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Der Blockadebrecher

Eine Geschichte aus der Kriegs-Zwangswirtschaft

Das Bezirksamt Hollerbach blockierte das angrenzende Großstadtgebiet so erfolgreich, so lückenlos, daß die englische Absperrung dagegen wie eine Geste des Wohlwollens, wie ein »Zudrücken beider Augen« wirkte. Mehl, Fett, Fleisch – kein Stäubchen, kein Lot, kein Schwanz kam durch. Der Kommunalverband Hollerbach triefte von konfisziertem Schmalz, die Gendarmerie von Überwachungseifer, der Bezirksamtmann von Zufriedenheit. Vielen winkte das Ludwigskreuz, und die Strafen für Zuwiderhandelnde waren exemplarisch. Gleichwohl unternahm es der Kgl. Gymnasialprofessor Alban Muckentanz, zwei Ferkelchen nach der benachbarten Großstadt aus- und so seiner Familie zuzuführen.

Seit einundzwanzig Jahren kam er nach Hollerbach aufs Land, in das gleiche Haus, auf denselben Hof, und die freundlichen Beziehungen, die sich dergestalt von Familie zu Familie geknüpft hatten, bestanden auch die Probe in der Zeit der Not. So hatte sich denn eines schulfreien Vormittags, wie dereinst Gaius Julius Cäsar ins Gebiet der Häduer, Professor Muckentanz nach Hollerbach und auf den Wastlerhof begeben, aus Gründen der Zufuhr, frumentarii causa, eine Klassizität des Ausdrucks, die er seinen Schülern von Jahr zu Jahr und immer wieder gleich einer goldenen Lebensweisheit ans Herz legte. Zum Nachmittagsunterricht wollte er wieder in der Stadt sein und, siehe da, in der Zwischenzeit flogen ihm, wie sanfte Tauben, die zwei Ferkel auf die Hand.

Diesen Flug hatten sie auf dem nicht mehr ungewöhnlichen Wege der Notschlachtung getan, und zur Notschlachtung war es gekommen, weil an jenem schulfreien Muckentanz-Morgen, für den der Professor dem Wastlerbauern seine Ankunft angezeigt hatte, das eine dieser unvernünftigen Tiere nur auf drei statt auf vier Beinen stand, und das andere fünfmal hintereinander nieste. Von drei Beinen und fünfmaligem Niesen bis zu unheilbarem Schenkelbruch und hoffnungsloser Brustseuche ist in Zeiten der Fleischknappheit nämlich nur ein Schritt, und der Wastlerbauer tat ihn und schnitt kurzerhand den beiden Ahnungslosen die Gurgel ab. Ihr sonstiges Aussehen war blühend. Nur noch die Frage des Exportes stand offen. Ihr »Wie« allerdings gähnte zwischen den zwei Schweinen und der Familie Muckentanz gleich einem Abgrund.

Die antike Literatur gab keinen Wink. Zum ersten Male sah Professor Muckentanz sich von ihr verlassen und auf die eigene Intuition angewiesen. Die stellte ihm aber immer nur zwei Gegensätze vor: die blutige Bahnhofkontrolle der Hollerbacher Gendarmerie und die ungemessene Freude seiner Familie bei glücklicher Ankunft der Schweinchen. Über diese beiden Kontraste hinaus war alles grau wie ein Nebelmorgen, aus dem sowohl strahlender Mittagsglanz wie trostloses Regenwetter werden kann, je nachdem. Professor Muckentanz nun glaubte, der Himmelsbläue vorzuarbeiten, wenn er den Spielraum nützte, den ihm die behördliche Lebensmittel-Organisation zwischen Hose und Hemd zur freien Verfügung belassen, und die zwei Ferkel sich um den Leib bände. Danach handelte er und erschien mit der Miene des Unbefangenen auf dem Bahnhofe Hollerbach.

