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Das goldene Münchner Herz

Alles Werden endet in Duft und Verklingen, alles Vergehen ist heimliches Werden und die stolzeste Gegenwart eine schon halb entblätterte Rose. Diesem Naturgesetz zufolge ist von den dermaleinstigen Paulaner Mönchen in München nichts übrig geblieben als der Salvator. Doch das genügt. Genügt zum Siege der Vollkommenheit, zur Erfüllung der Gerechtigkeit, zum Triumph der Wahrheit. Des zum Beweise dient Herr Onuphrius Schnegg, Eigenbrötler durch Neigung, Ziseleur von Beruf und Junggeselle aus Grundsatz.

Er sitzt in diesem Augenblick auf dem Kanapee der Witwe Zacherl, wohin als ihren Ehrenplatz trotz seines Sträubens sie ihn genötigt hat, und die Witwe Zacherl sagt: »O mein Gott,« sagt sie, »da is er noch g'sessen vor drei Wochen, akkrat da, wo Sie jetzt sitzen, Herr Schnegg, g'wiß drei Stund lang, aber seitdem is 's aus zwischen dö zwei, ganz aus: nicht ein Sterbenswörtl hat er mehr hören lassen.«

Die Frau Zacherl spricht vom Herrn Buchhalter Bömmlein, dem Bräutigam ihrer Tochter Rosl, die sich, um die Tränen zu verbergen, tief über ihre Modistinnen-Arbeit beugt, und der Herr Schnegg denkt: »Wunder wär's eigentlich keins, wenn einer sich für immer z'rückziehet bei so infamen Sofafedern,« und rückt wieder ein Stück weiter auf dem Kanapee und trifft's doch nicht besser. Im Gegenteil. Denn das Kanapee ist ein Bild des heutigen Witwenstandes: es fehlt an allen Ecken und Enden. Wie die Memnonsäule unterm ersten Morgenstrahl, so gibt das Kanapee der Witwe Zacherl unter den ersten Berührungen mit menschlichen Nordseiten einen klingenden Ton von sich, und wie die tückische Tarantel, wenn einer ahnungslos sich draufsetzt, so sticht das Kanapee; denn alle seine Federn sind entartet. »So was mag freilich nicht ein jeder,« denkt der Herr Schnegg und rückt abermals ein End weiter, »und Wunder wär's keins, wenn einer nicht hineinheiraten möcht in eine solche Familie.«

Wahrscheinlich deswegen beugt sich auch jetzt die Rosl noch tiefer auf ihre Modistinnen-Arbeit herab und deswegen wieder, wahrscheinlich, sagt der Herr Schnegg: »Liebe Frau Zacherl,« sagt er, »und bildsaubers Roserl, jetzt lassen S' amal vorläufig die Gschicht mit 'm Herrn Bömmlein, wie s' ist, und gehen mit mir zum Salvator auf 'n Nockherberg!«

Daraufhin fährt sich die Witwe Zacherl mit dem Schürzenzipfel über die Augen, weil sie an die Zeiten denken muß, da der Herr Schnegg ihren Seligen noch abgeholt hat zum gleichen Zweck Jahr für Jahr, und weil es so viel rührend ist, daß der Herr Schnegg, wie aus einem dem Toten geschuldeten Treugelöbnis, seitdem sie und die Rosl abholt zu diesem schönen Zweck, Jahr um Jahr. Und die Frau Zacherl fährt sich mit dem Schürzenzipfel über die Augen und der Rosl fällt eine Träne in die Hutform hinein und der Herr Schnegg treibt zur Eile, weil sonst der Salvator zu End geht und weil er froh ist, von den heimtückischen Sofafedern loszukommen. Indem er aufsteht, erklingen sie, wie zum Abschied, ein letztes Mal.

Und so sitzen also nach einer Weile die Drei auf dem Nockherberg, und es ist schon so, und ihr dürft es gewißlich glauben: Was den Stammeltern das Paradies gewesen ist mit seinen einschmeichelnden Veranstaltungen, das ist ihren altbayrischen Nachkommen mit seiner die Dissonanzen des Lebens übertönenden Blechmusik, seinem alle Unebenheiten des Daseins freundlich verhüllenden Tabaksqualm, seinem jede Gewagtheit der Konversation traulich kaschierenden Gesumm, seinen beglückenden Schweinswürstchen und seinem schäumenden uralten Paulaner-Trunk der Nockherberg. Gleichwohl kann die Witwe Zacherl nicht froh werden. »O mein Gott,« seufzt sie, »sind das Zeiten! Im Haus kein Geld, im Geldbeutel nur Papier, und wenn einer a Gold sehen will, muß er nach Altötting reisen und 's goldne Rößl betrachten, und dös hätten s' bei einem Haar gstohlen. Das Münchner Herz wird bald das einzige Gold sein auf dera Welt.«

