Paul de Kock
Chipolata
Paul de Kock

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Nach dem Mittagessen

Die Stunde des Mittagessens ist, sogar bei Leuten, die spät zu Tische gehen, herangerückt. Die Nacht ist an die Stelle des Tages getreten, und schon lange sind Männer mit großen Stöcken versehen, an deren Spitze sich ein ganz kleines Licht befindet, durch die mit Gas beleuchteten Quartiere geeilt, und bringen vermittelst ihrer Stöcke das Licht in die Laternen, deren Flamme zuerst mit einem Glanz hervorschießt, der euch blendet.

Jetzt hat Alles in dieser Stadt, durch die ihr vor einigen Stunden die Runde gemacht habt, ein anderes Ansehen gewonnen.

Die Magazine, Läden, Kaffeehäuser, Theater, Straßen, Gasthöfe, Säle, Alles belebt sich und scheint ein neues Dasein anzunehmen. Das geschieht, weil die Menschen bei dem von ihnen erfundenen Lichte mehr glänzen, als bei dem, welches sie vom Himmel empfangen; das erstere besitzt oft eine trügerische Helle, und unsere Schönheit ist nicht immer der Art, daß sie das Tageslicht vertragen kann.

Nun könnt ihr, wenn ihr in dieser langen Reihe gasbeleuchteter Boulevards und in den eleganten, lebhaften, bevölkerten Straßen spazieren geht, keine zehn Schritte machen, ohne daß die strahlende Beleuchtung eines Ladens, eines Waarenlagers oder eines Kaffeehauses auf euer Gesicht fällt.

Lasset ihr euch nicht durch die Vergoldungen, die Malereien, die Verzierungen dieses Restaurationssaales; nicht durch diese unermeßliche Abwechslung von Shawls, von kunst- und geschmackvoll zusammengelegten Stoffen in den Modehandlungen, diese Halsbänder, Ketten und Stecknadeln in den Schaufenstern der Bijoutiers; nicht durch die geschmackvollsten Hauben und Hüte, und endlich die hübschen Gesichtchen in jenen Läden verführen; o! dann seid ihr mehr als Joseph, größer als Alexander.

Denn jetzt, wo Alles von Glanz und Licht strahlt, könnt ihr diese Frauenzimmer ganz genau sehen, die ihre Augen nicht mehr, wie im Laufe des Tages, auf ihre Arbeit heften, sondern sich oft erlauben, nach der Seite der großen Scheiben zu schauen, und sich dann bedeutungsvoll einander zulächeln, wenn ein schöner Herr vor denselben stehen geblieben ist.

Jetzt könnt ihr, ohne von den Vorübergehenden gestoßen, gepufft, und gedrängt zu werden, in der Stadt umher spazieren. Nach dem Essen läuft man seinen Geschäften nicht mehr nach; man hat weniger Eile, läßt sich Zeit, geht nach Bequemlichkeit, bleibt oft vor den Laden stehen, kurz, man schlendert mehr. Die Wägen selbst sind seltener, und wenn man sich auch noch vor den Equipagen, Omnibus und Fiakern zu hüten hat, so begegnet man doch wenigstens keinen Handkarren, Wasserkarren, Bauernwägen, Möbelwägen, Schuttkarren mehr.

Man sieht zwar hie und da noch Frauenzimmer schnell laufen und sich, weil sie allein sind, beeilen; auch einige Grisetten, die thun, als ob sie sich fürchteten, wenn ihnen ein Herr folgt; aber das sind Ausnahmen, Schatten, welche das Licht in einem Gemälde nur um so mehr hervorheben.

Die Augen gewinnen nicht allein bei dieser mit Paris vorgegangenen Veränderung. Nachdem wir die Galerien des Palais-Royal bewundert haben, das Abends wirklich ein Zauberort geworden ist, und rasch über die so lange Reihe gasbeleuchteter Boulevards hingeeilt sind, eine reizende Promenade, die ihresgleichen in der Welt sucht, wollen wir nun zu den Personen zurückkehren, die wir vor dem Essen beobachtet haben, und sehen was dieser einfache, gewöhnliche, aber im menschlichen Leben so unentbehrliche Akt für eine Veränderung in ihrer Stimmung und oft auch in ihrer Lage hervorgebracht hat.

*

Werfen wir zuerst einen Blick in den Laden jenes Spezereihändlers, wo es heute Morgen so voll war.

