Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die letzte Fahrt

Gleich einem tiefen Strom, so breit und still, daß alles darin sich spiegelt, was die Ufer entlang weint und klagt und singt und lacht, also gelassen wallt die Zeit dahin.

Bisweilen aber kommt es wie ein Ruck in den steten Zug, und von ihm datieren dann die Kundigen eine neue Epoche der Menschheitsgeschichte. Der sichtbare Ausdruck einer solchen Zeitwende muß allerdings nicht immer gleich ein Weltkrieg sein. Für eine kleine Umwelt genügen kleinere Symbole. Für die Hottenhauser z. B. ein bekränzter Postomnibus, der abfahrtbereit vor dem Gasthof zur Post auf dem Marktplatz steht, und die weißblauen Galafederbüsche der drei Postillione: des einen hoch droben auf dem Bock und der zwei andern, die dem Zitronengelb als Vorreiter bestimmt sind; denn an diesen Zeichen merken die Bürger des Marktes Hottenhausen genau so deutlich, wie die Gelehrten am Weltkrieg, jenen Ruck der Zeit und stehen darum mit offenen Mäulern da, obschon sie sonst nicht von der Art sind, die auf die Ankunft der gebratenen Tauben wartet.

Die Hottenhauser Post tut nämlich heute ihren letzten Schnaufer; das heißt: nach dieser Fahrt an die Bahnstation Schlutting ist es aus mit ihr. Sie stirbt, weil bei den hohen Betriebskosten unrentabel geworden, nach einem ehrenhaften Leben von dreihundert Jahren als ein Sinnbild deutscher Armut, und das bewegt die Hottenhauser, und darum stehen sie vor den Häuserreihen des Marktplatzes, wie angegeben, schon bald eine Stunde da.

Also sind schon ihre Vorväter dagestanden, als der große Schwedenkönig der Extrapost entstieg und zur Belobung für die geschwinde Fahrt und treffliche Organisation dem Hottenhauser Postmeister auf die Schulter klopfte, – auch zur Bezahlung. So sind sie dann wieder dagestanden, als der Heilige Vater auf seiner Reise an den Wiener Kaiserhof den Posthalter von Hottenhausen für umfangreichen Fahrt- und Spanndienst mit dem päpstlichen Segen entlohnte. Und dann noch einmal, als an die zweihundert Postkutschen dem Kaiser Napoleon seine Habsburgische Braut samt Gefolge zufuhren. Kein Wunder deshalb, wenn nach einer so ruhmvollen Vergangenheit die Hottenhauser von heute mit Bewegung und Spannung darauf warten, wer wohl die Passagiere dieser letzten Postfahrt sein werden.

Als erster findet sich der Bienenvater Knoll ein, dieser unermüdliche Vorkämpfer für Immenzucht und Honigseim, wie er denn auch jetzt wieder, lediglich zu Propagandazwecken, mit vier äußerst appetitlich aufgeputzten Sortimentsgläsern – »prima Lindenblüten-, Akazien-, Heidekraut- und Kastanienhonig« – der landwirtschaftlichen Ausstellung in Abbach mittels Post und Eisenbahn zuzueilen gedenkt. Hierauf folgen der Glasermeister Epple und seine Schwester, die Sekretärswitwe Klinglein, beide in großer Trauertoilette, da es die letzte Ehrung einer auswärtigen Erbbase gilt. Indes, nur Frau Klinglein nimmt im Innern des Wagens Platz; Herr Epple, dessen umflorter Zylinder schon gleich in der Wagentür einen Stüber abbekommt, weiß lieber die unermeßliche Höhe des Firmaments als das niedere Wagendach über seinem frisch aufgebügelten Hut und schwingt sich deshalb zum Postillion auf den Bock. Den vierten Fahrgast und seinen prachtvollen Strauß weißer Rosen empfangen die Zuschauer mit diesem Kommentar: »O jegerl, der Maler Nixt mit'n Brautbukett, dös sicher no nöt zahlt is!« – »Macht nix. Sei' Braut hat's ja schwar.« Nummer fünf: der Handlungsreisende Köppke aus Magdeburg, den die alte Postkellnerin persönlich an den Omnibus geleitet, während seine umfangreichen Musterkoffer vom Hausknecht auf dem Wagendach verstaut werden, und Nummer sechs: der Kleiderhändler Aaron Sandbank. Ist aber unter den ersten Passagieren der Hottenhauser Post, wie oben gezeigt, ein König gewesen, so ist nicht einzusehen, warum bei der Vorliebe des Lebens für Kontraste der letzte nicht ein Bettelmönch sein sollte, und darum zwängt sich soeben noch der Kapuzinerpater Gabriel mit seinem langen, roten Bart und seiner ausgiebigen Beleibtheit in den Wagen hinein.

