Paul de Kock
Chipolata
Paul de Kock

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Vor dem Mittagessen

Gegenwärtig speist in Paris Jedermann spät zu Mittag, die Kaufleute noch später als die Beamten, Commis, Capitalisten, und die Vornehmsten am spätesten, so daß bald ein Mittagessen für das Frühstück des andern Tags wird gelten können.

Vor dem Mittagessen treibt Jeder seine Berufsgeschäfte; der Kaufmann handelt; der Großhändler spekulirt; der Handwerksmann arbeitet auf dem Handwerk; der Commis auf dem Comptoir; der Notar in seinem Studirzimmer; der Advokat auf dem Gerichte oder in seinem Zimmer, wo er die unglücklichen Prozeßführenden anhört; der Geschäftsmann rennt umher; der Capitalist sucht aus den politischen Neuigkeiten den Cours der Renten zu errathen; die Bürgersfrauen sind in der Küche und mit ihren Kindern beschäftigt; die großen Damen mit ihrer Toilette und mit ihren Plänen für den Abend; die jungen Mädchen studiren zum Verdruß der daneben Wohnenden am Piano, oder zeichnen und lernen irgend eine fremde Sprache; die Dichter suchen einen schönen Gedanken in schöne Verse zu bringen; die Schriftsteller zerbrechen sich den Kopf um ein neues Sujet; die Künstler denken an den Ruhm, den sie gerne erringen möchten; einige arbeiten oder studiren, um ihn zu erwerben; andere begnügen sich, ihn herumbummelnd und rauchend zu erwarten, was immerhin auch eine Beschäftigung ist; die Studenten endlich besuchen die Collegien ihrer Professoren; und die Grisetten beeilen sich, ihr Tagewerk bei guter Zeit fertig zu bringen, um für ihr Nachtwerk parat zu sein.

So hat hienieden Jeder seine Beschäftigung, selbst die Personen, die Nichts thun, denn ich glaube, daß diese sich in Erwartung der Dinge, die da kommen sollen, mit ihren Gedanken beschäftigen.

Alle diese Menschen, die ihr auf den Straßen hin und her gehen sehet, haben gewöhnlich vor dem Essen weit mehr Eile als nach demselben. Die Vorstadt St. Antoine ist ein Quartier, wo man eher Geschäfte halber, als um einen Spaziergang zu machen, hingeht.

Ihr werdet bemerken, daß die Leute, welche euch begegnen, sich nicht lange unterwegs aufhalten, sondern rasch vorwärts gehen; mit Ausnahme einiger Damen, einiger Frauen vom Lande, welche vor den Ellenwaaren-Lagern stehen bleiben, um die ausgehängten Stoffe zu betrachten, oder einiger Mägde, die sich gegenseitig von ihren Liebhabern unterhalten. Die Andern eilen vorüber, ohne auf die Vorübergehenden, manchmal auch ohne auf die Wägen zu achten.

Keine zwei Minuten vergehen, ohne daß Jemand in einen Spezereiladen tritt; zuweilen füllt sich dieser dergestalt mit Käufern an, daß die ganze Kaltblütigkeit des Principals und alle Gewandtheit der Ladendiener dazu gehört, keinen Bock zu schießen und die vielen Kunden, die immer äußerst pressant thun, zu ihrer Befriedigung zu bedienen.

Von allen Seiten erheben sich Weiberstimmen (denn gewöhnlich machen unter den vielen, in dem Spezereiladen befindlichen Personen die Frauenzimmer die Mehrzahl aus), man hört nur die in den verschiedensten Tonarten ausgedrückten Phrasen: »Ach, ich bitte, geben Sie mir doch schnell was ich brauche ich bin heute so entsetzlich spät daran.«

»Und ich! ich werde heute mit dem Mittagessen gar nicht mehr fertig; wir haben aber auch fünf Personen zu Gaste, da koche der Teufel.«

»Ich glaube, Ihre Herrschaft hat oft Fremde bei Tische?«

»Ach, schweigen Sie mir nur davon; es ist ekelhaft! Dabei ist meine Madame so wunderlich! ich muß sogar Sardellen-Butter zu den Beefsteaks nehmen! ... das ist ein Luxus ... der Schweiß läuft an Einem herunter.«

»Sind sie gut mit Sardellen-Butter?«

»O pfui! mir schmecken sie mit Schalotten viel besser! das ist nur so eine Caprice von meiner Frau.«

»Herr Toulard, geben Sie mir doch für zwei Sous Gurken; es ist mir heute so übel, daß mir mein Leben, ich weiß nicht, um was feil wäre.«

»Sie verderben sich aber den Magen mit den Gurken, liebe Nachbarin.«

»Thut nichts, sie werden mich ein Bischen ausputzen. Man hat mir auch Senfmehl aufzulegen gerathen, aber ich ziehe vor, es innerlich mit etwas gut abgesottenem Rindfleisch zu gebrauchen.«

»Ach, lieber kleiner Herr, ich bitte, machen Sie schnell, geben Sie mir geschwind meinen Schweizerkäse, ich habe meine Suppe und meine Kinder beim Feuer gelassen! ... Drei Kinder zu besorgen, Arbeit, daß ich nicht weiß, wo mir der Kopf steht, einen faulen, liederlichen Trunkenbold zum Mann, der mir Alles über dem Halse läßt, das ist eine Freude, hm! ... Ach Gott! die Mädchen sollten sich wohl besinnen, ehe sie heirathen! ... Aber, werdet ihr mir entgegenhalten, einmal muß man ein Ende machen, wir sind alle sterblich! ... Geben Sie mir alten, feuchten, abgelagerten! ...«

»Bei uns ist es anders,« versetzt eine junge, höchst armselig gekleidete Frau, die ein dreijähriges Kind an der Hand führt und ein noch jüngeres auf dem Arme hat. »Wir haben keinen Heller im Vermögen, verdienen kaum unsere Nahrung, aber wir lieben uns recht herzlich. Kommen Sie zu uns, dann können Sie sich an diesem Gemälde des Glückes weiden.«

»Dank schönstens! das wird was Rechtes sein, ihr Gemälde!« murmelt eine dicke Magd, indem sie sehr feurige Augen an den Ladendiener hinmacht, der sie bedient und nach der gewöhnlichen Manier frägt: »Brauchen Sie sonst noch Etwas?«

Wir wollen übrigens den Spezereihändler bei seinem Geschäfte lassen, er mag seine Commis schelten, weil sie nicht flink genug bedienen, und mit seiner Frau hadern, weil sie fünf Minuten braucht, um auf einen Fünffrankenthaler herauszugeben.

