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Die verlorene Seelenruh'

In Hexenberg, im Schwäbischen, haben sie zwei Dinge, die leicht noch einmal einen Weltruhm begründen können: den höchsten Kirchturm im ganzen Bezirksamt und eine Turmuhr, von der man sagen kann: wie kommt denn nur so ein Gotteswunder nach Hexenberg!

Vom Kirchturm aus überschaust du die Alpenkette von ganz vorn bis ganz hinten, und die Uhr wenn einer zwölfe mittag schlagen hört, dann hört er – und das wird doch wohl Sach genug sein – die Engel singen. Aber freilich, und das ist ja der Jammer der Hexenberger und obenan des alten, ehrwürdigen Pfarrers Duisele, seit Menschengedenken hat niemand die Kirchenuhr mehr zwölfe schlagen und also auch niemand mehr die Engel singen hören. Die andern Stunden schlägt sie; nur grad die zwölfte nicht. Das wär' aber die Hauptsach.

Sie stammt von einem großen Augsburger Meister aus der alten Zeit, von einem gebürtigen Hexenberger, der einmal in einer verliebten Stunde das Gelübde getan hat, seiner Heimatkirche die köstlichste Uhr zu stiften weit und breit, wenn ihn die Tochter seines Nachbarn nimmt. In dem Punkt waren ihm nämlich starke Bedenken aufgestiegen, weil er neben seiner unzweifelhaften handwerklichen Geschicklichkeit einen ebenso unzweifelhaften persönlichen Buckel gehabt hat. Genommen aber hat ihn das Mädel, und – ein Mann ein Wort – die Hexenberger Kirche ist zu einer Turmuhr gekommen, daß jeder Hexenberger Bauer die Engel konnte singen hören, wenn er um zwölfe mittag seinen Grind zum Stubenfenster hinausgestreckt hat. Denn an den Zwölfe-Schlag hat der bucklige Meister ein wundersames Glockenspiel angehängt von einer unbeschreiblich süßen, genau gesagt, himmlischen Weis. Aber wie es bei den Menschen nun schon einmal Brauch ist und garaus bei den Hexenbergern: sie sind mit der Zeit gleichgültig geworden, haben gemeint, die Engel müßten ihnen alle Tag eins singen, und da – »Wie? Was? Horchet! Loset! Schlagt's denn heut net d' Mittagsschtund?!« – ist der Zwölfe-Schlag mitsamt der himmlischen Weis ausgefallen. So ist's aufgezeichnet in dem alten Kirchenbuch.

Dem guten Pfarrer Duisele ist es ein Anliegen, seit er auf der Pfarrstelle sitzt. Er hätte gern zur Ehre Gottes und zum Ruhm von Hexenberg den alten Zustand wieder hergestellt, hätte sich auch selber für sein Leben gern als Erneuerer, ja, als den zweiten Schöpfer des Wunderwerks preisen hören und hat deswegen bei einer ganzen Reihe von Uhrenfirmen schriftlich und mündlich sich befragt, auch ein paarmal schon aus dieser und jener Stadt einen renommierten Uhrmacher heraußen gehabt und ist einmal sogar von so einem unkirchlichen Spitzbuben auf Reisekosten, Zehrgeld und Gutachterhonorar verklagt worden. Seitdem hat er seinen Ehrgeiz gezügelt und die Turmuhr gehen und schlagen lassen, wie es ihr paßte.

Um diese Zeit nun hat irgendwo im Schwabenland der Uhrmachergesell Kassian Schermauser wieder einmal seinen Rappel gekriegt, hat die Arbeit hingeworfen und ist auf und davon und in der Welt herum, bis er eines Tags ganz von ungefähr nach Hexenberg kam und, des ewigen Landfahrens müde, bei den Bauern Arbeit suchte, sie im Pfarrhof fand und, anstellig wie er war, wenn er wollte, alsbald Sympathie und Vertrauen sich erwarb.

