Paul de Kock
Chipolata
Paul de Kock

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Schul-Omnibus

Wir leben im Jahrhundert der Erfindungen, der Neuerungen, der Verbesserungen; wir streben unaufhörlich nach Vollkommenheit. Wenn wir nun einmal in Allem vollkommen sein werden (was bei der Art, wie die Sachen gehen, nicht ausbleiben kann), dann ist das goldene Zeitalter da, und wir sind also in Folge des ewigen Vorwärtsschreitens wieder an dem Punkte angelangt, von dem wir ausgingen.

Ehemals waren es der Mittel zum Reisen wenige; Reisen war damals ein großes Geschäft. Man befand sich sehr schlecht in einer Kutsche, wo man Alles durcheinander hineinzwängte, und die Stöße dieser schlecht eingehängten Kutschen warfen euch jeden Augenblick auf eure Nachbarn, die ihrerseits wieder auf euch fielen.

Wenn man damals von Eisenbahnen gesprochen hätte, würde man einen auf dem Richtplatz als Hexenmeister verbrannt haben, denn es war vormals Sitte, Leute die unglücklich genug waren, mehr Geist, Einbildungskraft und Kenntnisse zu haben als ihre Zeitgenossen, zu verbrennen.

Die Menschen sind im Allgemeinen mit einer sehr starken Gabe Eigenliebe ausgestattet.

Wenn sie nichts wissen, so finden sie es sehr schlimm, daß Andere mehr wissen sollen als sie. In jenen Zeiten der Unwissenheit und Barbarei wäre ein Verkäufer von chemischen Zündhölzchen mit derselben Strafe belegt worden, wie die Marschallin von Ancre und Anna Dubourg.

Die ersten Völker indessen behandelten die Leute, die sie im Besitze geheimer Wissenschaften wähnten, statt sie zu verbrennen, vielmehr mit großer Ehrfurcht, ehrten sie und fragten sie um Rath. Aeneas fragte die Sibylle von Cumä, und König Saul die Hexe von Endor.

Dies beweist uns abermals, daß:

»Jede Zeit hat ihre Freuden, ihren Geist und ihre Art.«

Es ist noch kein halbes Jahrhundert her, daß man, um einen Besuch zu machen, in eine Soirée oder auf einen Ball zu gehen, eine Portechaise nahm. Da diese Chaisen gewöhnlich nur eine einzige Person aufnehmen konnten, so könnt ihr euch einen Begriff von der Anzahl der Portechaisen machen, die man haben mußte, wenn eine zahlreiche Familie sich in eine Abendgesellschaft begab.

Gewiß war damals das goldene Zeitalter für die Pferde.

Als sodann die Fiaker und Cabriolets kamen, konnten sich noch nicht alle Börsen diese Annehmlichkeit erlauben.

Um vom Faubourg Saint-Denis in die La Harpe-Straße zu kommen, fühlte sich der gemeine Bürgersmann nicht immer aufgelegt, den Preis eines Fiakercourses zu bezahlen; die bescheidene Capitalistin ging mit ihrem Kinde auf dem Arme und manchmal noch mit einem schweren Korbe zu Fuß durch ganz Paris, weil sie keine dreißig Sous ausgeben konnte.

Auch der junge Student, den die Liebe oft besser behandelt als das Glück, kam ganz beschmutzt zu einem Stelldichein und holte sich zuweilen ein Brustleiden, weil er an Schnelligkeit mit den Fiakern und Cabriolets, mit denen er nicht fahren konnte, wetteifern wollte.

Aber wenn man heut zu Tage zu Fuß geht, so geschieht es entweder aus Liebhaberei oder auf Befehl des Arztes.

Die Omnibus, die Parisiennes, die Favorites, die Bearnaises, die Dames von allen Farben, die jeden Augenblick alle Viertel der Hauptstadt durchkreuzen, gestatten mehr als eine Meile um sechs Sous zu machen, und ihr werdet nicht nur in der Stadt selbst herumgeführt, sondern auch die Stadtumgebung, das Land, die hübschesten Partieen um Paris öffnen euch die Arme; um sechs Sous könnt ihr nach Berry, nach Passy, Batignolles, St. Mandé, Monceaur sc. kommen.

In der That, um sich dieses Vergnügen versagen zu müssen, ist wohl die Redensart am Platze, man habe keine sechs Sous in der Tasche.

Und welche Quelle von Zerstreuungen und Beobachtungen sind nicht diese Sechssouswägen!

Wie alle Dinge sich da untereinander mischen, aller Unterschied des Ranges aufhört, wie verschieden die Toiletten sind (wenn man überhaupt dort Toiletten sieht)! Wenn die Gleichheit einst auf der Erde herrschen soll, so wird sie in den Omnibus geboren werden!