Die beiden dort postierten Gendarmen salutierten, als die Ferkel an ihnen vorbeigetragen wurden, und Professor Muckentanz dankte für die Aufmerksamkeit. – Sie war ihm um so peinlicher, als er gerade in diesem Augenblick eine deutliche Lockerung jener Bande fühlte, die ihn an die zwei Leichen ketteten. In diesem Gefühl ließ er sich höchst vorsichtig auf eine Bank nieder, nur den einen Wunsch in der Brust: möglichst wenig Bewegung und tunlichst bald im Zug. Statt des Schnellzugs kam jedoch der Bezirksamtmann Rummelmann, der Vater der Blockade, und Professor Muckentanz erbleichte.

»Ah, was seh' ich! Unser verehrter Herr Professor!« rief, des langjährigen Sommergastes ansichtig werdend, Doktor juris Rummelmann; »da reisen wir ja heute mitsammen!« Und Professor Muckentanz erbebte. »Wollen wir bis zur Abfahrt vielleicht ein wenig promenieren?« Und so promenierte Professor Muckentanz, der für den Augenblick nichts so sehr schätzte als die Einsamkeit und nichts so sehr scheute wie die Bewegung, mit einem Bezirksamtmann und zwei Jungschweinen auf dem Bahnhofperron in Hollerbach. Sein Gesichtsausdruck war verzweifelt.

Als es endlich so weit war, daß der Schnellzug dastand und die Schaffner »Einsteigen! Einsteigen!« riefen, da waren auch die zwei Schweinchen so weit, daß der Professor sich vergebens bemühte, erst das rechte und dann das linke Bein abzubiegen und auf das Trittbrett zu gelangen. Sie waren, noch im Tode die Schäker, die sie zeit ihres Lebens gewesen, in beiden Hosenschläuchen, das eine rechts, das andere links, hinabgerutscht und machten, halb über, halb unter dem professoralen Knie festgeklemmt, die Beine des Herrn Muckentanz bocksteif.

»Was ist Ihnen?« fragte der Bezirksamtmann Rummelmann erschrocken, da er die krampfhaften und doch ergebnislosen Anstrengungen und das verzerrte Antlitz seines Begleiters gewahrte.

»Eingeschossen«, stöhnte Professor Muckentanz. »Ganz plötzlich etwas eingeschossen. Es geht nicht. Ich bleibe zurück. Reisen Sie allein, Herr Bezirksamtmann!«

»Unter keinen Umständen.« Und der Aufopferungsfähige winkte dem Schaffner und winkte dem Stationsdiener, und der eine hob des Professors rechtes und der andere sein linkes Bein, und der Bezirksamtmann Rummelmann, dieser leidenschaftliche Gegner aller und jeder Fleischausfuhr, schob hinten nach mit den Worten: »Damit Sie doch wenigstens noch zu Ihrer Familie kommen«, und Professor Muckentanz stöhnte dazu. Bleich, verstört und die Beine weit von sich gestreckt, saß er endlich im Zug und fand das Mitgefühl aller Passagiere.

»Mir is amal«, berichtete sogleich ein Landmann als Gegenstück zu der so unvermittelt auftretenden Lähmung des neuen Fahrgastes, »a Kälberkuah mitten auf der Straß liegen blieben, so stark san ihr auf amal d'Haxen aufgschwollen. Und dös is von ara giftigen Fliagen herkömma und von nix anderm. Man sollt's nit glauben.«

»O die giftigen Fliegen!« bestätigte eine Frau. »Ich kann ein Lied singen davon. Meiner Großtante ihrem ersten Mann haben sie wegen einer giftigen Fliegen die halbe Nasen wegschneiden müssen.«

»Entschuldigen Sie,« bemerkte jetzt ein Herr mit einer Brille, »haben Sie das Leiden nicht schon von Geburt auf?« und fügte, da Professor Muckentanz mit einem bösen Blick verneinte, hinzu: »So kann man sich täuschen.«