Jetzt drängen sich die Käufer nicht mehr so vor dem Ladentisch; es kommen zwar hie und da noch Kunden, aber nicht mehr in der großen Anzahl und mit der Eile wie unter Tages, weit entfernt davon, plaudern sie vielmehr jetzt gerne mit dem Spezereihändler und seinen Commis. Diese dürfen sich einige Neckereien mit den Mägden des Quartiers erlauben, während sie ihnen Zucker oder Pfeffer vorwägen.

Der Commis des Spezereihändlers ist, ohne daß man es ihm ansieht, ein außerordentlicher Verführer. Kein Wunder! Sein Prinzipal gibt ihm das Beispiel. Welch' ein Schmeichler! welch' ein Possenreißer ist doch dieser Spezereihändler! Er findet immer das geeignete Witzwort, um Lachen zu erregen; er ist nie um eine Antwort verlegen, und sein Witzwort, das gewöhnlich sehr schlüpfrig ist, verfehlt nie Diejenige, an die er es adressirt, zu einem gellenden Gelächter aufzureizen. Die beschürzten Damen lachen dann zum Zerplatzen, sind genöthigt, sich auf ein Rosinenfaß oder eine Seifenkiste zu stützen und rufen aus: »Ah, ist es bald genug? ... Wollen Sie endlich still sein! ... Madame, bringen Sie doch Ihren Mann zum Schweigen, er sagt uns gar zu arge Sachen ... wer würde auch glauben, daß er mit seiner frommen Miene ein solcher Spitzbube ist?«

Die Spezereihändlerin, welche sich jetzt breit in ihr Comptoir hineinsetzen kann, weil man ihr nun die gehörige Zeit zum Geldherausgeben läßt, lächelt nur und erwidert nachlässig: »O! das geht mich nichts an; sucht selbst mit ihm fertig zu werden; ihr habt ja auch das Maul auf dem rechten Flecke! ... Ei! ihr Mamsells, wißt ihr keine Magd, die einen Platz sucht? Die Dame im dritten Stocke hat die ihrige unter dem Vorwand, sie brauche zu viel Butter zu ihren Saucen, fortgeschickt.«

»Da müßte ich mich zwingen, wenn ich in eine solche Küche ein Mädchen schickte!« entgegnet eine dicke Schwätzbase in einer Haube, die von einem à la Fanchon gebundenen Madrastuch überragt wird; »ich kenne Ihre Dame im dritten Stocke, die frißt der Geiz! ... Es sind Leute, die Aufwand machen und Mittel haben, so viel man sagt, denn bewiesen ist es noch nicht, aber dabei ihre Dienerschaft Hungers sterben lassen! ... Ein eitles Chor, das Alles an den Luxus und den Staat rückt, immer einen prachtvoll gedeckten Tisch, vergoldete Teller, ditto Schüsseln und nichts darin hat; wo man bei jedem Gang die Couverte und Bestecke wechselt, um zu vier einen Hahnenflügel zu essen; die einen Apfel in acht Theile schneiden, um ihn zu präsentiren, und vierzehn Tage lang das nämliche Backwerk oder Bisquit zum Nachtisch auftragen lassen! ihre Dienstboten mit Knochen und Abfall nähren und sich dann noch beklagen, sie essen zu viel! Pfui, das sind Filze! Nein, es würde mir bestimmt nicht einfallen, ihnen eine ordentliche Person zu schicken, wenn ich auch eine wüßte!«

Ein kleines, altes, mageres, elend gekleidetes Mütterchen, welches eine Tasche am Arme hat, die man ihrer Größe wegen bei Auszügen verwenden könnte, und wie gewöhnlich ihr Gläschen Johannisbeergeist trinkt, läßt jetzt einen Ausruf hören, der einem Entenschrei gleicht, und präsentirt dann der Gesellschaft ihre Dose mit den Worten: »Ja! Sie haben vollkommen Recht, Madame! Mein Jesus und Heiland! es gibt Herrschaften, die in ihrem Betragen sehr inconsequent sind und ihre Dienerschaft weder besser noch schlechter behandeln, als ob sie aus lauter Negern, schwarz wie Tinte, bestünde! Hat man nicht kürzlich meine Nichte auf diese Weise auf die Straße gesetzt? ... Sie kennen meine Nichte ... ein hübsches Geschöpf ... ein Kind, das ich mit einer Geiße aufgezogen habe, an der sie den ganzen Tag saugte, daß es rührend zum Ansehen war ... weder besser noch schlechter wie die Mutter Alda in dem famosen Roman Notre Dame de Paris

»Ah! ich kenne Ihre Nichte,« erwidert der Spezereihändler, »eine hübsche Brünette mit etwas langen Armen; das ist aber bequem, um seine Strumpfbänder zu binden.«

»Sie sind im Verhältniß nicht so lange als Ihre Nase, die Sie aber auch in Alles stecken müssen!« versetzt die Alte, welche die Bemerkung des Spezereihändlers zu ärgern scheint.