Seht einmal jene junge, artige Dame, deren Manieren so graziös und ausgezeichnet sind; neben sie setzt sich ein Arbeiter in Jacke, Mütze und schwarzen, rauhen Händen.

Etwas weiter weg sitzt der ernste öffentliche Beamte, der nie lacht, aus Furcht, seiner Würde etwas zu vergeben, neben einem Bruder Lustig in blauer Blouse, der den Morgen in einer Kneipe zu- und von da nicht nur einen Wein- und Zwiebelgeruch, sondern auch eine heitere sprudelnde Laune mitgebracht hat, die ihn fortreißt, ganz laut Bemerkungen oder Späße zu machen, auf welche man zwar nicht antwortet, die man aber doch anhören muß. Dann neben jenem jungen Dandy in gelben Handschuhen sitzt eine gute dicke Landpomeranze, die zwei Körbe, drei Pakete, eine Schachtel und eine Tasche trägt. (Es gibt Leute, die in einem Omnibus aus- und einziehen.)

Ferner sitzt eine hübsche Grisette mit sehr aufgeweckter Miene, lebhaftem, herausforderndem Auge, einem bejahrten, gutgekleideten Herrn gegenüber, der das Glück hat, seine Frau zur Rechten und seinen Hund zwischen den Beinen zu haben, und der trotz seiner Perrücke und seines respektabeln Aussehens der Grisette, seiner Nachbarin, einen verstohlenen Blick zuwirft, so oft seine Frau den Kopf auf die andere Seite dreht.

Ferner der ungeheure Herr, der das Gewicht eines Mehlsackes hat und wie ein solcher auf einen kleinen Platz und fast auf den Schooß eines alten, magern und trockenen Herrn niederfällt, dem er den Magen mit seinem Ellbogen fast einstößt, während er ihm mit der liebenswürdigsten Miene von der Welt sagt: »Ich drücke Sie ein wenig, aber das wird sich machen.«

Ferner die alte Marquise, der die Revolutionen ihr Vermögen und ihren Wagen genommen aber ihre Schminke und ihre Schönheits-Pflästerchen gelassen haben; die arme Dame ist an einen jungen Herrn mit großem Schnurrbarte, langen Haaren und enormem Backenbarte gedrückt, durch die sein Kopf einen ungeheuren Umfang erhält und ihm das Aussehen eines Wilden oder St. Simonisten gibt, obgleich der, welcher diesen Haarwald trägt, weder das Eine noch das Andere, sondern ein gutmüthiges Pariser Stadtkind ist.

Nun wohl! trotz dieser Verschiedenheiten des Rangs, Vermögens, der Erziehung und Kleidung stellt der Sechssouswagen unter allen Reisenden eine Art Brüderschaft her, die sich gewöhnlich durch kleine Dienste und Artigkeiten zu erkennen gibt.

So wird der Arbeiter in der Jacke sich Mühe geben, sich schmal zu machen, um die junge, artige Dame nicht zu geniren; der ernste Beamte wird ein weniger strenges Gesicht machen, wenn er seinem Nachbar, dem Mann in der Blouse, seine sechs Sous zum Weiterbefördern gibt; der Dandy wird sich herablassen, der guten dicken Landpomeranze, die mit Paketen überladen ist, die herausgegebene Münze zuzustellen; der respektable Herr wird keinen Anstand nehmen den Arm der Grisette zu halten, um ihr beim Aussteigen zu helfen, und der junge haarige Herr wird eine Weiterbeförderungskarte für die alte Marquise, seine Nachbarin, verlangen.

Man könnte also mit Recht finden, daß der Sechssouswagen dasselbe Lob verdient, wie die Musik: Emollit mores nec sinit esse feros. (Sie verfeinert die Sitten und verhindert, daß sie roh werden.)

*

Und nun haben wir wieder eine andere Neuerung.

Ehemals gingen eure Kinder, die eine Pension von der Stadt aus besuchten, zu Fuß in ihre Schule, in einer Hand das Körbchen mit dem Frühstücke, in der andern den Riemen mit den Büchern, den der Knabe vorsorglich an dem äußersten Ende hielt und im Gehen hin- und her schaukeln ließ, bis die Bücher Gelegenheit fanden, heraus- und auf die Straße zu fallen, was ihm hinwiederum Anlaß gab, sich aufzuhalten, um sie aufzulesen.

Wenn die Schüler so in ihre Halbpension gingen, ermangelten sie nicht, vor jedem Bilderbogen-, Conditor- oder Spielwaarenladen stehen zu bleiben; einige, von ihren Kameraden verleitet, riskirten sogar auf dem Boulevard eine Partie Steinkugelnwerfen.