*

Gehen wir etwas entfernter in einen Kramladen hinein. Dort finden wir zwei steife Ladenjungfern mit ernster Miene und gesenkten Blicken: ihr Anzug ist eben so bescheiden als ihr Benehmen; sie tragen zwar nur einfach gescheitelte Haare, aber diese sind so pünktlich und sorgfältig glatt gekämmt, daß man glauben könnte, sie seien mit Gummi angeklebt.

Sie haben kein Geschmeide und keine Halskette, aber sehr hoch heraufgehende Kleider und mit großer Sorgfalt über's Kreuz gelegte Halstücher an; dieses beweist euch auf den ersten Blick, daß in diesem Hause ein strenger Ton herrscht, die Ladenjungfern nie einen Blick auf die Straße werfen, weder mit einander lachen, noch miteinander plaudern, am allerwenigsten aber unter die Thüre stehen und den Vorübergehenden zulächeln dürfen.

Die Krämerin ist eine Frau in mittleren Jahren, das heißt, eher alt als jung; sie war früher hübsch, bildet sich ein, sie sei es noch, und glaubt wahrscheinlich, sie werde es immer bleiben.

Sie kleidet sich außerordentlich eitel: sich selbst erlaubt sie Blumen, Bänder, Juwelen, kurz Alles, was sie ihren Ladenjungfern ausdrücklich verbietet; sie trägt auch falsche Haare, obgleich sie es nicht eingesteht.

Sie hat etwas Freies in ihrem Wesen und Benehmen, welches man entschuldigen könnte, wenn sie in dem Alter ihrer Ladenjungfern wäre.

Diese Dame gibt sich für eine Wittwe aus; sie behauptet, sie sei mit ihrem ersten Manne sehr unglücklich gewesen; dies hindert sie aber nicht, ihr Möglichstes zu thun, um einen zweiten zu finden.

Sie hat ihre Augen auf einen alten Militär geworfen, der eines Tages in den Laden kam, um sich Nadeln zu kaufen, denn da die alten Kriegsleute nicht immer hinreichend bemittelt sind, einen Dienstboten zu halten, so sehen sie sich häufig genöthigt, die Knöpfe an ihren Kleidern selbst anzunähen, und sie entledigen sich dieses Geschäfts oft besser als unsere Schneider.

Die Krämerin knüpfte die Bekanntschaft damit an, daß sie dem Kriegsmann vorschlug, ihm selbst den fehlenden Knopf annähen zu wollen.

Der alte Militär war nicht unempfindlich gegen diese Höflichkeit; man warf ihm Liebesblicke zu, die er zwar durchaus nicht erwiderte, aber man bemerkte auch, daß er nicht im Geringsten auf die beiden im Comptoir sitzenden Ladenjungfern achtete, und war ihm unendlich dankbar dafür; man lud ihn ein, sich nicht zu geniren, wenn wieder einer seiner Knöpfe wegbrechen würde.

Und merkt euch wohl, es war nur von Rockknöpfen die Rede; bis zu den übrigen verstieg sich ihre Dienstfertigkeit noch nicht.

Der Kriegsmann kam nach einigen Wochen wieder, dann nach einigen Tagen abermals, und endlich sehr oft; stets wegen Desertion von Knöpfen.

Die beiden Ladenmädchen flüsterten einander zu, daß die Krämerin wahrscheinlich die Knöpfe so annähe, daß sie nicht lange hielten.

Damit war die Bekanntschaft gemacht und die Wittwe hoffte, daß sich der Veteran bald erklären werde; aber bis dahin wechselten ihre Launen ganz nach den Aussichten für ihre Liebe, und wenn der Kriegsmann einige Tage nicht zu ihr kam, wurde sie streitsüchtig, zänkisch und zeigte sich noch strenger als gewöhnlich gegen ihre Ladenjungfern.

Wenn eine der letzteren zufällig die letzte Strophe einer alten Romanze trillerte, so schrie sie: »Was soll das heißen, Mademoiselle Ernestine? Ich glaube, Sie singen!« – O! nein, Madame.

– »Aber, Sie haben gesungen.« – O! ich wüßte nicht, woher mir die Lust dazu kommen sollte! – »Das wäre hübsch, wenn man sich in meinem Laden zu singen erlaubte! was würden die Leute denken, die mich mit ihrem Zutrauen beehren?« – Sie wissen aber doch, Madame, daß wir gar nicht an das Singen gewöhnt sind. – »Ich weiß, daß wenn ich nicht so sehr auf Sie Achtung gäbe, Sie sich am Ende noch saubere Manieren aneignen würden, meine Damen. Letzthin Abends habe ich es gehört, wie Mamsells Honorine, während sie zu der Rahmhändlerin gegenüber ging, überlaut auf der Straße sang: »›Fünf Sous! fünf Sous!‹« ihr Gesang war übrigens so falsch, wie der Ton einer abgenützten Drehorgel!«

– Ach! Madame, ich habe nicht gesungen, ich habe nur mein Geld gezählt. Sie hatten mir fünf Sous gegeben, um Rahm zukaufen; ich zählte das Geld in meiner Hand nach, und deßhalb wiederholte ich »›fünf Sous, für fünf Sous Rahm.‹« – »Sie hatten nicht nöthig, das Geld nach der Melodie des Liedes: »›Nun danket Alle Gott!‹« zu zählen, Mademoiselle! Das wäre sauber! was würden Sie denken, wenn eine Dame ein Paar Handschuhe nach einer Melodie aus dem Doktor und Apotheker, oder einen Strang Faden nach der Melodie ich und du und du und ich, verlangen würde?« – Hm! das wäre vielleicht lustiger. – »Gut jetzt, es ist schon recht, schweigen Sie, die Erste, die ich noch einmal singen höre, setze ich acht Tage lang auf trocken Brod.« – Die ist aber einmal böse!« sagten die jungen Mädchen leise zu einander. – »Man merkt wohl daß ihr Invalide schon mehrere Tage nicht mehr da gewesen ist.« – O, wenn man ihr nur gehörig Bescheid sagen dürfte!«

In diesem Augenblick treten Leute in den Laden.