Ei, ei, e Uhremacher! denkt der hochwürdige Herr Pfarrer Duisele und vergegenwärtigt sich, was für einen Segen schon im Alten Testament bisweilen so ein Wandervogel ins Haus gebracht hat, dem Erzvater Abraham z. B. gleich der liebe Gott selber und dem blinden Tobias der selbige Engel mit der Fischgalle, und bringt solcherweise ganz zwanglos seine Kirchenuhr und den Kassian in einen kostenlosen, aber, wie er meint, recht profitablen Zusammenhang. Wer jedoch glaubt, es hätte jetzt der Pfarrherr von Hexenberg wie ein junger Springinsfeld einfach gesagt: »So, Kassian, du kommst mir grad recht!« und hätte mir nichts dir nichts, wie einen Blinddarmspezialisten aufs Bauchzwicken, auf die köstliche Turmuhr den Schermauser losgelassen, der kennt den hochwürdigen Herrn Pfarrer Duisele und sein abgeklärtes Wesen schlecht. Der Kassian mußte ihm vielmehr zuvörderst ein Probestück machen, und dann erst hat er ihm die Turmuhr anvertraut. Allerdings dann mit der felsenfesten Zuversicht: der Kassian wird's schaffen; denn die Probe ist nicht leicht gewesen. Sie hat der alten Stutzlin ihre halbzerfallene Taschenuhr betroffen, die dem Pfarrer Duisele »zum Dank für sein schöns Predige« testamentarisch zugefallen war, die Sonn' und Mond übers Zifferblatt hätte laufen und auf einen Fingerdruck ganze und halbe Stunden hätte schlagen lassen, wenn sie eben nicht halb zerfallen gewesen wär'. Ja, ein boshafter Testamentsausleger hätte sich vielleicht von den Predigten des Pfarrers Duisele und der alten Stutzlin ihrer Dankbarkeit ein falsches Bild machen können – so weit hat's mit dem Zwiebel gefehlt. Es bedurfte aber offenbar nur des Könners, und der hatte sich im Kassian Schermauser gefunden. Sonn' und Mond sind wieder einander nachgelaufen, und die ganzen und halben Stunden hat's wieder geschlagen wie bei der Stutzlin ihrem ersten Mann. Gar so miserabel können also die Predigten des Pfarrers Duisele doch nicht gewesen sein. Auf jeden Fall: der Kassian ist auch der rechte Mann für die berühmte Kirchenuhr. Und so steigt denn trotz seines Asthmaleidens der hochwürdige Herr mit dem ihm rein vom Himmel geschickten Kassian auf den höchsten Turm vom ganzen Bezirk, zeigt ihm die Uhr, wie eine Mutter dem Arzt ihr krankes Kind, und überträgt ihm die Behandlung.

Nun sind die Uhrmacher nicht selten eigenartige Käuze. Das fortwährende Herumdoktern an der Zeit macht sie grüblerisch und beschaulich, und manche von ihnen wären vielleicht große Philosophen geworden, wenn sie eben nicht ihr ganzes Leben an den Rädlekrimskrams hätten hinhängen müssen. Philosophen aber lieben die Einsamkeit, und so einer war justament der Kassian. Er war froh, von der Landwirtschaft und seinen rüpelhaften Arbeitsgenossen wegzukommen, dachte: da obe hab i e wunderbare Sommerfrisch, bezog mit Freuden den Kirchturm und verlangte von seinem Brotherrn nur das eine: Tabak und Zigarren.

Die soll er haben, sagt der Pfarrer Duisele.

Und: eine richtige Fleischkost. Nicht immer und immer den Erdäpfeltransch.

Auch recht, sagt der Pfarrer Duisele.

Und: völlige Ungestörtheit.

Versteht sich, versteht sich, sagt der Pfarrer Duisele.

Und: jeden Tag einen ganzen Laib Brot.

Meintwege, sagt der Pfarrer Duisele.

Und: –

No ebbes? fragt ganz erschrocken der Pfarrer Duisele.

Und: täglich zwei Maß Bier.

Was tut der Mensch nicht alles zur Ehre Gottes und zur eigenen Erhöhung! Der Pfarrer Duisele sagt auch das noch zu: alle Tag zwei Maß Bier.

Damit läßt sich's hausen, auch auf dem höchsten Turm, unter Mauerschwalben und Fledermäusen. Unten aber wartet das ganze Dorf auf den Zwölfe-Schlag. »Wartet no«, denkt droben der Kassian; »mir langt's, wenn's elfe schlagt, 's kann von mir aus ruhig no e paar Woche derbei bleibe.« Und weiter denkt er: »Esse und Trinke hält Leib und Seel z'samme, au zwische Himmel und Erd«, und zieht mit großer Begier dreimal des Tags den Korb ein, den sie ihm, der völligen Ungestörtheit halber, früh, mittags und abends mittelst des Turmaufzugs hinaufbefördern, und oft ist dieses Hinauf und Hinunter die ganze Tagesarbeit des Kassian.