Während ihr nun meintet, euer Sohn studire fleißig den Horaz oder Virgil, war er sehr eifrig beschäftigt, mit einem Strohhalme zu messen, ob Dieser oder Jener seinem Sou oder seiner Steinkugel näher sei.

Manchmal sogar thaten diese hoffnungsvollen Früchtchen, was man hinter die Schule gehen heißt, und was so viel ist, als sie gingen spazieren, statt in die Classe.

Alles das hatte zweifelsohne seine großen Unannehmlichkeiten, aber seither begnügte man sich, statt ganz abzuhelfen, damit, daß man eine ganz nahe an der Wohnung gelegene Pension auswählte, so daß der Schüler nur einen kleinen Weg bis dahin zu machen hatte.

Die Eltern, die Dienstboten hatten, ließen ihre Kinder durch diese in die Pensionen führen und wieder abholen.

Aber alle die, welche Niemand hatten, um ihre Kinder in die Classe führen zu lassen, mußten sich auf das Versprechen dieser kleinen Menschen von sechs bis zwölf Jahren, brav sein zu wollen, verlassen; diese aber ermangelten nicht, ihr Versprechen zu vergessen, als ob sie schon große Leute gewesen wären.

Wie aber da helfen? und wer hätte je gedacht, daß ein Tag kommen werde, wo die Kinder in Wagen in ihre Classe fahren würden?

Und doch ist er gekommen, dieser große Tag, der das Schulschwänzen vernichtet hat, und den Kuchen- und Zuckerbäckern einen empfindlichen Schaden bringen muß.

Der Vorsteher einer Pension, der einen Wagen hatte (denn man mußte zu Ausführung dieses Vorhabens nothwendig einen Wagen haben), sagte zu den Eltern: »Gebt euch keine Mühe mehr, mir des Morgens eure kleinen Jungen zu schicken, ich werde sie in euern Wohnungen mit einem Wagen ad hoc abholen und auf demselben Wege wieder heimführen lassen: dadurch braucht ihr nicht mehr die tausend und einige Unfälle zu fürchten, die euern Kindern in den Straßen von Paris zustoßen können, und ihr könnt auch über ihr Betragen beruhigt sein: sie können unterwegs keine schlechten Bekanntschaften mehr machen, sie werden keinen Sou mehr im Steinkugelspiel verlieren und sich den Magen nicht mehr mit Syrup oder verzuckerten Mandeln verderben; endlich werden sie nicht mehr hinter die Schule gehen, denn ihr werdet sie an eurer Thüre ein- und ebenso wieder aus dem Wagen steigen sehen.«

Die Eltern konnten über dieses neue Transportmittel nur erfreut sein, das ihnen möglich machte, ihre Kinder in gute Pensionate zu schicken, anstatt sich wie bisher auf die kleinen Schulen der Nachbarschaft zu beschränken; und der Schülerwagen wurden es zusehends mehr, da jede Pension ihren eigenen haben wollte.

Was die Kinder anbelangt, so mußte diese Maßregel nothwendig ihren Beifall ernten: denn im Wagen zu fahren ist eines der größten Vergnügen der Jugend; auch muß man sehen, wie früh man auf ist, wie man sich beeilt, sich anzukleiden, um fertig zu sein, und den Wagen nicht zu verfehlen, der so pünktlich ist wie der Zapfenstreich.

Die Eltern haben nicht mehr nöthig, die kleinen Faullenzer an den Ohren zu reißen: die Schüler wissen, daß der Wagen vorüberkommen wird, und sie sind eben so pünktlich wie ein Reisender, der seinen Platz auf der Postexpedition von Laffitte und Caillard bezahlt hat.

Seht einmal jenen kleinen zehnjährigen Knaben mit der schelmischen, heitern Miene, den kühnen und geistreichen Augen an: er wartet auf den Wagen des Pensionats, er kann nicht ruhig auf seinem Platze bleiben, und bis seine Equipage endlich kommt, hüpft er in der Stube herum und sagt zu einem seiner kleinen Nachbarn, der nicht wie er das Glück hat, in die Schule zu fahren: »Ah, Finot! das ist lustig, das ist hübsch, mit Pferden in die Pension zu fahren! Und begreifst Du, da muß man viel schneller gelehrt werden, als wenn man zu Fuß geht.«