Die Jungfern schweigen bescheiden; die Krämerin nimmt wieder ihre liebenswürdige, heitere Miene an, um die Kunden zu bestechen; sie macht alle Schachteln auf, um einer Dame Handschuhe zu suchen, die, nachdem sie vierzig Paar probirt hat, in die sie nicht hineinkommen kann, zuletzt mit der Bemerkung geht: »›sie seien nicht klein genug für ihre Hand.‹«

*

Ein Schreinergeselle geht mit seinen Werkzeugen unter dem Arme durch die Vorstadt; ein Mann in einer Blouse und einer etwas schief und herausfordernd sitzenden Mütze von Fischotterhaar hält den Arbeiter mit den Worten an: »Wo gehst Du hin, Peter?« – Ah! Du bist es, Gravouillet; arbeitest Du denn heute nicht! Machst Du einen blauen Montag? Du lebst auch recht in den Tag hinein ... – »Davon ist jetzt nicht die Rede, ob ich einen blauen Montag mache, und wenn es auch an einem Freitag ist; geht es Dich überhaupt Etwas an, wenn ich die ganze Woche ausruhe und am Sonntage erst recht Nichts thue?« – O! ganz und gar nicht, thue, was Dir beliebt ... aber ich habe pressante Geschäfte, ich bin in ein Haus bestellt ... Adieu! – »Einen Augenblick Geduld; da ich Dich gerade unter vier Augen habe, mußt Du mir Rede stehen!« – Ich habe keine Zeit, sag' mir später, was Du von mir willst, wir können ja nachher dort im Wirthshaus an der Ecke zusammenkommen; ich versichere Dich, ich habe im Augenblick große Eile!«

Der Mann mit der Blouse stellt sich vor den Schreiner, vertritt ihm den Weg, setzt seine Mütze noch schiefer auf's Ohr, so daß sie fast vom Kopf herunterfällt, und schreit, die Stirne runzelnd, mit einer fast grimmigen Stimme: »Und wenn Du so Eile hast, warum hältst Du Dich denn alle Tage stundenlang in der Bude der Obsthändlerin, der Frau Cornouillet auf, deren Tochter ich, wie Du wohl weißt, in rechtlicher Absicht die Cour mache? Warum äußerst Du Dich dort so gallicht über mich, sagst, ich sei ein Müßiggänger, ein Schlemmer und so weiter?«

Der Arbeiter wird über und über roth, rollt aber seine Augen fürchterlich und macht allerlei Gesten, während er seinem Kameraden entgegnet: »Ha! warum nicht gar! das sind Geschwätze! Wenn ich die Männer oder Weiber, die das sagen, in meinen Händen hätte, ich würde sie behandeln wie erbärmliche Tropfen, was sie auch sind! Ich über einen Freund schimpfen? Nie ... pfui! das bin ich außer Stande.« – Warst Du gestern nicht bei Mutter Cornouillet? – »Ich war vielleicht dort, das ist sehr möglich; ich läugne gar nicht, daß ich dort war, aber nur, um Aepfel zu meinem Frühstück zu kaufen. Man hat vielleicht von Dir gesprochen, das ist auch möglich; man hat mich über Dich ausholen wollen, weil man weiß, daß ich mit Dir umgehe; ich habe Dieses und Jenes erwidert, das ist Alles ... weiter nichts, ich gebe Dir mein Wort.« – Was verstehst Du unter Dieses und Jenes? ... Verläumdungen, Schwätzereien? – »Kein Gedanke Gravouillet; man hat mich in Deinen Augen anschwärzen wollen ... Ich bin unfähig, von einem Freunde schlecht zu sprechen, selbst wenn ...« – »Von einem Freunde ... einem Freunde ... das ist bald gesagt! Kurz, ich werde der Sache auf die Spur kommen, ob Du mich bei meiner Geliebten und ihrer Familie heruntergesetzt hast ... nun genug, weiter sage ich Dir nichts!«

Der Mann in der Blouse entfernt sich hierauf mit einer drohenden Geberde, und der Schreinergeselle geht mit rascheren Schritten vorwärts, indem er laut vor sich hin spricht, als ob er sich noch fortwährend bei Gravouillet entschuldigen wolle.

Wir kommen auf die Boulevards: dort gewinnt Alles einen heitern Anblick. Hier geht man zugleich spazieren, während man seinen Geschäften nachgeht.

Auf den Boulevards des Marais sieht man zwar keine so elegante, fashionable Gesellschaft, wie auf denen der Chaussée d'Antin, denn die Mitglieder des Jokey-Clubs und des Cirkels zeigen den friedlichen Bewohnern der Pont-aux-Choux-Straße selten den eleganten Schnitt ihrer Kleider oder das prächtige, neumodische Gespann ihrer Tilbury's; indessen hat das Boulevard Beaumarchais auch seine kleinen Gecken und seine großen Koketten.

Jedes Quartier hat seine Belustigungen, seinen Ton und seine Sitten.

Vor dem Essen ist dieser Theil der Hauptstadt besonders von Kindsmägden, welche ihre Kinder spazieren führen, von Soldaten, die den Kindern schmeicheln, während sie die Kindsmägde bearbeiten, und von alten Bewohnern des Marais besucht, denen der Arzt gerathen hat, in die freie Luft zu gehen, um Appetit zu bekommen, und die, um Abwechslung in ihr Vergnügen zu bringen, bald bis zum Schloßplatze, bald bis zu dem Platze der Juliussäule gehen.

Außer diesen begegnet man Damen, die auf dem Wege sind, Besuche zu machen; Herren, die beim Gehen keine Ständerlinge machen, Grisetten, die sich nicht lange umsehen, ob man ihnen folgt und Omnibusse die stolz dahin fahren, weil sie ihre volle Ladung haben.

In jener beinahe einsamen Seitenallee bemerke ich übrigens eine junge, hübsche, ziemlich geschmackvoll gekleidete Dame, die schon lange in einem Raume von etwa dreißig Fuß ins Gevierte, einmal rechts, einmal links geht, sich zuweilen eine fast unmerkbare Bewegung der Ungeduld entschlüpfen läßt und sich sehr schnell abwendet, wenn sich ein Vorübergehender bemüht, ihr in's Angesicht zu sehen.