Dieser aber beeilt sich, der Alten einige Feigen anzubieten, um das Piquante seines Scherzes zu versüßen; diese nimmt eine Hand voll, steckt sie in ihre Riesentasche und fährt fort: »Ich zog sie also auf ... sie wird am St. Nicasius-Tage achtzehn Jahre alt ... und ließ sie zu Bürgersleuten in einen Dienst treten; die Haushaltung bestand aus dem Herrn, der Frau, zwei Kindern, einem Hunde, einer Katze und drei Vögeln; da fehlte es nicht an Arbeit, denn sie mußte das Alles jeden Morgen säubern und reinigen.« – Wie, den Mann auch?« frägt der Spezereikrämer, die Alte um das Kinn streichelnd.

»Wollen Sie still sein, Sie Unartiger! ... ah! warum nicht gar ... was fällt Ihnen ein; glauben Sie, ich hätte meine Nichte in ein Haus gethan, wo man Dinge von ihr verlangt hätte, die ... Großer Gott! ein Mädchen, das so unschuldig ist wie Ihre Prünellen! ... Ich sagte das nur, um Ihnen zu sagen, wie viel es zu schaffen gab. Nun denken Sie sich, schickte sie ihre Frau vollends gar aus dem Grunde fort, weil ich Sie zu oft in der Küche besuche, und dann das Geflügel immer ein Bein zu wenig habe! ... als ob todtes Geflügel überhaupt noch Beine brauchte! ... aber das Ganze war eine nichtsnutzige Verleumdung! ... ich der Herrschaft meiner Nichte etwas nehmen, pfui! Und außerdem esse ich je Etwas? Ich lebe ja fast von der Luft, das weiß Jedermann! Mein armer Magen verabscheut die Nahrung ... Morgens trinke ich mein Gläschen Anislikör und Abends meinen Johannisbeergeist; damit erhalte ich mich schon seit zwanzig Jahren, so wahr ich ein ehrliches Weib bin

So dauert das Geschwätz bei dem Spezereihändler fort, der nach Tische sehr liebenswürdig ist, weil er viel Geld eingenommen hat; er heißt seine Frau einmal über das andere »mein Liebchen« und mein »Herzchen«; diese läßt sich geduldig in die Wange kneipen; die Commis sagen den Mägden Süßigkeiten; diese schimpfen über ihre Herrschaften, und so ist Alles vergnügt.

*

Nun stehen wir vor dem Laden der Krämerin in der Vorstadt St. Antoine, wo wir heute Morgen die Mamsells Ernestine und Honorine mit auf die Arbeit gesenkten Blicken, nicht wagend, den Kopf nach den Fenstern zu drehen, zurückließen, während sie die Krämerin schalt, weil sie ganz leise die Strophe eines Liedes getrillert hatten.

Seit heute Morgen ist eine große Veränderung vorgegangen.

Mamsell Ernestine sitzt noch im Comptoir, aber statt zu arbeiten, liest sie einen Roman.

Honorine sitzt bei der Thüre und singt, indem sie sich zum Schein mit einer Stickerei beschäftigt, halblaut die Romanze von Guido:

»Ach! er floh wie ein Schatten dahin!«

wobei sie ihre Blicke häufig auf einen gegenüber befindlichen Leinwandladen richtet, in welchem sich ein junger Commis aufhält, der, weit entfernt, wie ein Schatten zu fliehen, ihr Zeichen gibt, und während er dem Anscheine nach seine Waaren auseinanderlegt, eine sehr leicht faßliche Pantomime macht.

Wie kommt es, daß diese Mamsells heute Abend so viel Freiheit genießen? Wo ist die strenge Krämerin, deren trockene, barsche Worte Furcht einflößten und die Heiterkeit verscheuchten?

Wir wollen in den Hintergrund des Ladens treten: dort finden wir diese Dame in Gesellschaft eines alten Militärs, desselben, von dem wir vor dem Essen gesprochen hatten.