»Sooo,« sagt der Post-Hausl, »sexi drin und oaner draußt, dös langt«, und haut abschließend die Wagentür zu. Da meinten die Zuschauer, jetzt wäre die Sache endlich so weit, und gleich würden die Pferde anziehen zur letzten Fahrt. Und auch die enggedrängten Fahrgäste gaben sich dieser Erwartung hin; ja, vielleicht wird sie sogar von den Lesern geteilt. Die Abfahrt verzögerte sich jedoch noch eine ganze Weile, und nicht ich bin daran schuld, sondern vor allem der Posthalter.

Der wollte nämlich das denkwürdige Begebnis für Kind und Kindeskind mit Hilfe des Photographen Prestele im Bilde festhalten, und diese Überlieferung erschien seinem lebendigen Sinn für Heimat- und Familiengeschichte sogar wichtiger als die präzise Abfahrt zur vorgeschriebenen Minute. Der Photograph Prestele aber, obwohl rechtzeitig bestellt, hatte sich in seiner verfluchten Zerstreutheit wieder einmal irgendwohin verflüchtigt, wo man seiner sicherlich nicht bedurfte, während vor der Post eine zappelnde Ungeduld sich vergebens nach ihm die Augen ausschaute und ebenso vergebens nach dem Säumigen Boten über Boten schickte. Denn da der Omnibus genau auf den Schluttinger Personenzug, die einzige Tagesverbindung Hottenhausens mit Abbach, eingestellt und bei dem Zotteltrott seiner Pferde nur bei pünktlichem Starten des Anschlusses sicher war, so durfte nicht viel Zeit verloren werden.

»Herr Posthalter,« rief deshalb der Bienenvater Knoll höchst beunruhigt aus dem Wagenfenster, »schau'n Sie doch, daß wir weiterkommen! Komm' ich heut' nicht nach Abbach, bin ich mit meinem großartigen Honig unwiderruflich von der Ausstellung ausgeschlossen.« Indes, der Posthalter schaute nur nach dem Photographen Prestele aus, und der Photograph Prestele zeigte sich nicht. Im Gegenteil, seine Frau ließ sagen, er sei nirgends zu finden.

»Herr Posthalter,« rief des weiteren, nicht weniger beunruhigt, der Handlungsreisende Köppke aus Magdeburg aus dem Wagen heraus, »Herr Posthalter, hörn Se! Auch ich muß heute noch in Abbach sein, muß; sonst macht das Jeschäft die Konkurrenz. Wäre es Ihnen und Ihren Kindeskindern etwa nur um die persönliche Erinnerung an mich zu tun, – mein Bild könnte ich Ihnen auch ohne Ihren Hottenhauser Schnell- und Provinzphotographen überlassen.« Und damit streckte er sein wohlgelungenes Paßbild zum Fenster hinaus.

»I dank schö«, sagte jedoch, in seinem Heimatstolz verletzt, der Posthalter. »Eahna vergiß i a so aa nöt so gschwind. 's Zimmermadl hat ma's scho gsagt.« Darauf zog Herr Köppke sich zurück, und es traf ihn ein großer und langer Blick des Paters Gabriel. Die Frau Klinglein aber meinte, ihr und ihrem Bruder auf dem Bock droben wäre ein Versäumen des Eisenbahnanschlusses mindestens ebenso verderblich; denn was der norddeutsche Herr an geschäftlichem Gewinn einbüßte, das verlören sie und ihr Bruder an verwandtschaftlicher Achtung, wenn sie als die einzigen der ganzen Freundschaft bei der Beerdigung fehlten.

Aber immerhin könne auch ohne sie beide die Verstorbene – also griff der Kunstmaler Nixt in die erregte Erörterung ein – zur ewigen Ruhe bestattet werden, während ohne ihn seine Braut eben morgen früh nicht Hochzeit machen könnte, vom heutigen Polterabend gar nicht zu reden. Und er rief: »Herr Posthalter! Herr Posthalter! Ich sitze auf Kohlen.« Dazu hielt er in der Rechten den prachtvollen Rosenstrauß.