Die Dame sieht beinahe aus, als ob sie Jemand ein Stelldichein gegeben hätte. Glaubt ihr etwa, daß sie auf ihren Mann, ihren Bruder, ihre Mutter oder ihre Schwester warte?

Nein! gewiß nicht; sie scheint Jemand anders zu erwarten? und sie befürchtet, von Jemand ihrer Bekanntschaft gesehen zu werden, deßhalb hat sie einen Hut aufgesetzt, der ihr tief in's Gesicht hereingeht, und einen Schleier darauf gethan, der über diesen Hut herunterfällt, und trotz aller dieser Vorsichtsmaßregeln dreht sie sich um, wenn Leute nahe an ihr vorbeigehen.

Endlich kommt ein Herr, der gerade auf diese Dame zugeht, die dieses Mal den Kopf nicht abwendet.

Der junge Mann (denn sie erwartete einen jungen Mann) scheint ganz außer Athem; er ist eilends hergerannt oder wenigstens sehr schnell gelaufen; er bietet der artigen Dame seinen Arm an, aber diese nimmt ihn nicht an, und wir sind so glücklich, folgendes Gespräch zu erlauschen: »Ich warte schon länger als eine Stunde auf Sie; das ist abscheulich ... ich wußte gar nicht mehr, was ich anfangen sollte! Was wird man wohl von mir gedacht haben? Eine Stunde lang auf dem nämlichen Boulevard spazieren zu gehen! ... Man muß sehr wenig Liebe für eine Frau empfinden, wenn man sie allen Unannehmlichkeiten einer solchen Lage aussetzen kann!« – Ah! so empfangen Sie mich, während ich, um schneller hier zu sein, gelaufen bin, daß ich Seitenstechen oder eine Brustentzündung risquirte. – »In der That, Sie sind schnell hergelaufen! ... Warum sind Sie nicht in einen Omnibus gesessen?« – Natürlich! wo man immer von einem in den andern muß! Von der Bac-Straße wechselt man, glaube ich, dreimal mit dem Wagen, dann wäre ich noch viel später gekommen. – »Sie werden irgendwo gewesen sein, wo man Sie nicht fortgelassen hat ... So wird es sein.« – Sie sind doch immer ungerecht und eifersüchtig! Da war es schon der Mühe werth, daß ich mich von Freunden trennte, die mich zu einem Mittagessen mitnehmen wollten ... es hat einer derselben von Hause eine Truthenne mit Trüffeln geschickt bekommen. – »Es scheint, das Sie sehr bedauern, nicht bei dieser Partie sein zu können, und Ihnen eine Truthenne mit Trüffeln lieber wäre als ich.« – Das habe ich nicht gesagt. – »Aber gedacht.« – Der beste Beweis dagegen ist, daß ich gekommen bin. – »Es ist Ihnen übrigens leid um die Truthenne.« – Ach! wie unerträglich sind Sie! – »Gehen Sie, mein Herr, ich halte Sie nicht zurück, suchen Sie nur Ihre guten Freunde auf.« – Ah! so behandeln Sie mich! Nun wohl! ich gehe. Adieu, Madame! – »Leben Sie wohl, mein Herr.«

Und der junge Mann wendet sich um und kehrt so schnell, als er gekommen war, auf demselben Wege wieder zurück.

Die Dame macht auch einige Schritte nach der entgegengesetzten Seite, bleibt dann aber plötzlich, als ob sie sich den Fuß verstaucht hätte, stehen, dreht ein wenig den Kopf um und läßt, als sie bemerkt, daß sich der junge Mann in der That wieder entfernt hat, einen Schrei der Verzweiflung oder Wuth hören, schwankt einen Augenblick, ob sie ihm nachlaufen soll oder nicht, und entschließt sich endlich, ihren Weg fortzusetzen. Was den Herrn betrifft, so hat er sich entfernt, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzusehen, was der Vermuthung Raum geben könnte, daß ihm in der That die mit Trüffeln gefüllte Truthenne nicht gleichgültig ist.

Setzen wir unsere Musterung fort.

*

Wir nähern uns den bevölkerten Quartieren.

Das St. Martins- und das St. Denis-Thor werden in der Entfernung sichtbar. Die Fußgänger werden zahlreicher, und die Wägen, Karren und Cabriolets kreuzen sich mit einer fast beängstigenden Schnelligkeit.

Welche unaufhörliche Bewegung, wohin man sein Auge wenden mag! Welch' endloses Geräusch dringt zu unsern Ohren!

Wagengerassel, Pferdetraben, Gelärm von Kaufleuten, Händlern, Bänkelsängern, Vorübergehenden, Kindern, Hunden, Orgelspielern, Leiern, alten und jungen Weibern, Leuten, die sich mit einander streiten, sich rufen, die husten, ausspucken und mit ihrem Stock oder ihrem Regenschirm auf den Asphalt klopfen.

Ihr seid nun in dem Herzen der großen Stadt, und es ist gerade die Tageszeit, wo die meisten ihrer Bewohner ihrer Geschäfte, ihres Handels, ihrer Interessen oder Vergnügungen wegen in Bewegung sind.

Eine Masse Leidenschaften setzt alle diese Marionetten, welche wir Menschen nennen, in Trieb und Bewegung; aber ein noch viel mächtigeres Organ, das vor allen andern den größten Einfluß ausübt, unterwirft das Menschengeschlecht seinen Gesetzen: Wenn der Magen sich verspüren läßt, wenn er mit Nachdruck spricht, so werdet ihr alle diese Marionetten ihre Arbeit, ihre Geschäfte, sogar ihre Vergnügungen verlassen sehen, um nur an seine Befriedigung zu denken.

Wenn ihr Pariser seid, so wird euch dieses ewige Geräusch und Gelärme, diese Menschenmenge, diese zahllosen Gefährte, diese Verwirrungen an allen Straßenecken nicht erschrecken: ihr seid dergestalt daran gewöhnt, daß ihr durch All' das hindurch euern Weg fortsetzt, ohne mit Jemand zusammenzustoßen, selbst wenn ihr, um euern Fuß nicht zu beschmutzen, das Pflaster wählt.