Mehrere Tage waren verstrichen, ohne daß sich der alte Krieger bei der Krämerin hatte sehen lassen, und diese empfand bereits alle Aengsten eines Herzens, das ohne Hoffnung zu lieben fürchtet.

Wenn man den Frühling und sogar den Sommer des Lebens hinter sich hat, müssen diese Angstgefühle weit lebhafter sein, da man dann in dem Kapitel der Trostgründe nichts mehr zu lesen findet.

Gegen Abend aber war der alte Soldat gekommen, der Kaufmannsfrau seine Huldigungen darzubringen. Man hatte ihn aufgenommen wie den verlorenen Sohn; zwar hatte man kein gemästetes Kalb geschlachtet, aber ihn zu einem Hühnchen mit Oliven eingeladen, welches die Köchin der Madame mit einer Vollkommenheit zuzubereiten wußte, die im ganzen Quartier Aufsehen machte.

Nachdem der Kriegsmann sich eine Weile gesträubt, hatte er zuletzt die Einladung zum Mittagessen angenommen, und die Köchin, als ob sie die Gefühle ihrer Herrin errathen, hatte sich an diesem Tage selbst übertroffen.

Ein Dichter, der das menschliche Herz oder vielmehr den menschlichen Magen sehr gut kannte, hat gesagt:

»Mit Gastmahlen regiert man die Menschen!«

Und in der That, wie viel Ereignisse, Pläne, Absichten und Intriguen sind nicht von jenem römischen Kaiser an, der seinen Koch zum Senator erhob, weil er eine vortreffliche Sauce erfunden hatte, von Heliogabalus und Lucullus an, welche man mit Recht die Restauratoren des Reichs hätte nennen können, durch die Beihülfe der Mahlzeiten durchgeführt worden! durch diese mächtigen Alliirten, deren man sich mit gleicher Wirkung immer wieder bedient.

Daraus könnte man schließen, daß die Menschen Leckermäuler sind.

Und warum sollte man es nicht glauben, wenn wir jeden Tag vor und selbst nach dem Essen so viele Leute, gleichsam in Bewunderung versunken, vor Chevets Laden, vor dem Hôtel der Amerikaner, kurz vor allen bedeutenden Delikatessenläden stehen sehen?

Ich sah eines Tages einen sehr gut gekleideten, voll und wohlgenährt aussehenden Herrn, der meines Wissens fünf Minuten lang, ohne die Augen abzuwenden, auf einen prächtigen Hummer hinstarrte; da es mir aber zu langweilig wurde, diesen Herrn weiter zu beobachten, so ließ ich ihn bei den Delikatessen stehen, und kann somit nicht sagen, wie lange er noch in diesem Zustand tiefer Betrachtung vor dem Hummer verblieb.

Dieser Herr kam mir vor wie die Palamiten.

Ihr wißt vielleicht nicht, wer die Palamiten sind, deßhalb erkläre ich es euch: das waren griechische Mönche, die sich im vierzehnten Jahrhundert dem beschaulichen Leben widmeten und es durch unablässiges Betrachten ihres Nabels dahin brachten, sich in Extasen zu versetzen und das reine Licht, das vom himmlischen Aufenthalt ausströmt, zu erblicken. Constantinopel war voll von diesen vom Kaiser Johann Paläologus begünstigten Frommen, die Tage lang unbeweglich auf einem Stuhle saßen, und in Erwartung der himmlischen Erscheinung die Augen unverwandt auf ihren Nabel gerichtet hatten, und das war der Grund, daß man sie Palamiten oder Nabelgucker nannte.

So leckerhaft mir auch der Herr vorkommen mochte, den ich vor Chevet stehen sah, so muß ich doch bekennen, daß ich diese andächtige Anschauung eines Hummers oder einer Gänseleberpastete noch weit eher begreife, als die eines Nabels.

Aber über alle diese Dinge haben wir die Krämerin und ihren Gast, den alten Kriegsmann, aus dem Gesichte verloren, der, nachdem er das Essen vortrefflich gefunden hatte, einzusehen begann, daß sein Pensionsstand noch viel angenehmer sein müßte, wenn er durch solche Hühnchen mit Oliven ausgeschmückt und durch so edle Weine versüßt wäre; beim Braten wurde er daher sehr galant, beim Zwischenessen wagte er eine Erklärung, und beim Dessert war die Heirath abgeschlossen.