Ohne dringendsten Anlaß, bemerkte der Aaron Sandbank, reise heutzutage überhaupt niemand. Und der Aaron Sandbank rief: »Herr Posthalter! Herr Posthalter! Lassen Se ons fahren ab! For mich steht auf dem Spiel e forchtbares Risiko: bin ich doch geladen vor ans Abbacher Gericht.«

Da sprach zu seinen Mitreisenden der Pater Gabriel: »Warum so eilig, da doch das Wort Gottes zeitlos ist? Ungeduld führt nirgends zum Ziel, Vertrauen überall. Darum pressiert es mir nicht, obwohl auch ich in dringenden Geschäften reise.«

Man wollte entgegnen, indes, Gott sei Dank, jetzt traf der Photograph ein. Aber welche Probe noch für Geduld und Selbstzucht, bis dieser Prestele mit seinem Apparat endlich den für effektvolle Belichtung wie künstlerische Gesamtwirkung denkbar besten Standort ausgemittelt hatte! Wiederholte Zurufe aus der aufgeregten Enge heraus vermochten ihn auch nicht um Haaresbreite von seiner als Gewissenspflicht aufgefaßten Sorgfalt abzubringen. Darob schwoll die Erregung der Reisenden zu einer solchen Gluthitze an, daß selbst der Pater Gabriel es für gut fand, das Fenster zu öffnen und zur Besänftigung der Gemüter einige antreibende Worte an den Photographen hinauszurufen. Der Photograph jedoch, mitten in seinem Werk, empfand von seinem strengen Künstlertum aus das unzeitgemäße Öffnen des Wagenfensters als rohe Störung und schrie: »Fenster zu! Fenster zu!«, und zwar so gebieterisch, daß Aaron Sandbank, in angeborener Unterwürfigkeit, automatisch mit größter Behendigkeit das Fenster emporzog, dadurch aber den wallenden Bart des Kapuziners mit emporriß und in schändlicher Weise mit dem oberen Fensterrand einklemmte. Wie ein rötlicher Besen ragte die mönchische Manneszier himmelwärts, und der Pater Gabriel schrie: »Au! Au! Lassen Sie los! Lassen Sie los!« Und sofort, in angeborener Dienstgefälligkeit, ließ Aaron Sandbank das Fenster wieder herab, und gleichzeitig trieb der Postillion, der verstanden hatte »Fahren Sie los! Fahren Sie los!« und froh war, endlich fortzukommen, die Pferde an. Es ging dahin.

Dadurch nun geschah es, daß der zeitlose Pater Gabriel, durch die Heftigkeit der unvermuteten Vorwärtsbewegung ins Schwanken geratend, schon im nächsten Augenblick auf dem Honigsortiment des Bienenvaters Knoll saß, das zwischen diesem und der Sekretärswitwe Klinglein untergebracht war. Da ferner der Priester im Niedertauchen nach einem Halt gehascht und mit der einen Hand den prachtvollen Rosenstrauß des Malers Nixt errafft hatte, so saß jetzt er, in dessen Hand der Hochzeitsschmuck wie ein Hohn auf das Ordensgelübde sich ausnahm, mit dem Brautbukett da. »Mein Honig! Mein erster Preis!« rief Herr Knoll in berechtigter Sorge und begreiflichem Schmerz. Doch nur ein Knirschen, als würde Glas zu Atomen zermalmt, und ein Quatschen, wie es Dickflüssigkeiten von sich geben, sobald eine Zentnerlast jählings darein wuchtet, antwortete ihm. Und ein gleichzeitiger Aufschrei der Witwe Klinglein; denn bei der Richtung seines Sturzes war es nur natürlich, daß der Pater Gabriel auch auf ihrem flutenden Trauerschleier, und zwar mit solcher Bestimmtheit Platz nahm, daß es der Trauernden nicht bloß den Hut, sondern mit ihm auch einen ziemlich langen falschen Zopf vom Kopfe riß. Pater Gabriel, sonst einer der besten Redner seines Ordens, sagte in diesem Falle gar nichts. So sehr lähmte ihn der Schrecken. Dafür sprach zu ihm in äußerst gereiztem Ton Frau Sekretär Klinglein: »I tät halt doch wenigstens aufstehn.«