Finot putzt sich die Nase an seinen Aermeln und entgegnet: »Aber Du sagst, der Wagen komme immer um acht Uhr präcis, um Dich abzuholen; sieh' aber, Benedict, an der goldenen Frau dort auf dem Kamine ist es schon halb neun Uhr vorüber.« – O, der Wagen wird kommen! er ist so pünktlich wie die Sonne, wenn sie scheint. Es ist gewiß angenehm, in die Pension zu fahren, als ob man nach Longchamps führe und idem farinae zurückzukommen, wie unser pedantischer Professor sagt; für mich besonders, der nur einmal auf einem Karren auf dem Markt von St. Cloud war, wo das Pferd erst noch in Boulogne hin wurde, so daß ich den übrigen Weg vollends zu Fuß machen mußte. – »Sag' aber, Benedict, da schlägt es neun Uhr.« – O, der Wagen wird gewiß kommen; er ist so pünktlich wie der Mond; nie bleibt er aus! Chaisenfahren, die Fußgehenden mit Koth bespritzen, ha, das heißt seinen Kindern eine gute Erziehung geben. Ich will nicht mehr zu Fuß gehen, pfui, das ist zu gemein! – »Aber höre, Du kannst ja keine Wurst, keinen Kuchen mehr unterwegs kaufen!« – Um so besser, da spare ich meine Sous zusammen. – »Benedict, da schlägt es zehn Uhr.« – Ach! laß mich doch in Ruhe, Dummkopf! Ich habe Dir schon gesagt, daß er kommen wird! nie zu spät! pünktlich wie die Gasflamme. Laß einmal in meinem Korbe sehen ... was habe ich zu frühstücken? Wieder Marollkäse ... es ist nicht möglich! Der Arzt hat also befohlen, daß man mich auf Marollkäse setzen soll; da werde ich schön zu Kräften kommen!«

Ein Herr von etwa fünfzig Jahren, der noch zwölf Haare auf dem Vorderkopf hat, die er sich anmaßt, zu einem Scheitel zu formiren, kommt in einen Schlafrock gehüllt, mit dem ihn seine Frau an Weihnachten überrascht hat, die dazu einen alten Mantel von sich verwenden ließ, und mit Pantoffeln an den Füßen, die seinen Fersen die vollkommenste Freiheit einräumen, sich vor Jedermann sehen zu lassen.

Dieser Herr hält in der einen Hand sein Schnupftuch und seine Tabaksdose, in der andern sein Journal und seine Tasse Milch; er runzelt die Stirne, als er seinen Jungen sieht, und brummt: »Wie, Benedict, Du bist noch nicht fort?« – O! Papachen, man wird mich abholen. Sie wissen wohl, daß der Wagen sehr pünktlich ist. – »Hm, ich meine im Gegentheil, daß er es nicht sehr ist; Lieber Sohn, Du wirst fleißig studiren, ich empfehle Dir den Ovid, das ist ein köstlicher Schriftsteller, und wenn Du ihn einmal verstehst ...« – O! den Ovid! Papa, ich bin voll von Ovid! den weiß ich auswendig. – »Und Plinius, mein Sohn?« – Plinius! Ich bin auch voll von Plinius. – »Um so besser; das ist eine herrliche Geistesnahrung.« – Ja, lieber Papa, wenn Sie mir aber dabei keine bessere Körpernahrung als Marollkäse geben ... so wird sie nicht bei mir bleiben.«

»Benedict,« sagte der andere Knabe, »es ist schon halb elf Uhr vorbei.« – Willst Du schweigen, Finot! er kommt sogleich, wenn ich Dir doch sage, daß er nie auf sich warten läßt, da, ich höre ihn, er hält vor der Thüre.«

Der Wagen der Pension hält in der That eben vor der Thüre des jungen Benedict.

Diese Wagen haben fast dieselbe Form wie die Omnibus, oder eher noch wie die Möbelwagen. Man kann bis zu zwanzig Kinder darin zusammenpacken.

Der Conducteur ruft unten: »Herr Benedict Drouillard!«

»Hier, hier!« ruft der Knabe. »Adieu, Papa, ich will fleißig studiren; Finot, sieh' mich einsteigen.«

Herr Benedict eilt allemal vier Stufen überspringend die Treppe hinab, stürzt dann in den Wagen, der fast voll ist, stößt und arbeitet sich rechts und links durch, und ruft dabei: »Platz, wie da, ich muß Platz haben! Ach, wie dumm, daß man Gitter an die Wagenthüren gemacht hat, man kann keine Apfelbutzen mehr auf die Vorübergehenden werfen; es gibt keinen Spaß mehr!«

*

Seid ihr schon einem jener Wagen begegnet, auf denen mit großen Buchstaben geschrieben steht: Pension von Dem und Dem?