Und die Krämerin sagte in ihrem Entzücken zu den beiden Ladenmamsells: »Gehen Sie zur Ruhe, Sie haben genug gearbeitet.«

Und die beiden Mamsells machten von dieser Erlaubniß Gebrauch, ob wörtlich steht dahin, und priesen die Köchin, deren Talent diese glückliche Veränderung herbeigeführt hatte.

Indem wir weiter in der Vorstadt St. Antoine vorwärtsgehen, begegnen wir zwei Arbeitern, die Arm in Arm einhertaumeln und die besten Freunde von der Welt zu sein scheinen.

Peter und Gravouillet sind es, die sich diesen Morgen im Streite getrennt hatten; als sie sich aber Abends in der Schenke zusammenfanden, hatte Peter zu Gravouillet gesagt: »Du bist böse, aber ich bin es nicht; Du kannst mit Dir selbst keine Händel anfangen. Ich bezahle eine Flasche, wenn Du nicht glaubst, was man bei des Obsthändlers geträtscht hat.«

Gravouillet verzichtete auf seinen Glauben, und nahm die Flasche an; in einiger Entfernung von der ersten Schenke wollte auch er eine Flasche bezahlen; etwas später regalirte Peter wieder ihn. Wenn sie so fortmachen, können sie niemals ihre Schlafstelle erreichen; dafür ist aber auch die feurigste Freundschaft an die Stelle der Feindseligkeit getreten und man hört sie auf dem ganzen Wege wiederholen: »Du bist mein Freund!«

»Ewig! bis in den Tod!«

»Und Freunde bleiben Freunde!«

»Gut gesprochen!«

»O Freund, komm', gib mir einen Kuß.«

Und die beiden Männer stehen mitten auf der Straße still, um sich zu küssen. Das ist ausnehmend rührend! und diese Freundschaft hält jedenfalls so lange an als ihr Rausch.

*

Nun kommen wir auf die Boulevards.

Alles ist beleuchtet, die Kaffeehäuser, die großen und die kleinen Theater, die Gerüste, die Marionetten, die Wachsfiguren-Cabinete, die Sehenswürdigkeiten und Curiositäten, die Taschenspieler- und Seiltänzer-Buden.

Alles ist in Bewegung und die Menge drängt sich um die Marktschreier, die Hanswurste und die großen Zelte, auf die man, um Einem einen Vorgeschmack von dem, was innen gezeigt wird, beizubringen, Frauen hingemalt hat, die Bärte haben wie wahrhaftige Bären; Männer, die das Mannesalter erreicht haben, ohne nur ein Härchen auf dem Leibe zu haben, wovon man sich persönlich überzeugen kann; Löwen, die sich peitschen lassen ohne in Zorn zu gerathen, und Tiger, die Einem vertraulich die Tatze reichen, wie ein intimer Freund.

Die Menge bewundert das Alles, aber sie geht nicht hinein: sie weiß, daß die Belustigungen am Eingang unendlich angenehmer anzusehen sind als Alles, was hinter dem Vorhange steckt.

Dort gehen Kindsmägde mit Rekruten spazieren und geben willig den verführerischen Reden derselben Gehör, denn Abends sind sie von ihren Breischluckern erlöst. Ihre Herrschaften sind ausgegangen, nachdem sie ihnen äußerst ans Herz gelegt, auf ihre Kinder wohl Acht zu geben, aber kaum sind dieselben zur Thüre hinaus, so legen die Mägde die Kinder zu Bette, machen von der Ruthe Gebrauch, wenn die Kleinen behaupten, sie hätten keinen Schlaf, und eilen auf das Boulevard, um den Freund in den krapprothen Hosen aufzusuchen.

Jene Pärchen aber, die ihr im Schatten hinschleichen und hauptsächlich die am wenigsten besuchten Alleen einschlagen seht, bestehen nicht ausschließend aus Kindsmägden und ihren Liebhabern.

Nach dem Mittagessen sind die Grisetten nicht mehr so scheu, die jungen Arbeiterinnen nicht mehr so spröde, selbst die Loretten humanisiren sich ziemlich leicht; Abends geht man nicht aus, um Arbeit zu suchen oder zurückzutragen, man geht vielmehr nur, um spazieren zu gehen, und da es sehr trübselig ist, allein spazieren zu gehen, so wird der Arm eines Herrn eben so angenehm als nothwendig. Die Frau muß sich auf den Mann stützen, wie der Greis auf das Rohr, wie der Epheu auf die Ulme, kurz, wie eine Menge Dinge aufeinander, die ich nicht anführen kann.