Dieses ist indes, wenn schon einer einmal auf einer derartigen Klebrigkeit sich niederläßt, leichter gesagt als getan. Es ergriffen deshalb der lutherische Handlungsreisende Köppke und der israelitische Aaron Sandbank je eine Hand des Paters Gabriel, und nur dem vorbehaltlosen Zusammenwirken der drei Konfessionen, das in solch einträchtiger Zielstrebigkeit weder vor- noch nachher gesehen ward, war es zu danken, daß der Pater Gabriel dem Wunsche der Frau Klinglein überhaupt entsprechen und sich erheben konnte.

Aber welche Verwüstung zeigte sich nun den aus ihren Höhlen tretenden Augen der Beteiligten! Um es kurz zu sagen: wenn der Bienenvater Knoll auch weiterhin auf der Ausstellung seines Erzeugnisses beharrte, so mußte er erstens seinen eigenen Gehrock, zweitens den Trauerschleier der Witwe Klinglein und drittens den ganzen Pater Gabriel ausstellen; denn auf dessen Kutte zumeist war der Lindenblüten-, Akazien-, Heidekraut- und Kastanienhonig, allerdings unausgeschieden, übergegangen. Herr Knoll erklärte jedoch fast mit schluchzender Stimme, daß seine Beteiligung an der Abbacher Ausstellung nicht mehr in Frage komme, wie auch Frau Klinglein für ihre Person die absolute Unmöglichkeit feststellte, hinter einem Schleier von Honig dem Begräbnis beizuwohnen. Er werde dafür, sagte der Pater Gabriel, der Verstorbenen im Gebete gedenken, und es zeugt von furchtbarer Verfinsterung des Gemüts, daß Frau Klinglein auf ein solches Angebot erwidern konnte: »Dös hilft mi und mein Huat an Dreck.« Pater Gabriel aber, der in seiner Abgeklärtheit wußte, daß Ungemach ungerecht macht, schwieg. Er beschränkte sich darauf, dem Maler Nixt das Brautbukett wieder zu überreichen, das sich für ihn ja doch als unzureichend erwiesen hatte. »Ich danke«, sagte der Maler Nixt und bemühte sich, die zerrütteten Rosen wieder aufzurichten.

Während sich diese beklagenswerten Vorgänge innerhalb des Postwagens abspielten, bliesen die beiden dem Omnibus vorausreitenden Postillione zweistimmig und sehr exakt: »Muaß i denn, muaß i denn zum Städtle hinaus, Städtle hinaus ...«, brach die Volksmenge immer wieder in Hochrufe aus und winkten von den Fenstern herab Frauen und Kinder den Scheidenden zu. Überdies lief eine ganze Strecke weit der Photograph Prestele neben dem Gefährte her und schrie und schrie: »Halt! Halt! I hab ja koa Platten drin ghabt. So halt doch!« Aber der kutschierende Postillion scherte sich den Teufel um diese unerläßliche Voraussetzung für Lichtbildaufnahmen, knallte den Pferden eins um die Ohren und fuhr mit der ganzen, diesen letzten Hottenhauser Postwagen belastenden Tragik davon. Gleichwohl dampfte, als er in die Bahnstation Schlutting einfuhr, eben der Abbacher Personenzug aus der Station hinaus.

Der Schluß ist schnell erzählt. Alle machten den Posthalter verantwortlich und verlangten von ihm Entschädigung: der Bienenvater Knoll für den verlorenen ersten Preis; Herr Epple und Frau Klinglein für das ihnen entgangene Vermächtnis, das die verstorbene Erbbase einem jeden an ihrem Begräbnis teilnehmenden Verwandten ausgesetzt hatte; der Handlungsreisende Köppke für das an die Konkurrenz gefallene Geschäft; der Maler Nixt für das von seiner empörten Braut aufgelöste Verlöbnis; ja, der Aaron Sandbank versuchte sogar, die Vaterschaft und Alimentierung, wozu er im Versäumnisweg verurteilt worden, auf den Posthalter von Hottenhausen abzuwälzen. Nur der Pater Gabriel verlangte nichts, sondern begnügte sich mit der Tracht Honig, die, nach Immenbrauch auf verschiedene Körperstellen verteilt, er seinem Kloster zugetragen hatte.


 << zurück weiter >>