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Der Gemeindewald

»Aber der Forstmeister macht seit acht Tagen eine Bebben! Ist's vielleicht in Rosenheim mit seinem Buben auch wieder nichts?«

»Mit seinem Buben! Sein Bub macht unserm Forstmeister den wenigsten Kummer. Ob der in Freising durchfällt oder in Rosenheim, ist unserm Forstmeister Wurscht. Aber sein Wirtschaftsplan! Da verging' Ihnen auch das Lachen.«

»Was für ein Wirtschaftsplan?«

Mein Gewährsmann blieb stehen. »Ja,« sagte er, »jetzt weiß ich nicht: haben Sie die letzten sechs Wochen in einem Saus dahingeschlafen oder sind Sie vielleicht gestern erst von einer Weltreise durch Afrika zurückgekehrt? Ach was, Afrika! Asien muß man sagen, denn in Afrika ist sicherlich die Geschichte jetzt auch schon bekannt. Ist ja alles Holz dahinunter gegangen!«

»Wie, wo, welches Holz?«

»Unglaublich! Das Holz vom Wieszeller Gemeindewald! Die Gemeinde Wieszell – das werden Sie denn doch in Gottes Namen wissen! – besitzt nämlich auf der Südseite des Jochberges einen Prachtwald. An die vierzig Hektar. Wenn's nur reicht. Mehr als hundert Tagwerk.«

»Und was so ein Kommunalwald«, bemerkte ich jetzt, um wenigstens mein theoretisches Wissen zu bekunden, »in einer Zeit bedeutet, wo den Gemeinden von Tag zu Tag mehr Lasten aufgebürdet werden, das liegt auf der Hand. Er braucht nicht einmal groß zu sein, nur gut bewirtschaftet, und – gottlob! – daran fehlt es beim Weitblick der Regierung, der Berufsfreudigkeit, Schulung und Sachkenntnis unserer äußeren Behörden nicht. Das Rückgrat des Gemeindehaushalts ist geradezu ein solcher Waldbesitz.«

»Wenn er da ist«, sagte mein Gewährsmann.

Jetzt blieb ich stehen. Und was ich da und im Weitergehen erfuhr, war folgendes:

An Michaeli waren's zwei Jahre. Da sitzen in Wieszell die Bauern beim Unterwirt und politisieren und diskurrieren und kommen so auch auf den Wirtschaftsplan, den das Forstamt für den Gemeindewald ausgearbeitet hat, und zuletzt, weil der Pfarrer heute über das Evangelium gepredigt: »Nicht was zum Munde eingeht, sondern was aus dem Munde kommt, verunreinigt den Menschen«, auch auf das Fasten, die Fleischpreise und die Kosten der Viehhaltung. Der Gemeindeschreiber am untern Tischende spricht aber immer noch vom forstamtlichen Wirtschaftsplan und kann seine Genauigkeit, Klarheit, Übersichtlichkeit nicht genug rühmen und fängt damit immer wieder von vorne an.

»Schon recht,« ruft deshalb der Mesnerbauer vom nächsten Tisch herüber, »aber meine Küah geben deszwegen nöt um an Liter mehra Mili!«

»Und meine Fackeln wern a nöt fett davo«, hängt geschwind der Wurzengütler daran, der sich jedesmal freut, wenn es gegen das Forstamt geht. Weil der Forstmeister sein Feind ist und ihn schon zweimal zur Strafe gebracht hat, unschuldig. Das eine Mal, weil er bei dem großen Windbruch vor vier Jahren einen die Straße sperrenden Fichtenstamm, um den Weg wieder gangbar zu machen, in seine Holzleg hineingeräumt, und das andre Mal, weil er einen schwerkranken Hasen aus lauter Mitleid erschlagen, mit heimgenommen und gegessen hat; nur um ihn nicht den Füchsen zu lassen. Der Wurzengütler braucht immer einen ganzen Abend zu der Geschichte, und bei der leisesten Gelegenheit hebt er damit an. Jetzt sagt er indes nur noch: »Ob dem Forstmoaster sei' Wirtschaftsplan aso oder aso is, deszwegen geben ins dö Spitzbuam Metzger not um an Pfenning mehra für inser Viech«; dann übertönt der Beifall seine Worte. Denn das ist in Wieszell wie überall: Selbstverständlichkeiten, zur rechten Zeit und mit Pathos vorgetragen, verfehlen ihre Wirkung nie. »Wahr is 's«, schreit der Unterseher von Hupping, das aber noch zu Wieszell gehört; »dös is a Wort, Wurzentoni!« der alte Bernbreiter; »Brafo! So is 's und not anders«, mehrere zugleich, und der Schramm von Glaseck haut mit der Faust auf den Tisch und erklärt: »Dö Petschierten san alleweil mir!«