»Es is nix anders als a giftige Fliagen«, konstatierte der Landmann auf Grund seiner Erfahrung. »Mei Kälberkuah is grad a so dag'legen. Sie« – und dies galt der ganzen Umgebung – »dö wann S'erst gseh'gn hätten!«

»Denn eine giftige Fliegen«, schloß jene Frau ganz im Sinne ihrer Großtante sich an, »ist das heimtückischste Viech, das wo es gibt. Legen Sie Ihnen nur ja gleich ins Bett, wenn Sie heimkommen.«

»Nicht wahr, hier sitzt es?« fragte teilnehmend der Bezirksamtmann und betupfte leise die Stelle über dem einen Knie. Er hatte recht, gerade dort saß es; aber von niemand wäre dem Professor die örtliche Untersuchung so peinlich gewesen als gerade von Doktor Rummelmann, und nur um deswillen ächzte der Schulmann laut auf. »Wie? Diese minimale Berührung schon löst einen solchen Schmerz aus?«

»Fürchterlich.«

»Dann ist es doch das beste ...« Und da eben der Zug hielt, stürmte der Bezirksamtmann aus dem Wagen hinaus und hinein in den Bahnhof. Wenn ihn schon die Leute im allgemeinen für hart und pedantisch hielten, so sollten sie doch erkennen, daß er das Herz auf dem rechten Fleck habe, sobald es darauf ankomme und mit seinen Amtspflichten vereinbar sei. Hier war ein solcher Fall gegeben. »Ich habe«, sagte er, als er wieder zurückkam, »den Stationsvorstand veranlaßt, die Freiwillige Sanitätskolonne mit Fahrbahre an den Zug zu bestellen.«

»Dös is dös best«, sagte der Landmann. »Dö sell Kälberkuah hamma aa hoamfahren müassen.«

»Weil sich zu leicht eine Blutvergiftung dazuschlägt«, ergänzte die Frau, die ein Lied singen konnte von giftigen Fliegen und halben Nasen, und der Professor erschauerte, da es ihm kaum gelingen würde. Schlag zwei, wie er es seinen Schülern angekündet, mit Cäsars Marsch ins Land der Häduer zu beginnen, wenn man ihn vorher noch aufgebahrt, mit zwei Schweinen in der Stadt herumführe. Doch wagte er es nicht, diesem furchtbaren Zwiespalt Ausdruck zu verleihen. Bloß seine Gedanken riefen mit der Inbrunst eines Stoßgebets: Nur endlich weg von diesem schrecklichen Verwaltungschef! Er wurde nicht erhört.

Als dreißig Minuten später der Zug in die Endstation einlief, da warteten bereits auf dem Bahnsteig neben ihrer ausgezeichneten Fahrbahre mehrere Sanitätsmannschaften und dazu noch der Kolonnenführer, zwei Beiräte, der Schriftwart und der Ortsdelegierte; denn sie rangen alle um das Ludwigskreuz, und leuchtete auch nur von fern eine keusche Möglichkeit, so blieb keiner zurück. Wie die Löwen stürzten sie sich auf den Professor.

»Sachte! Sachte!« mahnte Bezirksamtmann Rummelmann; »die Empfindlichkeit ist enorm.« Doch im Handumdrehen war der Schwerkranke aus dem Wagen gehoben und unter dem Dach der Bahre verschwunden. »Chirurgische Klinik!« lautete die Losung, und die gute Frau, die von ihrem Großonkel her wußte, daß der Bedauernswerte jetzt seine letzte Fahrt im Vollbesitz seiner ungeschmälerten Gliedmaßen tue, legte aus ihrem Reisestrauß eine Blume auf den Krankenwagen.