Wenn ihr aber vom Lande oder aus einer kleinen Stadt seid, so werdet ihr euch vorkommen, wie Jemand, der beim Frühstück über die Schnur gehauen, oder noch besser, wie Jemand, der zum erstenmal gewalzt hat: es wird euch schwindlig im Kopfe, der Lärm betäubt euch, und die sich hin und her bewegende Menschenmasse macht, daß sich Alles vor euern Augen im Kreise herumdreht. Das Gerassel der Wagen raubt euch das Gehör, ihr fallt beinahe auf die Vorübergehenden, werft die kleinen wandernden Buden um, tretet den Damen auf die Füße und den Hunden die Pfoten auseinander, und seid noch glücklich, wenn ihr nicht mit noch größerem Mißgeschick den Ort eurer Bestimmung erreicht.

Wie wäre es erst, wenn ihr euch (versteht sich, immer vor dem Essen) mit Mühe einen Weg durch die Halle, mitten durch diese ungeheuren Vorräthe von Nahrungsmitteln aller Art, die von überall her der Hauptstadt zuströmen, um jenen Tyrannen, den ich eben vorhin nannte, den Magen, zu befriedigen, bahnen müßtet?

Dann würdet ihr die Damen der Halle ihr ganzes Fischweibervocabularium auskramen hören, das sie gegen die Käufer erschöpfen, die ihre Waare herabzusetzen wagen; außerdem würde das Geschrei der streitenden Mägde, der Herrschaften, die mit ihren Dienstleuten zanken, und der Inspektoren, die noch über Alle hinausschreien, um die Ruhe herzustellen, eure Ohren betäuben. Ja, dann würdet ihr mit Virgil ausrufen:

»Fuge littus avarum, fuge crudeles terras!«
(Fliehe geldgierige Ufer, gefühllose Länder).

Und ihr hättet Recht.

Wenn ihr aber auf die Altstadt zugeht, so werdet ihr die Straßen des alten Paris, das heißt, enge, dunkle, kothige Gassen finden, bei jedem Schritte auf Hindernisse stoßen, und außer einigen hübschen Grisetten, die sich in die schwarzen, von Studenten bewohnten Häuser schleichen, nichts sehen, was eure Augen angenehm zerstreuen könnte.

Wollt ihr in den Justizplatz eintreten.

Dort werdet ihr plaidiren hören, denn man plaidirt immer, unaufhörlich; je civilisirter die Menschen werden, desto streitsüchtiger werden sie auch; das ist zwar sehr traurig, aber wahr. In den alten Zeiten glich man die Zwistigkeiten mit Faustschlägen aus, oder durch Gottesgerichte; das war bei weitem nicht so langwierig als mit Advokaten.

Wenn ihr Plaidiren hört, so seit ihr ganz erstaunt, daß die Männer, welche berufen sind, die Richter aufzuklären, die Streitpunkte eher verwirren, und sich durch Leidenschaft, Zorn und Entrüstung leiten lassen, so daß wenn ihr zwei Advokaten sich gegenseitig spitzige Worte zuwerfen hört, wenn ihr Zeuge seid, wie immer einer die Behauptung seines Gegners als falsch zu beweisen sucht, wobei es bisweilen zu heftigen Ausfällen kommt, ihr nicht zweifelt, daß diese beiden Herren sich nach beendigter Sitzung den Hirnschädel einschlagen werden. Aber keineswegs, sie gehen ganz friedlich mit einander nach Hause, speisen vielleicht zusammen und sind die besten Freunde; es ist sogar möglich, daß sie sich dutzen.

*

Man disputirt bloß im Justizpalaste und in der Halle. Geht ihr vor dem Essen in ein Kaffeehaus, so werdet ihr wenig Menschen treffen: einige Pflastertreter, alte Stammgäste, unerschrockene Liebhaber des Domino, die, sobald sie des Morgens angekleidet sind, in ihr gewöhnliches Kaffeehaus eilen; diese kommen oft vor den Journalen und beinahe immer, ehe die Kellner Alles in Ordnung gebracht haben; sie werfen einen unruhigen Blick um sich und lassen alle Tische und alle Säle des Kaffeehauses die Revue passiren.

Ihr glaubt vielleicht, sie suchen die Zeitungen, sie seien ungeduldig die neuen politischen Begebenheiten, den Cours der Rente oder die Kritik über die am Vorabend neu aufgeführte Oper zu lesen? O nein, das beschäftigt sie nicht!

Sie nehmen, wenn ihnen nichts andres übrig bleibt, eine Zeitung in die Hand, starren sie an, ohne darin zu lesen, oder lesen, ohne zu wissen was, richten aber jeden Augenblick ihre Blicke auf die Thüre.

Endlich kommt ein anderer Müßiggänger an; jetzt beleben sich ihre Züge, eine gewisse höhnische Freude malt sich darin: sie sehen aus, als ob sie in ihrem Innern dächten: »Das ist mein Mann,« oder: »Da kommt ein Opfer!«

Und in der That, sie laufen auf die Person, die so eben eingetreten, zu, rufen ihr schon von Weitem entgegen: »Wir wollen spielen, wer zwei Partieen nach einander gewinnt, ich habe zwar nur eine halbe Stunde Zeit, keine Minute länger ... wenn es Ihnen aber recht ist ...«

Der Neuangekommene zögert, er möchte wenigstens vorher die Lithographie des Charivari ansehen und das Calembour im Corsar zu errathen suchen.

Aber der Dominospieler läßt ihm seine Zeit: er drängt ihn zu einem Tisch, nöthigt ihn niederzusitzen, und zwar mit derselben Eile, wie ein Omnibuskutscher seinen letzten Passagier in den Wagen preßt. Dann verlangt er ein Dominospiel, mischt die Steine und spricht mit einschmeichelnder Stimme: »Wir spielen die Partie zu zwanzig Sous; es ist bloß zur Unterhaltung. Ich darf anfangen zu setzen.«

Und das Alles, ehe sein Gegner Zeit hatte, zu sich selbst zu kommen.

