zur Mariann sagt: »Hast recht, wennst eahm an Buckl zoagst: er will von ins a nix wissen.« Die Mariann sitzt nämlich auf jener Bank mit dem Blick, aus begreiflichen Gründen, gegen Dorf und See, also, daß sich der heilige Nikolaus wohl oder übel mit ihrer blinden Seite begnügen muß.

Punkt zwei Uhr – wie ein fernes Märchen von vorgemessener Zeit hört sich unter der grün-goldenen Buchenwölbung der verhallende Glockenschlag der Dorfkirche an – erscheint der Kogler Franz. Und die Mariann trägt ihm das Anliegen ihrer Auftraggeberin vor.

»Schon recht,« sagt der Franz, »schon recht. Und? Was noch?«

Die Mariann aber schweigt.

»Sei aufrichtig, Mariann. Wegen der Nahderer Zenzl allein bestellst du mich nicht da her.«

Und wieder sagt die Mariann nichts.

»Sonst doch gar nicht deine Art, Mariann. Bist sonst die Offenheit selber. Sag, was willst von mir? Kann ich's erfüllen, von Herzen gern.«

»Es is ganz was Dumms«, sagt die Mariann. »Und wenn du mir antwortst: ›Das geht dich aber schon gar nichts an‹, so muß ich's haben.«

»Das werd ich aber grad zu dir ganz sicher nicht sagen.«

»Wie gesagt, es is ganz was Dumms, aber weißt, seit ich neulich mit dir vor 'm Wurzenhäusel gred't hab, bring ich aus mir den Gedanken nimmer naus: Du bist oder wirst unglücklich in deim Stand. Und da drüber muß ... möcht ich Gewißheit haben!«

»Du mußt – Gewißheit haben. Warum? Sag, warum mußt du?«

Da ist denn schon wieder an der Mariann das Schweigen. Erst nach einer Weile bringt sie heraus: »Das kann ich jetzt nicht sagen. Aber sag, Franz: du bist unglücklich?«

»Nicht mehr als andre auch. Das Besondere ist nur, daß es bei mir das nicht gebraucht hätt. Ja, daß es eigentlich ganz anders hätt kommen können – a was! – hätt kommen müssen, wenn nicht in den natürlichen Lebensablauf unnatürliche Absichten eingegriffen hätten. Mehr möcht ich darüber nicht sagen. Hat ja doch keinen Zweck.«

»Und was anders werden? Ein andrer Beruf?«

»Zu spät, Mariann. Ich bin zum Priester geweiht. Würde ich ausspringen, wär ich nicht bloß – denn der Vater gab mir keinen Pfenning – ohne jeden Lebensunterhalt, und ohne Geld eine andre Laufbahn einschlagen, mit einem neuen Studium – unmöglich; es würden auch überdies alle Leute daheim und in der ganzen Umgebung mit Fingern nach mir zeigen: »Da is er, der Ausgsprungne! Da schauts! Wer noch nie einen davonglaufnen Pfarrer gsehn hat, – da geht einer!« Kurzum, die Heimat wär mir für immer verloren. Mariann, erst seit ich über diese Dinge nachdenke, weiß ich, wie ich an ihnen häng.«

»Ich hab aber doch schon manchmal von einer zweiten Heimat glesen, Franz, die der und der gfunden hat. Freilich oft weit genug weg von dort, wo er die erste ghabt hat.«

»Ist so eine Redensart, das von der zweiten Heimat. Man müßte von jedem einzelnen die Verhältnisse kennen, und die liegen bei mir so ungünstig wie nur möglich. Es gibt kein Zurück mehr, glaub mir's.«

»Red doch mit 'm Herrn Pfarrer. Der hat für alles Verstand und Gfühl.«

»Schon. Aber grad in dem Punkt wär's umsonst. Da hängt einer am andern. Und bedenk doch: die Priesterweih hab ich!«

»Ich bin ja nur a Bauernmadel und versteh nichts von der Geistlichkeit; aber i denk mir halt, unserm Herrgott wird dös a not ganz recht sein, wenn ihm ein Herr seiner Lebtag dienen muß, der wo eigentlich lieber einen andern Dienstplatz hätt. Aber auf jeden Fall dank ich dir; denn ich weiß jetzt, was ich wissen will.«

»Aber so sag doch, wozu wissen!« drängte er noch einmal.