»O Jessas!« sagt der Herr Schnegg. »Mit dem wenn Sie mir nicht gehen. Es ist dahin, glatt fort, wie seine Verwandtschaft: das gedünstete Kalbsherz um achtzig Pfenning, das Schweinsherzl am Spieß um eine Mark und das Lebkuchenherz von der Auer Dult um einen liebreichen Augenaufschlag.«

»Wenn 's überhaupts amal da war,« sagt die Rosl als ihr erstes Wort, aber schon so bitter, daß man daraus fast schließen muß, daß auch der Salvator nicht mehr die alte Seelenstärkung ist, und der Herr Schnegg pflichtet ihr bei: »Ich hab auch nie recht dran glaubt. Man hat von dem berühmten goldnen Münchner Herz immer zu viel gehört und zu wenig gesehn. Beim Armenball, ja, da hat's die Polonaise mittanzt, weil's auf die Weis in die Zeitung kommen ist, und auf Einzeichnungslisten für öffentliche Wohltätigkeit hat es sich durch die Stadt tragen lassen, aber sonst hab ich's, aufrichtig gsagt, nicht antroffen.«

»Sie reden wie mein Mann selig«, sagt die Witwe Zacherl. »Der hat's auch immer bestritten und war doch die Herzensgüte selber. Aber,« fährt sie fort, die dem Verewigten gebührende Träne im Aug, »was wahr is, is wahr: der Salvator ist ausgezeichnet.«

»Sehen S',« sagt der Herr Schnegg, »da hinten, an dem zweiten Tisch rechts, bin ich vor fünf Jahr 's letzte Mal mit ihm« – er spricht von dem allzu früh den Seinen Entrissenen – »gsessen. Josef, hab' ich gsagt, jetzt langt's. Josef, jetzt geh' ma. Tua, was d' magst, hat er gsagt ...«

»Nein, so was Gutes gibt's nimmer!« sagt die Witwe Zacherl und stellt im Erinnerungsschmerz den schon erhobenen Maßkrug wieder auf den Tisch. »Er hat einem jeden Geschöpf seinen freien Willen lassen.«

»... tua, was d' magst, aber i bleib. Und so sind wir halt zu zweit blieben, weil keiner vom andern lassen hat.«

»Es war die echte, wahre Freundschaft,« sagt die Witwe Zacherl. Und der Herr Schnegg fährt fort: »Josef, hab' ich gsagt, es geht jetzt auf achte, und d' Leut mögen dös nöt, daß du mit deim Stock immer an Takt zu dö Lieder fuchtelst. Josef, geh' ma! Und indem hab' ich ihn langsam von der Bank aufziehen wollen. Er is aber grad im Gegenteil ganz langsam von der Bank nuntergrutscht, untern Tisch.«

»Nur, damit er heroben niemand belästigt«, sagt die Frau Zacherl mit feuchtem Blick. »Ja, so feinfühlend war er. Herr Schnegg, der hat's ghabt, das goldne Münchner Herz.«

»Er war das Zartgefühl selber«, sagt der Herr Schnegg. »Aber mit dem goldnen Münchner Herz lassen S' mich aus!« und um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, fragt er: »Du, Roserl,« fragt er, »wo wohnt jetzt eigentlich der Herr Bömmlein?«

»Ich mag am liebsten überhaupts nix mehr hören davon«, sagt die Rosl. »Wenn er meint, es ist sein Glück, dann nur zu: die Tochter des Prinzipals ist doch auf jeden Fall ein andrer Bissen als so eine Hinterhausmodistin.«

»Aha,« sagt der Herr Schnegg, »da her pfeift der Wind. Übrigens, der Herr Bömmlein schaut mir nicht so aus. Ein Windwachl ist der Herr Bömmlein nicht.«

»Warum kommt er dann nimmer? Warum laßt er seit drei Wochen kein Sterbenswörtl mehr hören? Und warum ist er, wie er das letzte Mal da war, auf und davon, als wenn wir ihm ein Leid angetan hätten?«

»Ja,« sagt die Frau Zacherl, »so und nöt anders is er naus. Aber was wahr is, is wahr: der Salvator ist ausgezeichnet.« Der Herr Schnegg indes sagt: »Gehn wir! Es ist Zeit, und es muß nicht unbedingt alle fünf Jahr eins untern Tisch nunterrutschen von der Familie.«

»Tröst ihn der liebe Gott!« fügt die Witwe Zacherl an. »Und wo sind S' gsessen?«

»Da hinten an dem zweiten Tisch rechts«, sagt der Herr Schnegg. »Wo jetzt die Bretzenfrau den Vortrag hält.«

»Der Herr gib ihm die ewige Ruh!« sagt die Witwe Zacherl im Aufstehen und setzt noch einmal den Maßkrug an – »weil 's doch um jeden Tropfen schad wär, den man stehen ließ',« aber es ist wirklich nichts mehr drin.