Endlich entschließt sich derselbe zum Spiel mit den Worten: »Aber nur eine halbe Stunde!« – O, nicht länger'. Es ist jetzt neun Uhr, vor zehn Uhr habe ich ein Rendezvous. – »Und ich habe meiner Frau versprochen, zum Frühstücke nach Hause zu kommen; sie hat frische Eier gekauft, um mich zu regaliren ... mit weichgesottenen.«

Und so setzen sich die Herren Morgens um neun Uhr an's Spiel, und um fünf Uhr Abends sitzen sie noch an dem nämlichen Tische, von dem sie sich den ganzen Tag nicht entfernt haben, dabei aber fortwährend wiederholen: »Jetzt nur noch ein halbes Stündchen.«

Die Augen des Gewinnenden treten ganz aus ihren Höhlen hervor, so eifrig betreibt er sein Spiel, der Verlierende sieht bemiteidenswerth aus und murmelt bisweilen: »Ach, mein Gott! und meine Frau, die mit den weichgesottenen Eiern auf mich wartet! ... ich passe abermals!« – Machen Sie sich keine Sorgen, Sie essen jetzt eben Ihre Eier hart gesotten zu einem Salat ... Fünfe. – »Passe nochmals.« – Sechse. – »Passe wiederum.« – Domino! – »Ach! hätte ich nur meine weichgesottenen Eier gegessen!«

Um die Mitte des Tages erscheinen die Schriftsteller, die Künstler, die Novellisten und Zeitungsschreiber in den Kaffeehäusern, man spricht von dem gestrigen Stücke, vom ersten Auftreten einer Schauspielerin, von Krieg und Frieden, von Eisenbahnen oder von sonst etwas.

Ein junger Mann mit einer wunderhübschen Halsbinde, lakirten Stiefeln und einem werthvollen Stocke äußert sich sehr leidenschaftlich über eine Tänzerin, die gestern debütirt hat, und ruft mit Begeisterung aus: »Welches Talent! welche Kraft! welche Geschmeidigkeit und welche Anmuth!« – »Sie hat mir nicht gefallen,« entgegnet kalt ein Herr, der gerade Wasser in seinen Absinth gießt und sehr sorgfältig darauf achtet, daß das Wasser, das er von sehr weit oben herabgießt, in ganz gleicher, regelmäßiger Quantität herabfalle, wodurch er sich ein grünliches Getränke von wundersamem Einfluß auf den Appetit verschafft.

Ihr habt vielleicht geglaubt, daß es ganz auf eins herauskomme, wenn ihr ganz einfach euer Gläschen Absinth in ein Glas Wasser schütten und dann unter einander rühren würdet, da seid ihr aber in einem gewaltigen Irrthum; ihr bekommt nichts Gutes zu trinken, wenn ihr nicht wenigstens fünf Minuten braucht, um das Wasser in den Absinth träufeln zu lassen. Es ist mir recht lieb, euch das sagen zu können, damit ihr, wenn ihr Eile habt, etwas Anderes bestellt.

Der junge Mann mit der schönen Halsbinde hat sich aber dem Mann, der das grüne Wasser machte, genähert und versetzt: »Wie mein lieber G***, Sie sagen, Fräulein A. habe Ihnen nicht gefallen? Gehen Sie, das ist nicht möglich! Sie hat etwas Kräftiges und doch dabei Weiches, Duftiges, Anziehendes in ihren Stellungen, ihren Bewegungen ...« – Weiches mag sie vielleicht mehr haben, als ihr lieb ist ... aber von Kraft keine Spur. – »Was! keine Kraft! ... und sie verweilt doch, ohne sich anzustrengen, zwei Minuten auf den großen Zehen ... finden Sie das nicht entzückend?« – Nein, weiß Gott nicht! Da gibt es andere Dinge, die mich entzücken! – »Gehen Sie, Sie hatten sicher gestern schlecht zu Mittag gespeist ... Sie hatten etwas Unverdauliches genossen! und deßhalb mißfiel Ihnen, was Bewunderung verdient.« – Ich habe gestern wie gewöhnlich sehr gut gespeist, und kann nur Ihre überschwänglichen Lobeserhebungen dieser Tänzerin nicht verdauen. – »Mein Freund, Sie wissen nicht, was Sie reden.« – Mit Unverschämtheiten können Sie mir Ihr Recht nicht beweisen. – »Sie sind ein hartnäckiger Mensch.« – »Kommen Sie mir nicht so, oder ich werde Sie lehren, einen andern Ton anzunehmen!«

Man ereifert sich, die Herren werden lebhaft; die Kreisdrehungen können vielleicht Veranlassung zu einem blutigen Streite geben. Es haben schon oft unbedeutendere Gegenstände traurige Folgen gehabt.

Glücklicherweise vermittelt ein dritter eben eingetretener Herr den Streit der beiden ersteren; derselbe weiß den ganzen Wortwechsel in's Scherzhafte zu ziehen, und nach einigen improvisirten Witzworten ist bald nicht mehr von der Tänzerin die Rede.

*

Wenn ihr im Laufe des Tages in ein Modewaarenlager gehen wollt, so ist jetzt gerade die rechte Zeit zum Kaufen, und die Commis werden, indem sie die Stoffe vor euch ausbreiten, alle ihre Beredsamkeit geltend machen, um euch zu beweisen, daß ihr nirgends anders etwas Besseres finden werdet.

Umsonst sagt ihr: »Aber das will ich nicht!« – Da haben Sie sehr Unrecht, Madame; glauben Sie mir, nehmen Sie das, Sie werden gewiß sehr zufrieden damit sein, und uns dafür danken; es ist außerordentlich schön und billig.«

Und der Herr des Lagers geht im Laden auf und ab, überwacht seine Commis, hat sein Auge auf Alles, feuert den Eifer seiner jungen Leute an, die dann nicht mit einander plaudern und sich ihre Bemerkungen über die Damen, die den Laden besuchen, mittheilen können.

Vor dem Mittagessen bilden die Geschäfte, der Handel, das Geld, auf dessen Erwerb man denken muß, fast die allgemeine Lebensregel; deßwegen arbeitet man auf den Comptoiren der Bankiers, in den Studirzimmern der Advokaten, der Notare, in den Ateliers, Läden, Gewölben, Buden und manchmal selbst unter freiem Himmel.

Die Salons, die Orte für das Spiel, den Tanz, das Vergnügen ... sind kalt, trübselig und geräuschlos vor dem Mittagessen.