Chirurgische Klinik! Und die Gummiräder waren ebensowenig imstande, die seelischen Qualen zu lindern, wie die gewandten und doch so behutsamen Hände, die schließlich das Opfer der durchaus ungiftigen, im Gegenteil, vollständig genießbaren, ja äußerst bekömmlichen Schweinchen nach einem halbstündigen, in Ansehung des zahlreichen Gefolges fast feierlichen Umzuge durch die hauptstädtischen Straßen und Plätze in den Operationssaal trugen. Keinen Schritt war Bezirksamtmann Rummelmann von der Seite des Unglücklichen gewichen. Auch unterm Rock des Verwaltungsbeamten schlägt ein fühlendes Herz.

Der Vorstand der Klinik, Geheimrat Soundso, war verreist. Der junge Doktor vom Tagesdienst verständigte den Primararzt, traf Vorbereitungen für die Narkose und zuckte die Achseln über den Fall.

»Wünschen Sie einen Priester?« fragte darum der Bezirksamtmann den Leidenden. Der Freigeist lehnte ab. Es hat immerhin etwas Heldenhaftes, dachte Dr. Rummelmann, lediglich im Vertrauen auf sich selbst durch das dunkle Tor zu schreiten. »Oder kann ich sonst etwas für Sie tun?«

»Gehen«, flüsterte Professor Muckentanz.

»Sie haben recht. Ich werde Ihre Frau Gemahlin vorbereiten.« Und endlich war er weg.

Der Primararzt kam und schnitt dem Märtyrer die Hose auf. Vergebens wehrte sich der: »Nicht doch! Nicht! Ich zieh' sie aus.«

»Das können Sie nicht«, entgegnete man ihm, ihm, der durch ein langes, glückliches Leben Tag für Tag dieses an sich so einfache Werk ausgeführt hatte, und schnitt weiter. Da kam der Giftherd ans Licht, die Eiterbeule, die Lebensbedrohung, und der Primararzt hörte zu schneiden auf; denn nunmehr ließen sich die beiden Schweinchen ohne weiteres an den Ohren herausziehen.

Der Kranke atmete erleichtert auf. Die Narkose war überflüssig, die Genesung vollständig. Zur Nachkur gaben die beiden Ärzte auf den erschöpfenden Bericht des Schwergeprüften hin das Versprechen unverbrüchlichen Schweigens. Unbehelligt, kerngesund, neugeboren konnte der Professor die Klinik verlassen und legte nur deshalb den Weg nach seiner Wohnung in einer Droschke zurück, weil bei Windstärke 11, wie sie an jenem Tage herrschte, ein bis zu den Knien aufgeschnittenes Beinkleid doch allzu unliebsam in den Lüften flattert. Man kann es indes dem Droschkenkutscher nicht verdenken, wenn er sozusagen mit gestielten Augen auf seinen seltsamen Gast herabstierte, dem noch dazu aus einem unterm linken Arm getragenen Paket zwei Ferkelschwänzchen sich hervorringelten.

Frau Professor Elvine Muckentanz fiel dem Wiedergeschenkten, den sie auf des Bezirksamtmanns wahrhaft feinfühlige Vorbereitung hin in diesem Leben nicht mehr zu begrüßen erwarten konnte, um den Hals, die Köchin den beiden Tieren ganz gehörig mit Salz auf die Haut, und Bezirksamtmann Rummelmann, der sich nach Erfüllung jener herben Pflicht sofort wieder in die Klinik begeben, das Nest aber bereits leer gefunden hatte, telegraphierte noch in derselben Stunde: »Ich gratuliere.« In die Sanitätskolonne, die mit jener behutsamen Fahrt ihren zweihundertdreiunddreißigsten Transport in diesem Jahr bewerkstelligt hatte, kamen vierundzwanzig Ludwigskreuze, und nur der Schüler des Professors Muckentanz bemächtigte sich eine tiefgehende Enttäuschung, als anstatt des freien Nachmittags der schon halb totgesagte Ordinarius erschien und mit ihm der ebenfalls nicht recht beliebte Gaius Julius Cäsar auf seinem höchst belanglosen Zug ins Häduerland – frumentarii causa.


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