Indes, eine sonderbare Erscheinung lenkte in diesem Augenblick alle Aufmerksamkeit auf sich. Ein kleines Mandl nämlich kam, gerade auf den Franz und die Mariann zu, den gleichen Waldweg her, den vorhin schon die alte Frau mit der Reisiglast gegangen war. Und je näher das Männlein kam, um so wunderlicher sah es aus. Beine hatte es wie ein zehnjähriger Knirps; aber sie trugen einen rechtschaffenen, breitschulterigen Oberkörper, und darauf, fast ohne Übergang aufsitzend, ein Köpfel, als hätt' es früher einmal, in der guten, alten Zeit, da noch nicht alle Gebrauchsgegenstände die Eisenindustrie lieferte, sondern die Phantasie noch lebte und werkte und gestaltend sogar die unscheinbarsten Zwecke über sich hinaus erhob, als hätte dazumal das Köpfel einem Nußknacker gehört. Und so hölzern und klapperig tat auch die Sprache des Männleins, das auf sein Köpfel zu allem hin noch einen feuerroten Plüschhut gesetzt hatte mit einem Edelweiß drauf und auf dem Buckel eine Mordskraxe trug.

Verwundert betrachten der Franz und die Mariann den Fremden, wie er so auf sie zukommt, und als er vor ihnen stehenbleibt und sie mit seinen vorstehenden Augen mustert, da fragt die Mariann: »Wer bist denn du? Hab dich noch nie gsehn da bei uns.«

»Bin a no nia nöt herkömma da – hahahaha. Han a iatz nöt da her wollen – hahahaha. Han auf Schnackelham zua wollen und nacher aus Goasfurt – hahahaha. Ko ja do nöt überall z'gleich sei, hint und vorn, wia 's Hemad – hahahaha. Der Veitensteffi bin i, daß d' as woaßt.«

»So der!« sagt der Franz. »Hab schon öfter ghört von dir.«

»Glab's gern«, sagt das Mandl.

Der Veitensteffi ist nämlich ein armer Teufel und zieht als harmloser Halbnarr und Hausierer in seiner kleinen Welt herum. »Kimm grad durch 'n Weilharter Wald her«, sagt er. »Mäuserlstad scho alls. Hörst nix mehr durch 'n ganzen Forst. Aus is 's und gar is 's und schad is 's, daß 's wahr is. A bissel spat dran seids drum ös zwoa. Leider, leider spat dran. Im aufsteigatn Jahr muaß ma zammstehn. Ja. Aber mir san scho im absteigatn. Guate Nacht!« Und berührt zum Abschied mit dem rechten Zeigefinger den Rand des roten Plüschhutes und geht seiner Wege. Dreht sich nach einer kurzen Strecke aber noch einmal um und kräht zurück: »Denn nur bloß im aufsteigatn Jahr wachst si alls zum Guaten aus: 's Tagwern und's Sunnaliacht, 's Hausbauen und d'Impenzucht, 's Viech und d' Liab. Guate Nacht! Guate Nacht!«

Und es ist wahr: das Jahr hat bereits seine Höhe erstiegen und sinnend am Johannisfeuer gerastet und steigt jetzt auf der andern Bergseite nieder, den sterbenden Herbsthängen und den Todestälern des Winters zu. Darum kein Vogelsang mehr und kein Kuckucksruf; darum Schweigen des Waldes in ahnenden Schauern. Nur unter Regenböen, wenn trübselige Wolkenfetzen darüber jagen, wird er noch laut und stöhnt und ächzt im wipfelbeugenden Wind dem entschwindenden Sommer nach.


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