Sie sind leicht zu erkennen: ihre Gestalt gleicht, wie wir schon gesagt haben, einem Möbelwagen; allein sie sind überall geschlossen und haben jetzt noch außerhalb der Fenster ein sehr enges Gitter: eine Vorsichtsmaßregel, die man gegen die Herren Reisenden darin zu treffen genöthigt war, nicht daß etwa Einer oder der Andere Lust bezeugt hätte, aus dem Wagen zu springen, sondern weil sie sich Neckereien erlaubten, die nicht immer nach dem Geschmacke der Fußgänger waren, wie z. B. einem Vorübergehenden eine Brodkruste oder einen Apfelbutzen in's Gesicht zu werfen, auf einen Hut zu speien oder Kügelchen in die Läden zu werfen. Das enge Gitter hat all' diesen Exercitien ein Ende gemacht.

Und jetzt schlägt es fünf Uhr; dies ist der Augenblick, wo die Pension alle ihre außerhalb der Anstalt wohnenden Schüler in den Wagen zusammenpacken und sie zu ihren Eltern zurückführen läßt. Die Schüler sind bereit, ihr könnet das aus dem Geschrei und dem Lärmen, der sich im Hofe hören läßt, entnehmen: alle die kleinen Jungen stürzen zumal heraus, stoßen und drängen sich, es gilt, wer zuerst in den Wagen kommt. Der Trieb, aus der Schule wegzukommen, scheint fast noch größer als der, in dieselbe zu kommen.

Es gibt aber auch einen Unterschied in den Plätzen, und diese Herren geben namentlich denen den Vorzug, die die Aussicht nach Außen gestatten.

Endlich sind alle Auswärtigen im Wagen, den der Bediente, der zugleich den Kutscher macht, sorgfältig schließt. Er steigt auf seinen Sitz, läßt seine Peitsche knallen, die Pferde setzen sich in Trab und der Wagen rollt ab.

Dieser Augenblick ist offenbar derjenige, in dem die Bürschchen das meiste Vergnügen empfinden; man sieht das Glück in ihren Augen glänzen, die Freude sich über alle ihre Züge verbreiten; dann sprechen Alle zumal, machen ihre Glossen und Bemerkungen über Alles, was ihnen auf dem Wege in die Augen fällt; nie habt ihr in Gesellschaft ein so lebhaftes, munteres und mit Lachen untermischtes Gespräch gehört.

»Ah! nun geht es vorwärts.« – Du hast meinen Platz, Du Eduard, Du warst gestern da, heute sollte ich da sein. – »Ah! ist der dumm mit seinem Platze! Ich wäre ein Narr, wenn ich Dir ihn abtreten würde; warum bist Du nicht zuerst eingestiegen.« – Du hattest expreß meinen Korb versteckt, um mich aufzuhalten, wenn man uns rufen würde; aber Du sollst morgen schon sehen, was ich Dir thun werde. – »Nun, was willst Du mir thun? auffressen wirst Du mich nicht!«

»Gib Acht auf meine kleine Schnecke,« sagt ein Bürschchen von sieben bis acht Jahren mit blondem Kopfe und etwas naseweisem Gesichte, mit einem Akazienzweig in der Hand, auf dem eine Schnecke der gemeinsten Art sitzt.

»Was braucht uns der mit seiner Schnecke zu langweilen? Wenn der Herr Direktor die bei Dir gesehen hätte, hättest Du Dein gehöriges Pensum bekommen. Wo hast Du diesen Akazienzweig her? Du weißt wohl, daß es verboten ist, im Garten etwas abzureißen.«

»Drum hab' ich meine Schnecke heute Morgen mitgebracht; man muß doch etwas zum Spielen haben. Ach wie, Benedict, stoß' mich doch nicht; Du wirst machen, daß sie hinunterfällt, und dann zertritt man sie.«

»Ach, ihr Herren, seht, seht, die Fischhändlerin! Sie sah auf die Seite und hat eine Handvoll Grundeln in die Gosse geworfen statt in den Kessel.«

Alle Schüler stürzen gegen das Gitter, um die Fische auf dem Pflaster zu sehen.

Der kleine Blondkopf mit dem Akazienzweige ist der Einzige, der den Andern nicht nachmacht. Er setzt sich in eine Ecke, und seinen Mund der Schnecke nähernd, fängt er mit vieler Wärme an zu singen:

»Schnecke, Schnecke in dem Haus
Strecke deine Hörner 'raus.
Zeigst du mir die Hörner nicht,
Nenn' ich dir die Eltern nicht.«

»Ach, seht ihr, die Händlerin hebt ihre Fische wieder auf und thut sie wieder in die Casserole, ohne sie abzuwaschen.«

»Ah bah, das thut nichts, im Braten werden sie schon sauber; ich wenigstens würde sie auch so essen, und dann wißt ihr ja, daß man zu uns gesagt hat: das Backen reinigt Alles.«