Der Geschäftsmann läuft mit hastigen Schritten in seinem Zimmer auf und ab, verfolgt von seiner Frau, die einen Caschemirshawl von ihm verlangt, nach dem sie schon lange ein sehnsüchtiges Verlangen trägt. Allein der Gemahl findet, daß das zu theuer sei, und antwortet einmal über das andere: »Später, liebes Kind, wollen wir sehen; wenn die Rente noch um zwei Prozent steigt, sollst Du Deinen Caschemir haben.« – Ach! Sie vertrösten mich beständig auf das Steigen, und es steigt nie bei Ihnen. Spekuliren Sie lieber aufs Heruntergehen, das wird Ihnen besser gelingen. Uebrigens ist es nicht das, sondern Sie sind filzig und ich möchte sagen, abscheulich knauserig gegen mich allein, sonst würden Sie nicht alle Tage acht bis zehn Gäste bei Tische haben! Da wäre doch das Geld bei einem Caschemirshawl viel besser angelegt. – »Liebe Freundin, ich weiß, was ich zu thun habe, und Wen und warum ich einlade ... Du verstehst nichts von Geschäftssachen und einflußreichen Freunden.« – »O! ich kenne einflußreichere Leute als Sie.«

Und glaubt ihr, die Commis, diese tugendhaften fleißigen Gehülfen, die zur bestimmten Stunde mit solcher Pünktlichkeit vom Geschäfte weggehen, daß sie in allen Straßen, durch die sie kommen, statt der Uhren dienen, seien besonders glücklich vor dem Mittagessen? wenn sie da vor ihrem Pulte sitzen, ihre Federn schneiden oder sich am Ofen wärmen, und weder über ihre Zeit, noch ihren Geist – wenn sie welchen haben – nach Belieben verfügen können! O! gewiß nicht. Wenn ihr sie aber des Abends sähet, ah! da würdet ihr sie nicht wieder erkennen, dann sind es ganz andere Menschen!

Und in den Theatern! ... ach! da namentlich würdet ihr Alles anders finden.

Geht ja nicht vor dem Mittagessen in ein Theater, denn ihr würdet euch um alle Illusion bringen. Ihr würdet einen düstern Saal sehen, in dem eure Augen Mühe hätten, die Gegenstände von einander zu unterscheiden.

Auf der Bühne, wo es noch viel düsterer ist, würdet ihr anstatt jener glänzenden Dekorationen, die euch nach Italien, in die Schweiz, in das Innere eines prächtigen Palastes versetzen, hölzerne Gestelle, Coulissen, die, in der Nähe betrachtet, schmutzig und grob gemalt aussehen, aufgepappte Fetzen und bretterne Berge zu sehen bekommen, auf denen es nicht minder gefährlich ist zu gehen, wie auf ächten Schweizergletschern. Statt der schmachtenden Sänger und eisengewappneten Ritter würdet ihr Herren im Ueberrock, im Paletot, mit dem Hute auf dem Kopfe sehen, die mit einander plaudern und Späße machen, während sie auf ihr Stichwort warten, alsdann Damen, die vielleicht den Abend zuvor Rosenjungfern und Vestalinnen vorgestellt haben, an denen aber gar nichts mehr von ihrer Rolle haften geblieben ist, und die in reiche Mäntel gehüllt, die Hände in den Muffen über die zweideutigen Spässe ihrer Herren Kollegen lachen.

Das ist ein schwacher Abriß von dem, was ihr des Morgens in den Theatern finden würdet.

*

Ich könnte euch noch an jene Orte führen, wo so viele Leute ihr Vermögen verspielen, oder wo Andere, Gewandtere spielen, ohne Vermögen zu besitzen, den Gewinn einziehen, wenn einer kommt, und Nichts bezahlen, wenn Verlust vorhanden ist: eine geistreiche Art, reich zu werden und sicher zu spielen.

Ich könnte euch in die Chaussée d'Antin, das Viertel der Bankiers, der Wechselagenten, der Loretten und der jungen Statistinnen führen; in das Faubourg St. Germain, wo die alten Hôtels und die glänzenden Equipagen zu Hause sind: in das Palais-Royal, diesen zauberischen Ort, von dem man in allen fünf Welttheilen spricht, weil auf der ganzen übrigen Welt Seinesgleichen nicht gefunden wird.

Aber vor dem Mittagessen scheint das Palais-Royal nicht aller Lobeserhebungen, die man ihm macht, würdig. Um zu glänzen, müssen alle diese Läden beleuchtet sein; zur Tageszeit erhalten sie vom Himmel nur eine zweifelhafte Helle, die manchmal nicht bis in den Hintergrund der Magazine dringt.

Um diese Zeit sind die Galerien wenig besucht, die Gastwirthschaften und Café's fast verlassen, ihr seht wenig Leute vor den zur Schau ausgestellten Waaren, gleichsam den Inhaltsverzeichnissen der Läden stehen; ja selbst die Modistinnen arbeiten, ohne die Augen aufzuschlagen!

Die Zeit des Mittagessens muß nahe sein; begnügen wir uns damit, in den prächtigen Salon eines reichen Capitalisten zu treten, wo sich bereits eine zahlreiche Gesellschaft versammelt, welche der Amphitryon heute bewirthet.

Da gibt es hübsche Frauen, prachtvolle Toiletten; man weiß nicht, welcher von diesen Damen man in Beziehung auf den Reichthum der Stoffe und der Geschmeide den Vorzug geben soll; die Männer, deren Anzug fast einförmig ist, wollen sich doch auch bemerklich machen; die Einen vergessen nicht, einige Worte von ihrem Reichthum, von dem glänzenden Amte, das sie begleiten, fallen zu lassen; die Worte: »mein Schloß, mein Gut, mein Einfluß, mein Credit,« werden geschickt in die Unterhaltung geworfen. Andere, die weniger vom Schicksal begünstigt sind, schmeicheln sich, durch ihr Verdienst, durch ihren Geist den Sieg davon zu tragen, und sie quälen manchmal ihre Phantasie sehr ab, welchen zu zeigen, während diejenigen, die wirklich Geist haben, sich oft nicht die Mühe geben, ihre Waare auszupacken.

Vor dem Mittagessen herrscht in dieser Gesellschaft ein kalter, ceremonieller, fast strenger Ton.

Die Damen mustern sich und lassen eine jede die Toilette der andern bis ins kleinste Detail die Revue passiren; wenn sie einige Worte wechseln, so geschieht es mit so gesuchter, gezierter Höflichkeit, daß man es für Diplomatie halten könnte; man weiß jedoch, wie man diese Complimente, diese alltäglichen Höflichkeiten, die man sich in der Welt gegenseitig macht, zu übersetzen hat.