Diese Zustimmung ermutigt den Wurzelgütler. »Mir,« fährt er fort, »bal' 's nachgang ...«

»Nacher hätten mir scho lang a Distriktskrankenhaus für marode Hasen mit dir als Direkta«, ergänzt der Wirt, der es nicht vergessen kann, daß der Wurzentoni den Flaschenbierhandel nach Wieszell gebracht hat, und das Gelächter ringsherum läßt deutlich erkennen, daß man auch dem Wurzengütler gern sein Teil vergönnt. Der verkneift aber seinen Ärger, blinzelt nur so auf den Kropf des Unterwirts hin, den größten im ganzen Bezirksamt, und wiederholt: »Mir bald's nachgang, Du bildsauberner Wirt, nacher braucheten mir überhaupts koan Wirtschaftsplan.«

»Wia dös?« fragt der Bürgermeister.

»Wia dös? Weil mir koa Holz hätten.« Ihren Blicken nach scheinen die Umsitzenden mehr erwartet zu haben. »Weil mir insern Wald scho lang g'schlagen hätten.« Einige Köpfe nicken beifällig. »Weil mir nöt so dumm waar'n. Bei dö heutigen Steuern und Lasten.«

»Wahr is 's,« sagt der Schramm von Graseck, »recht hat er«, und die andern nicken. Es ist die Zustimmung der Resignation, die sich in das Unabänderliche schickt, der eigenen Dummheit so gut, wie der Staatsraison. Nur der Bürgermeister nickt nicht, bleibt mit dem Gemeindeschreiber objektiv.

»G'hört der Wald ins Gemeindebürger oder g'hört er an Forstmoaster?« fährt deshalb der Wurzengütler fort, und mit einer Betonung, die den Beamten unter die Enterbten verweist, sekundiert ihm der Schramm von Graseck und lacht: »An Forstmoasta –!«

»Also!« sagt der Wurzentoni.

»Also?« ruft der Wirt aus der Schenke heraus, wohin er sich sofort nach jener Anspielung des Wurzengütlers zurückgezogen hat. »Also?« und schlägt auch schon wieder das Schenkfenster zu. So weicht er bösartigen Gästen schon seit Jahren aus; die Teilnahme an der Diskussion steht ihm ja dennoch frei; er braucht nur das kleine Fenster wieder emporzuschieben und den Kopf herauszustrecken.

»Also kinnan mir mit insern Holz anfanga, was mir mögen! Also kinnan 's mir stockfaul wern lassen oder mir kinnan 's schlagen. Wann 's ins g'freut. Also ...«

Jetzt schiebt der Wirt eben wieder das Schenkfenster empor und streckt in begreiflicher Spannung den Kopf in die Stube hinein. »Daß d' da dei' Krawattl nöt ei'zwickst, wanns d' wieder so g'schwind zuamachst!« ruft ihm der Wurzentoni in besorgtem Wohlwollen zu. »Paß auf!« Und der Wirt verschwindet.

»Also kinnan mir an Wald a an Juden Lammle verkaafa, wann mir 'n scho not selber schlagen wollen, und der Jud Lämmle, – in vierzehn Tag hat er 'n weg.«

»Dös dümmste waar 's nöt,« sagt der Schramm von Graseck, »und 's Geld wurd' verteilt unter dö Gemeindebürger.«

Mit einemmal ist's still geworden in der Gaststube. Nur das Windrad in dem einen Fenster oben surrt weiter und kann doch den Tabaksqualm nicht bewältigen. Alles horcht. Auch der Wirt hat seinen Kopf wieder in der Stube herinnen. Vom Geldverteilen hören die Bauern ja gar so gern.