»Nicht das Backen, das Feuer, Dummkopf!«

»Stoß' doch nicht so, ich habe Kugeln in der Tasche, sie thun mir weh.«

»Seid doch still; hört ihr die Musik? da ist eine Orgel, die kleine Holzfigürchen tanzen läßt.«

»O, die hübsche Melodie, die sie spielt ... das ist eine Galoppade.«

»Eh, nein, Du siehst doch, daß die Marionetten walzen, horch', Lieber.«

»Schnecke, Schnecke in dem Haus, strecke deine Hörner 'raus.«

»Willst Du stille sein, Poulot! Wie eklig ist er doch mit seiner Schnecke.«

»Ach, da ist ein Theater; es ist la Gaieté

»Nein, es ist l'Ambigu

»Ich wette, la Gaieté ist es; zum Beweis, ich habe dort den schwarzen Domino spielen sehen.«

»Ah, ah, den schwarzen Domino! Das ist nicht wahr; den spielt man nicht. Den singt man.

»Bah, was verstehst Du davon.«

»Mehr wie Du, denn meine Schwester spielt die einzelnen Stücke auf dem Piano, und singt die Duette und Terzette den ganzen Tag, während sie ihre Lektionen lernt, und ich habe oft die Mama zu ihr sagen hören: Du wirst also nie etwas Anderes singen, als den schwarzen Domino!« – Alles das ist noch kein Beweis. Ich, ich bin überzeugt, daß ich in la Gaieté einen schwarzen Domino und sogar maskirt gesehen habe. Und ich kann mich noch wohl an das Stück erinnern. Es ist von Pferden darin die Rede und vom Carousselplatz, und am Ende sieht man den Kaiser. Man schlägt sich, balgt sich und das ist sehr lustig. Und das Ganze spielt in Venedig, ja man sieht Venedig.« »Ach, erzähl' uns das Stück, Bouchinot!«

»Ach, ja, erzähl' es uns.«

»Seid still und paßt auf. Zuerst, wenn es anfängt ... ach! den Anfang weiß ich nicht mehr; aber das ist eins: es ist immer ein junger Mann da, der ein junges Mädchen heirathen will, und sie will ihn auch, und die Mutter, die zuerst nicht will, will hernach auch, weil sie das Porträt von dem erkennt, von dem sie glaubte, er sei ein Anderer; ihr versteht doch?«

»Ganz gut, aber der schwarze Domino?«

»So warte doch. Dann kommt ein Gondelführer, der bloß ein Hemd anhat; aber das ist ein guter Mensch, er liebt den jungen Mann, weil ... ich weiß nicht mehr, warum; das ist eins. Er sagt zu ihnen: Ach, zum Henker! ach, tausendmal tausend! Ach, zum Kuckuk! ... und viele solche Dinge, um dem jungen Mädchen und ihrem Liebhaber Muth zu machen. Diese, die sehr zufrieden sind, das zu hören, haben keine Furcht mehr ...«

»Schnecke, Schnecke in dem Haus ... strecke deine Hörner 'raus.«

»Poulot, schweig' doch; wenn Du nicht still bist, zertreten wir Dein häßliches Thier.«

»Nun, was thue ich euch denn Leids? Darf man jetzt nicht mehr singen?«

»Du hörst also nicht, daß Bouchinot uns den schwarzen Domino erzählt, ein sehr hübsches Stück, das er in la Gaieté gesehen hat?«

»Was geht das mich an? Mich führt man nie in's Theater. Papa sagt, man dürfe, ehe man zwanzig Jahre alt ist, nicht dahin gehen.«

»Ach, armer Serinard! ... drum hat er kein Geld, um Dich hinzuführen. Dein Vater!«

»Kein Geld? ... Ah! er hat mehr als der Deinige; ich weiß es gewiß.«

»Mehr als der meinige? ... Papa ist sehr reich, verstehst Du? Und warum kommt denn der Deinige immer in demselben alten, häßlichen, ganz abgeschabten grünen Rock und seinem kleinen schmutzigen Hut, wenn er Dich in der Pension besucht?«

»Sein Rock ist durchaus nicht so alt und abgeschabt als er aussieht, zum Beweis läßt er mir nächstes Jahr einen neuen daraus machen, wenn ich einen Preis bekomme.«

»Ha! ha! ha!«

»Wie! ... warum hält man denn?«

»Unser Pferd ist gestürzt.«

»Ach, das abscheuliche Thier! das that es gewiß nur aus Bosheit. Es stellt sich todt.«