Der Pfarrer Duisele läßt ihm dazu Zeit und Ruhe; denn vermöge seiner Abgeklärtheit weiß er ganz genau, was für ein Aufwand von Scharfsinn und Berechnung dazu gehört, um einen bockbeinigen Uhrenschlag und erst gar ein störrisches Glockenspiel wieder in Gang zu bringen, und er belehrt auch alle Ungeduldigen in diesem Sinn und schreit lediglich zweimal täglich am Turm hinauf: »Kassian, wie geht's?«, worauf, ebenfalls zweimal jeden Tag, der Kassian aus seiner Wolkenhöhe herunterschreit: »Danke. Serrr gut.« Der Kassian bezieht es auf sein eigenes Befinden, der Pfarrer Duisele auf das des Glockenspiels, und alle zwei sind zufriedene Leut'.

Der Kassian war aber doch dem Augsburger Meister nicht entfernt gewachsen, und das hat sich immer mehr geoffenbart; denn am Ende der dritten Woche war von einem Zwölfe-Schlag immer noch nichts zu hören und von einem Glockenspiel, was man so eigentlich unter einem Glockenspiel versteht, erst recht nichts. Es hat nämlich wohl nach dem siebten Schlag ein bißchen zu dudeln angefangen, aber so durcheinander und so falsch, daß die Hexenberger einstimmig sich dahin aussprachen: das kann die unbeschreibliche, himmlische Weis unmöglich sein. Der Kassian hat freilich auch nicht behauptet, daß sie es wär', sondern hat nur, weil der Pfarrer Duisele jetzt auf einmal von seinem Versprechen das und jenes abzwacken wollte, ziemlich ungehalten um Zigarren heruntergerufen und um die zwei Maß Bier.

Und nun stell' dir vor, lieber Leser, es hätte so ein Tauge- und Habenichts dich in der Hand mit deinem Uhrschlagwerk und Glockenspiel! Und er drohte: entweder her mit den Zigarren und mit dem Bier, oder der ganze Uhrenplunder geht in Trümmer! Was tätest du? Vermutlich halt auch nachgeben, nach wie vor Zigarren und Bier sechzig Meter hoch über den Erdboden hinaufschicken und des weiteren auf die Endlichkeit alles irdischen Geschehens vertrauen und somit auch auf den naturnotwendigen Schluß der Turmverrichtung des Kassian Schermauser. Und wenn du noch ein übriges tun wolltest, – den Bruder Straubinger einschließen in dein Morgen- und Abendgebet, daß ihm doch endlich und gewißlich sein Werk gedeih, nicht etwa alles, Fleischkost, Bier, Zigarren, umsonst aufgewendet, ja, die letzten Dinge vielleicht ärger seien als die ersten. Und genau so macht's denn auch der Pfarrer Duisele. Noch nie sind für den Kassian, und er ist doch schon dreißig Jahr alt und der Sohn einer frommen Mutter, so viele inbrünstige Gebete an Gottes Thron niedergelegt worden als damals, während seiner Sommerfrische auf dem Hexenberger Kirchturm, vom Pfarrer Duisele. Was hilft's? Nichts hilft's, und für Uhrreparaturen wenigstens scheint der Kassian die göttliche Weltordnung umstürzen und schon für dieses Leben die Ewigkeit einführen zu wollen.

Darüber ist denn doch einmal auch dem hochwürdigen Herrn die Geduld gerissen, und er hat beide Hände an den Mund gelegt, aus dem sonst nur die christlichen Heilswahrheiten gekommen sind, und hat hinaufgeschrien zum Turm: »Kassian, Saukopf, mach, daß d' 'rabkommscht! – Kassian, wo bischt?«

»Hirrr«, hat der Kassian aus dem blauen Äther herabgerufen auf die sündige Welt.

»Komm 'rab, Kassian, auf der Schtell oder d' Sach geht net gut aus für di! Du hascht uns jetzt lange Zeit g'nug für Narre ghalte. 'rab! Sofort! Elender Pfuscher!«

»Was rede Se von der Zeit«, schreit da der Kassian wie so eine Art göttlicher Stimme von oben. »Für d' Mensche ischt d' Zeit e Nix, für mi ischt se alles. I und d' Zeit, mir ghöre z'samme, und drum bleib i da obe, bis es zwölfe schlagt und 's Glockespiel in Schwung kommt. Für heut, morge und übermorge ischt des aber auf kein Fall z' erwarte. Guet' Nacht!« Und der Herr Pfarrer Duisele steht da, als hätt' ihm einer die Tür vor der Nase zugeschlagen, und hat trotz des freundlichen Wunsches diese Nacht kein Auge zugetan.