So, z. B. wenn eine Dame zur andern sagt: »Mein Gott, Madame, was haben Sie für einen köstlichen Hut auf, und wie kleidet er Sie zum Entzücken!« so heißt das so viel als: »Sie sind so häßlich, daß man sich vor Ihnen fürchtet, und setzen einen Hut auf, der Ihr Gesicht sehen läßt, statt es zu verdecken! Sie sind ganz lächerlich auf diese Weise!«

Oder auch: »Wie Madame, Sie waren krank, so viel man mir gesagt hat! Aber wahrlich, man sieht es Ihnen gar nicht an: Sie sind frisch und rosig, Sie haben eine herrliche Gesichtsfarbe!« Uebersetzt: »Sie sind schrecklich verändert! Sie sehen wenigstens um zehn Jahre älter aus; was Ihre Gesichtsfarbe betrifft, meine liebe Dame, so weiß man, an was man sich wegen ihrer Aechtheit zu halten hat! Sie tragen zu viel auf, das springt in die Augen.«

Oder ferner auch: »Ich habe das Unglück erfahren, Madame, das Ihnen zugestoßen ist: den Verlust Ihres Herrn Oheims ... das hat mich sehr angegriffen! Ein so liebenswürdiger Mann, der so viele Verdienste hatte! Ich bitte Sie, zu glauben, daß ich sehr vielen Antheil an Ihrem Kummer nahm.« Uebersetzt: »Es ist mir vollkommen gleichgültig, ob Ihr Oheim gestorben ist oder nicht, und Ihnen vielleicht auch, denn er war ein alter Schwachkopf, der immer brummte und unaufhörlich auf die Fußteppiche spuckte; er war wirklich unausstehlich in Gesellschaft.«

Das sind einige der gebräuchlichsten Uebersetzungen.

Wir könnten auf diese Weise ein ganzes Gespräch übersetzen, denn unter Weltleuten, die in Gesellschaft zusammenkommen und sich nicht leiden können, ist in einem ganzen Gespräche oft kein einziges wahres Wort; wir wollen es aber diesmal bei dem Gegebenen bewenden lassen.

Bei den Männern findet man gewöhnlich mehr Wahrheit, sie drücken sich aber auch – einige ausgenommen, die die gesellschaftliche Unterhaltung zu einem ganz besondern Studium gemacht haben – bei weitem nicht so gewählt und zart aus.

In einem Salon, wo häufig Personen zusammentreffen, die wenig mit einander bekannt sind, werden selten Privatgespräche gehalten, und bei allgemeinen Gesprächen ist gewöhnlich die ewige Politik Gegenstand der Unterhaltung, welche dadurch auch meist lebhaft wird, da selbst in der kleinsten Gesellschaft nie alle Männer derselben Meinung sind, und Jeder die seinige geltend machen will.

Hier finden wir einen alten Marquis, der Alles tadelt, was man jetzt thut, und nur lobt, was früher geschah. Dann einen alten Offizier, der die Kriege unter Napoleon mitgemacht hat, und nur für das, was zur Zeit des Kaiserreichs geschah, begeistert ist; der gar nicht begreift, wie man von einer andern Epoche als der des Kaiserreichs sprechen könne. Dann einen Expräfekten, der ein wüthender Feind der Regierung geworden ist, seit man ihm seine Präfektur genommen hat. Dann einen Advokaten, der bloß für die Republik eingenommen ist, die Tugenden des Robespierre preist, versichert, Frankreich sei unter dem Schreckenssystem vollkommen glücklich gewesen, nur von Freiheit spricht, Freiheit verlangt, wüthend wird und Jedermann zermalmen möchte, der nicht seiner Ansicht ist, Alles jedoch nur in Folge seiner glühenden Liebe zur Freiheit, einem Gefühl, welches sich bei den meisten unserer ungestümen Reformatoren in folgende Worte übertragen ließe: »Die Welt soll die Freiheit haben, Alles zu thun, was wir wollen.«

Dann einen Gewerbsmann, der Alles billigt, was zu allen Zeiten geschehen ist, und alle Ministerien lobt.

Dann einen Künstler, der behauptet, wir sollten uns kleiden wie zur Zeit Franz I., und gar nicht begreift, warum die Männer keinen Bart und die Frauen keine Halskrausen tragen; der die Freiheit anbetet, aber unter Ludwig XIV. gelebt haben möchte.

Und jeder dieser Herren vertheidigt seine Ansicht mit Eifer und Hartnäckigkeit; keiner will dem andern einen Zoll breit weichen. Wenn ihr dieser Erörterung zuhört, die mit jedem Augenblicke lebhafter wird, denkt ihr bei euch: »Man hat sehr Unrecht gehabt, diese Männer hier zu vereinigen; sie sind durchaus verschiedener Meinung und werden zuletzt gewiß mit einander in Streit gerathen.«

Und wenn ihr eure Blicke auf die Seite der Damen richtet, um welche einige junge Herren, die sich um etwas Anderes als Politik bekümmern, herumstreifen, indem sie ihren Schnurrbart dressiren und einen Blick auf ihren Anzug werfen, denkt ihr ebenfalls: »Diese Herren verlieren ihre Zeit umsonst, um die Damen zu verführen, denn nicht eine schenkt ihnen Aufmerksamkeit.«

Vergebens bemüht sich dieser hübsche Blondin mit seinen künstlich frisirten Haaren um eine reizende kleine Frau, hinter deren Stuhl er sich gestellt hat, und deren feine Gestalt sich unter Federn, Gaze und Spitzen verliert; sie achtet nicht im mindesten auf ihn, kehrt sich nicht einmal nach ihm um, obgleich sie in dem ihr gegenüber hängenden Spiegel den Herrn hat bemerken müssen, der sich hinter ihr befindet.

Und mit welcher Zurückhaltung, mit welch' stolzer Miene antwortet jene große, schwarzgekleidete, von Diamanten strahlende Dame dem hübschen Jungen mit dem Schnurrbarte, der ebenfalls nur mit der größten Achtung mit ihr zu sprechen scheint! Gewiß, die Lästerzungen fänden keinen Grund, sich an sie zu wagen. Das müßtet ihr in diesem Augenblick bei euch denken.

Aber plötzlich erscheint ein Diener am Eingange des Saales und spricht die von einem Theil der Gesellschaft oft mit Ungeduld erwarteten Worte: »Gnädiger Herr, es ist aufgetragen!«


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