»Könnte man nicht glauben, es thue ihm sehr wehe, einige Kinder zu ziehen?«

»Im Ganzen sind wir nur zu zweiundzwanzig darin.«

»Ach! wenn es nicht wieder aufstehen könnte.«

»O! o! ... alle die Leute, die stehen bleiben ...«

»Sieh'! das sind starke Leute ... auf ... vorwärts; da haben sie es wieder aufgehoben, unser Pferd ... vorwärts im Galopp.«

»Und Dein Stück, Bouchinot? Erzähle es doch vollends aus, ehe wir an Deine Thüre kommen.«

»Gleich. Dann ... ich weiß nicht mehr, wo ich stehen geblieben bin ... das ist eins ... man läuft auf's Theater, indem man ein großes Geschrei erhebt ... der schwarze Domino kommt ... das ist ein Mann, der gepudert ist, einen Zopf hat und sehr abscheulich ist ... mit einer Sammtmaske ...«

»Ah! da ist das Wasserschloß ... ah! da unten auf dem Boulevard schleift man ... die Straßenjungen ...«

»O! wie Schade, daß wir nicht auch schleifen können!«

»Dort ist Einer, der schleift ausgezeichnet.«

»Zum Erstaunen! ... da liegt er auf dem Boden. Piff! plumps! ... einer, zwei, drei auf dem Boden ... Ha! ha! ha! ha! die liegen auf einander wie Hunde!«

»Sag' doch, Francaleux, Du, der so gescheidt sein will: unter wessen Regierung wurde das Wasserschloß erbaut? Ich wette, Du weißt es nicht.«

»Ah, Pfiffikus ... ich weiß es besser als Du.«

»Nun, wir wollen sehen! Gib Antwort: unter wessen Regierung?«

»Zum Henker! unter der Regierung eines Königs, der keine Luftschlösser liebte; das ist nicht schwer zu errathen.«

»Aber welcher König war es, Kameel, welcher König? ... Du siehst wohl, daß Du ihn nicht nennen kannst!«

»Ludwig XIV. war es. Er hat es zur nämlichen Zeit wie das St. Denisthor bauen lassen. Und der Beweis ist, daß es Löwen hat.«

»Gewiß nicht! der Kaiser hat das Wasserschloß bauen lassen; ich habe es oft von meinem Vater sagen hören.«

»Nein, Ludwig XIV.«

»Ich wette um einen Sou italienischen Käse mit Dir!«

»Ah! ihr Herren ... seht ... eine Schlägerei ... dort unten auf dem Boulevard prügeln sich zwei Männer!... Ohe, ohe!«

»Der Eine hat kein Halstuch mehr ...«

»Stoßt mich doch nicht so! wie ekelhaft! ... sie werden meine kleine Schnecke noch auf den Boden werfen.«

»Pau! Puff! ... o wie sie mit den Fäusten auf einander hineinschlagen!«

»Sicherlich hat der Große Recht!«

»Wenn ich dort wäre, würde ich dem Kleinen helfen, ich wette, er wirft den Andern nieder ... man kann sie nicht mehr sehen, das ist Schade.«

»Ach! ihr Herren, hört ihr die Trommel? ... es wird Militär vorbeikommen.«

»O, welches Glück! ... die Soldaten ziehen vorbei ... an uns! ... Hält Johann nicht an?«

»Doch, er hält.«

»O! da sind sie ... drum! rum! drum! drum! ... drum! rum! drum! drum!«

»Siehst Du vorn den Offizier zu Pferde? das ist der Commandant.«

»Wenn ich einmal groß bin, will ich auch Commandant werden; ich werde gleich Offizier.«

»Ah! Du meinst, man wird nur so geschwind Offizier! Du weißt nicht, daß man zuerst Schiffsjunge sein muß.«

»Schiffsjunge? Zur See ist man zuerst Schiffsjunge, ehe man Oberst eines Seeschiffs wird.«

»Ach! da fährt Johann schon wieder weiter; er läßt uns nicht einmal Zeit, die Tambours zu hören ... Drum! rum! drum! drum!«

»Schnecke, Schnecke in dem Haus ...«

»Poulot, Du wirst schon sehen, wenn Du morgen Deine Schnecke wieder mitbringst, wird man Dich während der Erholungszeit in der Schule zurückbehalten.«

»Und Dein Stück, Bouchinot, erzähl' es uns doch vollends.«

»Ach! ja ... wo hielt ich doch? ... das ist eins: der schwarze Domino, der einen Zopf hat und gepudert ist, bringt eine Menge anderer Dominos mit sich, die einen kleinen Sack auf dem Kopf haben mit zwei Löchern für die Augen ... das ist prächtig! das jagt einem Angst ein ... dann zieht man eine verborgene Thüre im Hintergrund auf und ... ah! da bin ich zu Hause ... Adieu! ich erzähle euch den Rest morgen.«

»Sag' doch, Bouchinot! Bouchinot! kommt der schwarze Domino um?«

»Ja, durch einen Pistolenschuß.«

»Ah! gut! Bravo!«

Bouchinot steigt an seiner Thüre ab und geht nach Hause.