Gleich am andern Morgen aber schickt er seinen Ökonomiebaumeister auf den Turm zur gütlichen Zusprach – umsonst; schickt den Bürgermeister hinauf zur amtlichen Verwarnung – umsonst; steigt mitsamt seinem Asthma selber in die Himmelshöh' – alles umsonst. Der Kassian stellt es so hin, als sei seine Uhrmacherehre engagiert und ginge die ihm über alles. Auch verbittet er sich alle weiteren Besuche, wenn anders Uhrwerk und Glockenspiel nicht zum Turmfenster hinausfliegen sollen.

Nur ein Mittel, meint ein paar Tage später der Ökonomiebaumeister, könnte es vielleicht geben, den Kassian aus seiner Turmstube herunterzubringen, wenn man schon nicht auf die Winterkälte warten wolle; nur ein einziges Mittel.

»Was für eins?« fragt der Pfarrer Duisele und reißt die Augen auf.

»D' Kathrein.«

»D' Kathrein? Unser Küchemädle?«

»Ja. Die. Was die sagt, tut der Kassian. Habe Se denn no gar nix g'merkt?«

Aber dem hochwürdigen Herrn Pfarrer Duisele war von der Welt und ihren geheimen Triebkräften bis auf diesen Tag so viel verborgen geblieben, daß er auch jetzt nur ungläubig den Kopf darüber schüttelte, wieso ein Küchenmädchen mit seiner einfältigen Rede mehr sollte ausrichten können als er selbst mit dem Wort Gottes. Doch immerhin, eine Probe kostet ja nichts. Und so schreit zur Abwechslung einmal die Kathrein hinauf.

Indes, der Kassian ist hell, kennt seinen Vorteil und schreit herunter, wenn die Kathrein ihm was zu sagen hätte, so solle sie heraufkommen. Aber allein, ohne den Baumeister; mit dem hätte er sich schon oft genug unterhalten.

Allein! Ohne den Baumeister! Und der Herr Pfarrer Duisele schüttelt abermals den Kopf und geht, sich die Sach zu überlegen, ins Haus. Die Kathrein ist ihm von weitschichtigen Verwandten anvertraut worden für Küche und Hauswesen, und ein besseres Plätzchen als einen Pfarrhof kann es für ein sauberes Mädel, das ein bissel hüten braucht, wohl nicht geben. Ein einfaches Mittel wär' 's ja; aber allein, ohne den Baumeister, – Duisele, Muisele!

Zuletzt hat er sich aber doch dazu entschlossen, hat die Kathrein in sein Studierzimmer gerufen und zu ihr gesagt: »Kathrein,« hat er gesagt, »du bischt zu ere große, ehrevolle Sendung ausersehe. Du sollscht 'n Kassian vom Turm 'rab- und so von unserm herrliche Meischterwerk wegbringe, dees der Schlingel sonscht wahrscheinlich no völlig verruiniert. Hat der Daniel, Kathrein, aus der Löwegrub wieder rausgfunde, wirscht au du heil an Leib und Seel vom Kircheturm wieder 'rabkomme. Überdies will i derweil für di bete und da hascht« – und er bespritzt ihr ausgiebig das Gesicht damit – »e Weihwasser auf'n Weg. Fünf Minute nauf, fünf 'rab, im e Viertelschtündle bischt wieder da. Gott mit dir! Der Kerle frißt mi sonscht no arm.« Und die Kathrein ist fortgelaufen und hinauf auf den Kirchturm.

Wie sie eintritt in die Turmstube, ist der Kassian nicht von seiner Arbeit aufgestanden, – weil er bei ihr nicht gesessen ist, sondern von dem alten Kanapee, auf dem er alle Viere von sich streckte, und über sein verschlafenes Gesicht ist es gegangen wie ein Sonnenleuchten über einen Ödgrund. Und der Kassian hat gemeint, es brauche weiter nichts als seine Uhrmacherarme, seine stinkfaulen, ausbreiten und das Mädel, das so schnell seinen Willen erfüllte, darein einschließen. Oha! Eine gehörige Tachtel hat er auf seinem Dickkopf droben, aber in seinen Armen hat er nichts. Und weil er die Abweisung sich gar nicht anders erklären kann, so sagt er: »I bin«, sagt er in einem ungemein einschmeichelnden Ton, »von Haus aus net e so, wie i bin.«