Wenn wir uns Etwas auf den Boulevards umsehen, so werden wir, ich bin es überzeugt, jenem jungen Manne und jener jungen Dame begegnen, welche sich vor dem Essen so barsch, ja fast im Verdrusse verlassen hatten. Ja, da sind sie Beide; sie gehen verliebt in der düstersten Seitenallee spazieren, sie sprechen seht leise und sehr zärtlich mit einander. Nun sind sie einig, und werden bald von den Worten zur That schreiten.

Nachdem ber junge Mann seinen Antheil an der mit Trüffeln gefüllten Truthenne verspeist hatte, fühlte er die Liebe mit noch mehr Heftigkeit in seinem Herzen erwachen. Dann kehrte er reuevoll an den Ort des morgendlichen Stelldicheins zurück, indem er hoffte, die Sympathie werde auch seine Geliebte herbeiführen; diese war aber nur zufällig dorthin gekommen und hatte dem Geliebten verziehen, noch sehr zufrieden, nur eine Truthenne mit Trüffeln zur Nebenbuhlerin gehabt zu haben.

Verlassen wir die Boulevards.

Ich will euch nicht den Vorschlag machen, jetzt in das Quartier der Hallen zurückzukehren, obgleich es Abends dort eben so still ist, als es des Morgens lärmend war. Ruhe ist nun an die Stelle des Geschreis, des Schimpfens und der Streitigkeiten getreten, und das aus sehr gutem Grunde; die Hallen sind jetzt nämlich leer, und die Verkäuferinnen haben sich aus dem Staube gemacht.

Wir durchgehen nun rasch die Altstadt, deren Bewohner einen Spaziergang außerhalb ihres Quartiers aufsuchen.

Was den Justizpalast betrifft, so wisset ihr, daß Abends nicht plaidirt wird, und dort ebenfalls Frieden herrscht! ... weil Niemand mehr darin ist.

Zieht übrigens hieraus nicht den betrübten Schluß, daß die Menschen nicht beisammen sein können, ohne in Streit zu gerathen! Nein, wahrhaftig nicht! Werft zum Beweise des Gegentheils einen Blick in den Saal dieses Gasthauses. Dort sitzen Advokaten, welche diesen Morgen einer gegen den andern plaidirten, sich spitze Worte sagten und sich beißende Anzüglichkeiten zuwarfen! Seht, wie sie miteinander anstoßen und Champagner wie Wasser hinuntergießen; sie scherzen selbst über das, was sie heute früh im Gerichtssaal einander gesagt haben und wohl auch über die Partieen, wegen welcher sie es gethan haben und deren Einfalt sie jetzt das köstliche Getränk verdanken.

Glaubt daher nicht an die Ueberzeugung dieser Advokaten, die behaupten, sie vertheidigen bloß gerechte Sachen. Diese Herren betreiben eben ihr Gewerbe, weiter ist es nichts, und der, welcher bei Vertheidigung einer schlechten Sache am meisten Ueberzeugung heuchelt, gilt als der talentvollste.

Gehen wir in ein Kaffeehaus. Nach dem Essen strahlen diese in ihrem ganzen Glanze, erstens weil sie beleuchtet und zweitens weil sie voll Menschen sind. Fast alle Tische sind besetzt, und jetzt hat es ein anderes Ansehen als vor dem Essen: statt der kalten, trockenen, ernsten Physiognomien, die, ohne etwas zu verzehren, die Journale lasen, seht ihr jetzt auf allen Seiten jubelnde Gesichter.

Der alte Herr lächelt sein Täßchen Kaffee an, die jungen Leute bei der Punschbowle müssen sich ganz fidel unterhalten, denn sie brechen oft in ein schallendes Gelächter aus; dort sitzt ein altes Pärchen, welches sich mit GloriaMit Zucker in einer Kaffeetasse verbrannter Rum oder Cognac. bedienen läßt, hier schlürft ein großer magerer Herr ein Glas Eis hinunter.

Die Herren, welche heute Morgen auf dem Punkte waren, sich wegen der Zirkeldrehungen einer Tänzerin zu schlagen, spielen ihren Kirschengeist und ihren Rum miteinander auf dem Billard heraus; der Streit von diesem Morgen ist ganz vergessen, selbst der Anblick der Dominospieler ist heiterer und possenhafter geworden; die des Morgens oft schleppende Unterhaltung ist jetzt lebhaft, sprudelnd, aufgeregt.