Der Wagen fährt weiter.

In einiger Entfernung steigt Herr Poulot mit seiner Schnecke, dann ein anderer Zögling, dann wieder ein anderer aus.

Aber wenn auch die Zahl der Reisenden kleiner wird, die Unterhaltung bleibt immer im Zug. So lange noch mehr als ein Schüler im Wagen ist, hören die Bemerkungen, hört das Necken und laute Lachen nicht auf. Nie wird ein Weg heiterer zurückgelegt als der, den diese junge Bürschchen von ihrer Pension zurück oder des Morgens in dieselbe im Omnibus des Pensionats machen.

*

Einmal indessen war der Wagen der Zöglinge Ursache einer Scene anderer Art. Ein kleiner Knabe von sieben Jahren, Namens Carl, war seit Kurzem Stadtschüler in einem Pensionat, das ebenfalls seinen Wagen hatte; der Knabe hatte die größte Freude geäußert, als er sich durch zwei gute Pferde fortgezogen und in den Straßen von Paris herumfahren sah.

Als einziger Sohn einer armen Wittwe, die sich großen Opfern unterzog und oft im Tagelohn arbeitete, um ihrem Sohne eine Erziehung zu geben, war der kleine Carl nie in einem Wagen gewesen, ehe er in den seines Pensionats stieg; deßhalb war er auch Einer von denen, welchen der Weg am meisten Lust bereitete, und schien während der ganzen Fahrt sich als der glücklichste Mensch zu fühlen, weil er gefahren wurde.

Eines Tages indessen, es war im Winter, das Wetter kalt und regnerisch, kehrten die Kinder nach Hause zurück, und der kleine Carl, den man bis dahin munter und heiter wie seine Kameraden gesehen hatte, wurde plötzlich, still und traurig, nachdem er auf die Strafe gesehen hatte.

Am andern Tage kam der Wagen, der jeden Tag denselben Weg machte, an derselben Stelle vorbei, wohin Carl den Abend zuvor gesehen hatte.

Das Kind beeilte sich wiederum seine Blicke auf die Straße zu werfen, es suchte einige Zeit, und dann bemächtigte sich seiner wieder dieselbe Traurigkeit, und man sah sogar Thränen über seine Wangen stießen.

Den folgenden Tag fiel zur Zeit der Abfahrt der Regen immer noch mit Heftigkeit, als der kleine Carl mit schwerem Herzen und niedergeschlagenen Augen zu dem Direktor der Anstalt trat und zu ihm sagte: »Herr Direktor, ich möchte lieber zu Fuß nach Hause gehen.«

»Wie, mein Freund,« sagte der zu ihm, »Du wolltest zu Fuß fortgehen! ... Ich verstehe das nicht! Du, der so vergnügt schien, als er fahren konnte, der eine so große Lust darüber bezeigte, Du wolltest jetzt zu Fuß nach Hause zurückkehren? ... Und welchen Zeitpunkt wählst Du zu dieser Bitte ... jetzt, wo der Regen in Strömen herabfällt, wo es schreckliches Wetter ist ...«

»Ach! ... gerade deßhalb, Herr Direktor, wollte ich auch ... zu Fuße gehen.«

»Erkläre mir doch, was Dich zu einem solchen Wunsche veranlaßt.«

»Herr Direktor ... weil ich ... seit zwei Tagen ... wenn wir durch die St. Martins-Straße fahren ... meine Mutter aus dem Hause gehen sehe, wo sie arbeitet ... sie geht sehr schnell, um zu derselben Zeit wie ich zu Hause anzukommen, aber meine arme Mutter ist immer sehr naß, und es macht mir Kummer, im Wagen zu sein, während sie zu Fuß geht ... ich möchte lieber mit ihr naß werden.«

Der Direktor der Pension schloß den kleinen Carl in seine Arme, küßte ihn zärtlich und führte ihn an diesem Tage selbst zu seiner Mutter zurück, der er erzählte, was der kleine Knabe zu ihm gesagt hatte, indem er beisetzte: »Sie haben einen guten Sohn, Madame; wir wollen uns Mühe geben, ihn recht viel zu lehren, damit er durch sein Wissen einst ein Vermögen erwerben kann, denn alsdann dürfen Sie überzeugt sein, wird sein größtes Glück dann bestehen, es mit Ihnen zu theilen.«

Doch lassen wir die Kinder im Wagen fahren, selbst für den Fall, daß sie später keinen mehr haben sollten.


 << zurück weiter >>