»E Faulpelz bischt, e verfressener. E Landschtreicher bischt.«

»Noi, Kathrein. I bin nur bloß e so, daß i die sitzed Lebensweis nimmer vertrag, sobald emal d' Schtare komme und d' Schwalbe am Fenschter vorbeischiaße, Gott woiß wohi', und so viel sonneblanke Weg in d'Welt 'neilaufe. Da mueß i mit, Kathrein, da mueß i mit. Und wenn glei hundert Moischter hinter mir drei'flueche und mei' Sitzfleisch verwünsche und mir Hunger und Not und alle böse Goischter nochhetze, – i mueß mit. Und i sag d'r, Kathrein: e so e U'rascht ischt der Teufel im Bluet.«

Die Kathrein ist dagestanden und hat den Kassian groß angeschaut. »Druck 'n halt 'na!« sagt sie endlich. »Druck'n 'na!«

»Geht net, Kathrein. Oiner alloi' ischt d'rzue z'wenig. Do müeßte scho zwoi mitenand drucke. Und bis me so wen find't, der mitdrucke wollt« – und eine Gott und Welt umspannende Hoffnungslosigkeit klingt aus seinen Worten –, »derweil ischt der Lump fertig und alles aus. Kathrein, auf Ehr und Seligkeit, i han 's no koim einzige gsagt, aber dir sag i 's: Kathrein, i bin e unglücklicher Mensch.«

Die Kathrein steht immer noch am gleichen Fleck und schaut immer noch groß den Kassian an, und ihre Augen schimmern in feuchtem Glanz. Weil das große Erbarmen in ihr aufgestiegen ist.

Das war, ihr gänzlich unbewußt, von langer Hand und anscheinend recht zwecklos von den verschiedensten Dingen und entlegensten Vorgängen so vorbereitet worden: von den letzten Blumen des Gartens, von einem in der Heide verklingenden Lied, von der sinkenden Sonne und den zaghaften Sternen. War so vorbereitet worden in der großen Stille des persönlichen Werdens als allumfassendes Gefühl, bis es sich jetzt, begrenzt und vertieft, dem Kassian also offenbaren konnte: »I tät ja gern mitdrucke, wenn i no wüßt, daß 's was helfe tät.«

»Kathrein!« hat da der Kassian aufgeschrien und hat abermals seine Uhrmacherflügel ausgebreitet und dieses Mal keine Tachtel eingeheimst. Im Gegenteil, es ist ihm vorgekommen, als wär' er mit einemmal ins Paradies versetzt. Da pressiert es freilich einem armen Teufel mit dem Gehen nicht. Auch dem Kassian nicht und – auch nicht der Kathrein.

Deswegen hat sich nun über den hochwürdigen Herrn Pfarrer Duisele unten eine große Gemütsunruhe ausgedehnt. Die ersten zwanzig Minuten noch nicht. Die konnte er noch ausfüllen mit einem konzentrierten Gebet um Seelenstärke für die Kathrein und um eine gottwohlgefällige Aufführung für den Schermauser. Als aber schon eine halbe Stunde vorbei und die Kathrein noch immer nicht aus der Löwengrube zurück war, da war 's auch vorbei mit der Sammlung und Konzentration des hochwürdigen Herrn.

Zuerst ist er auf den Kirchenplatz hinausgeschossen und hat in die unermeßliche Höh' hinaufgeschrien: »Kathrein! Kathrein!« Dann ist er wieder in den Pfarrhof zurückgesprengt und bald darauf mit einem Aktendeckel, überschrieben »Bischöfliches Ordinariat. Ehedispens des Vinzenz Zeitlmoser und der Bibiana Gugg«, wieder aus dem Pfarrhaus herausgeplatzt, hat aus dem »Bischöfl. Ordinariat« ein Sprachrohr gedreht und durch das Zeitlmoserische Ehehindernis hindurch den Silberwolken zugerufen: »Kathrein! Kassian! – Kassian! Kathrein!«, als wär' ihm endlich eine Verbesserung der alten Volksweise »Eduard und Kunigunde, Kunigunde und Eduard« gelungen und könnt' er in seinem Dichterstolz den neuen Text nicht laut und weit genug austrompeten. Aber die Wolken sind übern Kirchturm weggeflogen, und von der Kathrein und dem Kassian hat sich nichts gezeigt. Dafür jedoch ist im ersten Stock des Pfarrhofes die alte Haushälterin an einem Fenster aufgetaucht, die Angelika, und hat herabgerufen: »Hochwürde, brülle Se doch net gar e so! Se ziehe Ihne ja no en Leibschade zu.« Und auf diese Warnung hin hat es der hochwürdige Herr mit der menschlichen Stimme überhaupt aufgegeben.