Gleich am nächsten Tag sucht der Herr Schnegg den Herrn Bömmlein auf. »Wissen Sie,« sagt er aufs erste, »die Rosl ist ein ausgezeichnetes Mädl. Direkt eine Errungenschaft für jeden Mann, ob arm oder reich.«

»Weiß ich,« sagt der Herr Bömmlein, »aber diese blödsinnige Eifersucht.«

»Nur ein Beweis ihrer Liebe«, sagt der Herr Schnegg. »Denn wissen Sie, ich war nicht immer gegen die Frauenwelt so unempfänglich, wie es vielleicht auf Fernstehende heute den Eindruck macht. Ich weiß darum sehr genau, wie so etwas zu taxieren ist. Und dann: das Mädl ist auch nicht so ganz ohne alles Vermögen, wie es vielleicht auf den ersten Blick herschaut. Zwölf bis fünfzehn Tausend sind ihr auf jeden Fall gewiß.«

»Wie viel?« sagt der Herr Bömmlein etwas beeilt.

»Zwölf bis fünfzehn Tausend.«

»Mir zwar ganz und gar neu, aber auch ganz und gar gleichgültig. Denn das Mädl ist 's, das mir gfallt, ausnehmend gut gfallt, nicht 's Geld. Denn so bin ich überhaupts.«

»Aber warum denn dann drei Wochen ohne alles Lebenszeichen?« fragt der Herr Schnegg.

»Nur wegen der saudummen Eifersucht,« sagt der Herr Bömmlein.

»Und warum denn dieses unbegreifliche Auf und Davon, Hals über Kopf? Als wie wenn die zwei Damen Ihnen ein Leids angetan hätten.«

»Die zwei grad nicht, Herr Schnegg. Aber sitzen Sie einmal einen ganzen Winter lang, nach der anstrengenden Kontorarbeit, Abend für Abend auf dem Ehrenplatz bei Frau Zacherl – denn anders tut sie 's ja nicht –, und mein Verhalten und mein endliches Auf und Davon wird Ihnen nicht mehr so unbegreiflich vorkommen.«

»Kann sein, kann sein,« sagt der Herr Schnegg. »Aber drei Wochen ohne alles Lebenszeichen – wie haben Sie sich denn das eigentlich gedacht?«

»Als Kur für die Rosl,« sagt der Herr Bömmlein, »von wegen dieser saudummen Eifersucht und als Erholung für mich von diesen infamen Sofafedern. Ein andrer,« sagt der Herr Bömmlein und erhebt die Stimme, »der es mit seinem Dienst weniger gewissenhaft nähm, wär überhaupts in ein Sanatorium.«

Und der Herr Schnegg weiß jetzt genug. Nimmt seinen Regenschirm, obwohl es draußen das herrlichste Frühlingswetter hat, nimmt seine Pelzhaube, obwohl draußen schon manch ein Strohhut daherkommt, und geht.

»Frau Zacherl,« sagt er gleich am nächsten Tag, »nur ein paar Wort unter vier Augen. Frau Zacherl! Ich war nicht immer so unempfänglich gegen die Frauenwelt, wie es vielleicht auf Fernstehende heute den Eindruck macht. Ich weiß darum sehr genau, was man der Liebe zumuten darf und was nicht. Frau Zacherl! Unvollkommenheiten, wie sie Ihr Kanapee aufweist, sind auch für eine reine, uneigennützige Liebe zu groß. Lassen Sie sofort auf meine Kosten Ihr Sofa zum Tapezierer Grünbaum schaffen! Herr Grünbaum hat bereits Weisung. Das Weitere geht Sie nichts an. Zweitens: wenn morgen der Herr Bömmlein wieder auftaucht, so können Sie ruhig sagen, die Rosl bekommt einmal zwölf- bis fünfzehntausend Mark, denn sie steht seit Jahr und Tag in meinem Testament. Und drittens: jetzt kommen S' auf der Stell mit mir, damit wir für die zwei Leutln die Aussteuer besorgen! Ruhe! Nichts als ein Akt der Gerechtigkeit; denn ich kann's entbehren und die Rosl braucht's.«

Der Witwe Zacherl stehen die hellen Tränen im Aug.

»Und Sie, grad Sie,« sagt sie, »zweifeln dran!«

»Ich? Zweifeln? An was?«

»Und grad Sie, Sie bringen die Wahrheit auf!«

»Ich? Die Wahrheit? Von was denn?«

»Vom goldenen Münchner Herz.«


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