Es gibt Leute, die nach einer guten Mahlzeit beinahe geistreich werden. Welches Leben, welches Treiben in diesem Kaffeehaus!

Man kommt, geht, setzt sich, steht auf. Die Kellner rennen von der Küche zur Tafel, von der Tafel in's Comptoir, und alle Augenblicke klingt es euch in den Ohren.« »Hieher, Kellner!«

»Punsch!«

»Eine Tasse Kaffee!«

»Hier, mein Herr.«

»Bringen Sie Bier!«

»Ein Domino!«

»Geben Sie mir die Audience

»Sie wird gerade gelesen, mein Herr.«

»Reissuppe!«

»Ich hätte gerne die Débats

»Acht auf hundert?«

»Wer hat den Messager verlangt?«

»Wir wollen uns hierher setzen.«

»Hier?«

»Nein, dort, jener Platz ist besser.«

»Eine Bavaroise mit Milch für diesen Herrn!«

U.s.w. u.s.w. u.s.w.

Im Vorbeigehen betrachtet ihr diese schönen Modewaarenlager. Die Commis genießen die Süßigkeiten des Abends; jetzt finden sich nur noch wenige Käufer ein. Der Chef des Hauses ist in das Theater gegangen und die jungen Leute können mit einander plaudern und lachen.

Hier finden keine Klatschereien von den Schwätzbasen des Quartiers wie bei den Spezereihändlern statt, hier machen sich die Handlungslehrlinge, von denen die meisten achtzehn bis fünfundzwanzig Jahre alt, folglich mehr oder minder verliebt sind, ihre vertrauten Mittheilungen.

Wer ist in diesem Alter nicht verliebt? Wer hat in dieser Periode seines Lebens nicht eine, zwei oder drei Passionen in seinem Herzen?

Und wenn man so viele Sachen im Herzen hat, ist es gewiß ganz natürlich, daß man sie seinen Freunden, seinen Kameraden gerne mittheilt; da behauptet alsdann jeder dieser Herren, eine sehr hübsche Geliebte zu haben, ja, da handelt es sich davon, wer den Andern im Lobe der seinigen überbiete.

»Meine Leinwandhändlerin hat wunderhübsche russisch-blaue Augen!«

»Die meinige hat schwarze, die gefallen mir weit besser.«

»Der Fuß meiner Geliebten ist nicht größer als ein Kaffeebrod.«

»Wenn Sie eine Striezel darunter verstehen, so kann er immer noch lang genug sein.«

»Ach! nein, ein Kaffeebrod um einen Sou!«

»Diejenige, die mein Herz besitzt, hat Zähne wie Perlen, und alle vollständig... zweiunddreißig, einer schöner als der andere.«

»Also auch einer häßlicher als der andere.«

»Meine Dulcinea hat vierunddreißig!«

»Vierunddreißig! das ist nicht möglich, so viel hat kein Mensch.«

»Mein Mädchen ist auch kein Mensch! und überdies habe ich Frauenzimmer gekannt, die vierzig hatten.«

»Das waren dann Löwinnen

»Ah, bravo! Das ist ein herrliches Wortspiel!«

Nur zu, meine Herren, rühmt immerhin die Reize eurer Schönen; das ist galanter, als über sie zu raisonniren.

Der Tag gehört der Arbeit, der Abend dem Geplauder, wozu die Nacht da ist, geht uns nichts an.

*

Wer ist aber jenes Individuum, welches so stolz und gespreizt auf dem Trottoir dieser Straße einhergeht, weder links noch rechts ausweicht. Jedermann mit einem Halblächeln auf den Lippen und jener selbstzufriedenen Miene anblickt, in der sich ausdrückt: »Ich bin sehr glücklich, sehr vergnügt, der Abend gehört mir, jetzt bin ich mein eigener Herr! Sobald es fünf Uhr geschlagen hat, bin ich so frei wie der Vogel in der Luft! Ich genieße aber auch meine Freiheit, ich benütze sie, denn ich bleibe keinen Abend zu Hause.«

Dieser Herr ist ein Angestellter, einer von denen, die wir alle Morgen zur selben Stunde ... so regelmäßig wie die Linien eines Notenblattes... vorbeigehen sehen. Vor dem Essen sind die Angestellten nicht Herren ihrer selbst: ihre Zeit, ihre Arbeit, ihr Talent, ihre Buchstaben, selbst ihre Feder, mit einem Wort Alles gehört der Regierung, die sie bezahlt; bis fünf Uhr müssen sie sich einer vollkommenen Selbstverleugnung unterwerfen.