Zum Ersatz hat er sich in seiner Gewissensbedrängnis aus dem Küchenfenster die Posaune seines verstorbenen Bruders, des Hofmusikus, herauslangen lassen, alsbald jedoch die Erfahrung gemacht, daß mittelst dieses himmlischen Instruments der Mensch zwar auch in seinem siebenundsechzigsten Lebensjahr noch Hals und Gesicht sich rot und blau aufblasen kann, deshalb aber noch lang keinen Ton herauszubringen braucht. »Hochwürde,« hat darum die anscheinend musikverständige Angelika schon wieder besorgt herabgerufen, »'s Posauneblose mueß me au höre und net bloß sehe! Oder wölle Se Ihne etwa gar e Schlägle herblose?«, worauf der geängstigte Seelenhirte auch dieses Alarmmittel verwarf und wieder, wie immer der Mensch in der höchsten Not, zum Gebet zurückkehrte.

Nur hat ihm dabei seine Aufregung wieder einen Streich gespielt. Vor allem schon gleich damit, daß er den heiligen Leonhard anrief, der doch nur fürs Vieh aufgestellt ist und nicht für die Menschen. Sodann aber auch, weil er in seinem Gezappel die Kathrein mit der Angelika verwechselt und für die alte Angelika um ein ruhiges Blut und die Tugend der Keuschheit den Himmel bestürmt hat, beides aber der Angelika ohnehin schon in reichstem Maß zugeteilt war. Was freilich in dem Punkt die Kathrein anbelangt, so läßt sich mit voller Sicherheit nur so viel sagen, daß für zwei junge Leute, die einander leiden können, sechzig Meter ungestörte relative Höhe nicht wenig und drei Viertelstunden Aufenthalt unter solchen Umständen selbst für eine Unschuld mehr als genug sind. Und deshalb haben sich auch des hochwürdigen Herrn Pfarrers Duisele Zweifel und Gewissensqualen sogar dann noch nicht gelegt, als die Kathrein endlich wieder auf dem Erdboden erschien und berichtete, daß der Kassian nunmehr bestimmt in drei Tagen sein Werk vollende, weil er nämlich wieder ganz und gar und ausschließlich der Uhrmacherei sich ergeben und in der Stadt drinnen bei einem Meister Arbeit suchen wolle.

Und in der Tat, nach drei Tagen war der Kassian fort, zur Erhaltung seines Andenkens aber noch da: erstens die Kirchenuhr und zweitens die Kathrein.

Die Uhr verhielt sich so: Um halb schlägt sie ganz, um Viertel halb und um drei Viertel gar nicht. Statt fünft pimpelet s' acht, statt achte elf, um neune sieben und mit den andern Stunden treibt sie es noch bunter. Wer von Hexenberg ans Gericht muß, kommt das eine Mal zu spät, das andre Mal zu früh; wer um viere auf dem Feld draußen sein soll, flackt um sechse noch im Bett, und vom Wirtshaus gehen die Bauern überhaupt nicht mehr heim. Die Weiber schimpfen über die Männer, die Mannerleut' über die Weiber und alle miteinander über den Pfarrer Duisele. Dazwischen macht dann wieder, damit die Sach nicht gar zu traurig wird, das Glockenspiel, wenn es ihm grad einfällt, so einen Hopser, von dem man nicht weiß, gehört er ins »Mailüftle« oder ins » Te deum landamus«, und dreht der Augsburger Meister mitsamt seinem Buckel im Grab sich um. Was wird aber erst das bischöfliche Ordinariat tun, wenn es einmal hinter diese Konservierung eines kirchlichen Kunstdenkmals kommt?

Und die Kathrein? Die wartet. Wartet immer dringender, immer peinlicher. Denn auch sie spürt jetzt den Teufel im Blut. Richtet dazwischen die Heiratspapiere her, macht ihr kleines Vatergut mobil und wartet auf den Ruf des Kassian. Wartet und wartet.

Wer hat aber das Mädel, das anvertraute, auf den Turm hinauf- und in dieses Hangen und Bangen hineingehetzt? Wer? Und warum? – – Duisele, Muisele! die Seelenruh' ist hin.


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