Aber der Gemeindeschreiber tut die Unmöglichkeit eines solchen Beginnens dar, indem er die Instanzen aufzählt, die alle einer derartigen Ungesetzlichkeit im Weg stünden: das Forstamt, das Bezirksamt, die Kreisregierung – doch der Gemeindeschreiber mag immerhin dagegen sein, wenn die Bürger, die ihn und seine Familie erhalten, dafür sind! Und außerdem: der Gemeindeschreiber, versteht sich, müßt' auch einen Anteil kriegen, sagt der alte Bernbreiter, und der Gemeindeschreiber schweigt. So bleiben die Gegenargumente des Wurzentoni: »Aufs Forstamt is 'pfiffen – das Bezirksamt, da bals d' ma nöt gehst! – d' Regierung, dö sell erscht!« unwidersprochen, und man trennt sich diesen Abend mit einem im Entwurfe fertigen, von den einen ausdrücklich gebilligten, von den andern stillschweigend akzeptierten Attentat auf den Gemeindewald. Noch vor seinem Häusel am oberen Dorfende hört man den Wurzentoni in seinen Nachbarn und in die Nacht hineinreden: »Der Forstmoasta, woaßt – der Forstmoasta, sag i da – der Forstmoasta, dös sell derfst glabn: der hat insern Gemeindewald no nia gsehgn, und er siecht 'n nimmer aa.«

Dafür aber schaute ihn sich acht Tage später um so gründlicher der Jonas Lämmle aus Mannheim an, in Firma Lämmle & Sohn, Ex- und Import von Hölzern aller Art. Ja, vielleicht hat selbst ein Forstmann noch niemals mit solcher Hingebung sich in den Zauber des deutschen Waldes versenkt, wie damals Jonas Lämmle aus Mannheim sich in den Kubikinhalt des Wieszeller Gemeindeholzes. Und drei Wochen darauf war der Wald weg.

Gerade um diese Zeit lief bei der Kgl. Kreisregierung, Kammer des Innern, zur Genehmigung oder allenfallsigen Beanstandung und Korrektur ein respektabler Akt des Forstamtes Seeham ein, in Rundschrift überschrieben mit »Wieszeller Gemeindewald«, und als vornehmsten Bestandteil eben den erwähnten Wirtschaftsplan enthaltend, der in genialer Dreiteilung eine allgemein-geographische Einleitung nebst Situationsplan, eine sehr akademisch gehaltene Beschreibung des Objektes und eine außerordentlich sorgfältige Rentabilitätsberechnung darbot. Sie präludierte mit statistischen Feststellungen über Produktionskosten und Preiskonjunkturen, erhob sich zwanglos zu einer Phantasie über Bodenkunde, Botanik und Volkswirtschaft, tobte sich in den kompliziertesten mathematischen Formeln gewissermaßen aus und kam zuletzt mit einer Empfehlung des aufgestellten Wirtschaftsplanes zu abgeklärter Ruhe. Es war eine Symphonie, eine forstwissenschaftliche Symphonie, und bliebe die Welt nicht ewig ungerecht und das deutsche Volk den spezialwissenschaftlichen Ausdrucksmöglichkeiten gegenüber nicht ewig indifferent, neben Mozart und Beethoven erhielte noch oder hätte vielleicht schon seinen Platz der Forstmeister Kohlgruber von Seeham. Immerhin äußerte auch so schon der Oberforstrat Druckseis, als der Akt zur sachverständigen Begutachtung in die Kammer der Forsten gelangte, zu seinen Assessoren: »Sehen Sie, meine Herren, – wenn Sie einmal hinauskommen zu selbständigem Schaffen und eigener Verantwortlichkeit –, so sieht ein Wirtschaftsplan aus. So sieht er aus. So.« Und was dieser Beifall bedeutet, wird der voll ermessen können, der die schwer zu befriedigenden Anforderungen und die eigensinnige Akuratesse des Oberforstrates Druckseis kennt. Um dieselbe Zeit aber gelangte der Wieszeller Gemeindewald in Mannheim an.