Aber mit welcher Freude machen sie Gebrauch von ihrer Freiheit, wenn sie ihre Bureaux verlassen haben!

Könnt ihr euch nun noch wundern über die merkliche Veränderung, die jetzt mit dieser zahlreichen Klasse von Individuen vorgeht? Und wenn ihr sie Morgens steif, barsch, unangenehm, manchmal sogar unhöflich gegen die, welche mit ihnen zu thun haben, gefunden habt, so verzeiht ihnen, denn dieses muß bloß eine Folge der langweiligen bureaukratischen Geschäfte sein.

Aber seht sie nach dem Essen, da werdet ihr ganz erstaunt sein, in denselben Wesen, die ihr Morgens so gelangweilt und so langweilig gefunden habt, heitere, liebenswürdige, geistreiche Menschen zu finden.

Jetzt könnt ihr auch in's Theater gehen, denn dieses existirt eigentlich nur Abends. Jenen veralteten Koketten gleich, die bei Tage nicht sichtbar sind, weil sie da beschäftigt sind, sich vorzubereiten, sich zu schminken, die Reize herauszuputzen, mit welchen sie euch zu verführen gedenken, empfangen die Theater ihre Besucher erst nach dem Essen, aber dann entfalten sie alle ihre Pracht und allen ihren Pomp, um eure Augen und Ohren zu verführen, euern Geist zu bezaubern, und euer Herz zu umstricken; und es gelingt ihnen häufig, weil, wenn nach dem Essen, unser Kopf noch voll von den Dünsten eines edeln Weines ist, wir weit mehr geneigt sind, uns verführen zu lassen.

Wir wollen unsern Abendspaziergang mit der Rückkehr in den Salon jenes Capitalisten beschließen, wo wir Männer von allen Parteien und Farben versammelt gesehen haben, deren anfangs ernste Unterhaltung, ehe man sich zur Tafel setzte, lebhaft, beißend, stürmisch geworden war und ernstliche Streitigkeiten zwischen diesen Herren befürchten ließ, die so verschiedene Meinungen hatten und sich gegenseitig keine Concessionen machen wollten.

Sehet sie jetzt wieder an, wo Champagner über all' ihre Gespräche geflossen ist: diese Herren sind nachgiebig, versöhnlich, sogar optimistisch geworden.

Der alte Marquis läugnet nicht mehr, daß Napoleon ein großer Feldherr war.

Der ehemalige Soldat des Kaiserreichs gibt zu, daß sich die Franzosen in Algier vortrefflich geschlagen haben.

Der Advokat gelangt allmählig zu der Ueberzeugung, daß die Republikaner in Rom und Athen Mißbrauch mit dem Ostracismus und der Arena getrieben haben.

Der Künstler entschuldigt die Mode der Fräcke und runden Hüte, selbst der Expräfekt zeigt sich geneigt, sich mit der Regierung zu versöhnen, wenn man ihm sein Amt wieder gibt.

Und Sie, meine Damen ahmen Sie diesen Herren nicht auch nach? Ich meine, Ihre Worte seien jetzt sanfter, Ihre Blicke nicht mehr so strenge.

Ich bemerke, daß sich sehr lebhafte Unterhaltungen zwischen den jungen Leuten und einigen dieser stolzen Schönen angeknüpft haben, welche jene vor dem Essen kaum zu kennen schienen, aber gegen die sie jetzt weit menschlicher geworden sind.

»Was soll das Alles beweisen?« werdet ihr mich vielleicht fragen.

Das soll beweisen, daß die Menschen im Allgemeinen nach dem Essen besser sind, als vor demselben; daß sie, wenn die Bedürfnisse ihres Magens befriedigt sind, eine Behaglichkeit empfinden, die sie zur Nachsicht geneigter stimmt. Beachtet diese pathognomischen Zeichen und sucht sie zum Vortheil der Moral zu benutzen.

»Aber,« werdet ihr mir entgegenhalten, »wie ist es mit denen, die nichts zu essen haben.«

Ha, wahrhaftig! diesen bleibt das Recht, schlechter Laune zu sein! Deßhalb muß man aber auch die Dinge so zu arrangiren suchen, daß Jedermann zu essen hat, und im Nothfall den Grundsatz des Seneschalls in Boildieus Johann von Paris befolgen, daß es sogar für die Prinzessin von Navarra besser sei, mit einem Bürger zu Mittag zu speisen, als gar nicht.


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