Vier Wochen darauf kam der Akt im Geleite des Bureaudieners Pfleiderer wieder an die Kammer des Innern zurück, und wenn auch nicht geleugnet werden soll, daß Pfleiderer gerade auf Dienstgängen in wahrhaft unbeherrschter Weise seiner Schnupferleidenschaft frönte, so dürfen ihm doch nimmermehr Verzögerungen wie diese zugeschrieben werden; denn seine Prisen zählten wohl nach Minuten, vier Wochen aber hat er zu keiner, auch in seiner besten Schmalzlerzeit nicht, gebraucht. Daß gegen den Wirtschaftsplan seitens der Kammer der Forsten keine Erinnerung bestehe, war der Gewinn dieser vier Wochen. Natürlich! Was fragt die Forstverwaltung danach, ob eine Gemeinde an ihrer Umlagenlast sich verblutet, wenn nur die Nachhaltigkeit der Waldwirtschaft verbürgt ist! Aber, Gott sei Dank, in der Kammer des Innern gelten auch noch andere Gesichtspunkte, und so ließ der Regierungsrat Wohlgeschaffen in einem weitläufigen Exposé es sich angelegen sein, das Augenmerk der Forstverwaltung auf die prekäre Finanzlage der Gemeinde Wieszell zu lenken, mit der Anfrage, ob denn nicht im Hinblicke hierauf ein höherer Jahreshiebsatz als der im Wirtschaftsplan festgesetzte begutachtet werden könnte. Schon nach vierzehn Tagen überreichte diese volksfreundliche Anregung der Bureaudiener Pfleiderer aus einer Brasilwolke heraus dem Oberforstrat Druckseis, der sofort die sämtlichen Fenster seiner Kanzlei öffnen ließ, weiteres aber vorläufig nicht veranlaßte. Um diese Zeit gelangte der Wieszeller Gemeindewald in Holland an.

Als dann der Oberforstrat Druckseis in einer ungemein gehaltvollen Denkschrift und nicht ohne Seitenhiebe auf die andere, in dieser Frage eben nicht sachverständige Kammer, den unnachgiebigen Standpunkt der Forstbehörde darlegte und begründete, schaukelte der Wieszeller Gemeindewald bereits durch den Kanal. Als zur örtlichen Prüfung der immerhin schwankenden Verhältnisse, unter Führung des Forstmeisters Kohlgruber und Zuziehung von zwei Wieszeller Gemeindebürgern, eine Regierungskommission gebildet wurde, segelte er in ausgezeichneter Fahrt durch den sonst so stürmischen Golf von Biskaya. Und als die Regierungskommission – die zwei Gemeindebürger waren wohlweislich weggeblieben –, durch eine mangelhafte Kartenskizze irregeleitet, statt des Gemeindewaldes das Wieszeller Pfarrholz besichtigte, warf er vor den Kanarischen Inseln Anker. Während der Windstille, die ihn dort festhielt, starb plötzlich und unerwartet – der Schnupftabak, hieß es, sei ihm ins Gehirn gedrungen – der Bureaudiener Pfleiderer. Sonst nahmen die Dinge den naturgemäßen Lauf: der Wirtschaftsplan wurde bestätigt, der Akt reponiert, der Wald in Swakopmund gelandet und das Geld unter die Wieszeller verteilt. Daß der schon seit drei Jahren ortsabwesende und verschollene Häusler Gerum nichts bekam, war selbstverständlich, und daß er bei seiner Rückkehr vor acht Wochen seinen Anteil haben wollte, nicht minder. Aber das Geld war dahin. Wer sollte dem Häuselmann seinen Teil ersetzen? Niemand wollte von ihm etwas wissen; Einwand über Einwand hielt man dem Landfahrer entgegen. Wie da zu seinem Geld kommen? Durch einen Prozeß, natürlich durch einen Prozeß. Und also kam's zum gerichtlichen Austrag. Mit dem Häuselmann auf der einen und dem Bürgermeister und allen übrigen Bereicherten auf der andern Seite. Gott, welch ein Rattenkönig! Und mit dem Forstmeister Kohlgruber als Zeugen und Sachverständigen. Himmel, diese Bombe! Wie der hellichte Gottseibeiuns schlug sie ein. Und so kam es auf, daß das Wieszeller Pfarrholz nicht der Wieszeller Gemeindewald war, und daß der Wieszeller Gemeindewald keines Wirtschaftsplanes mehr bedurfte.

»Begreifen Sie jetzt, warum der Forstmeister eine Bebben macht? und daß nicht sein Bub daran schuld ist?«

»Ja,« sagte ich, »jetzt begreif' ich's.«


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