Paul de Kock
Chipolata
Paul de Kock

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Die Drehorgeln und die Zauberlaterne

Ihr seid in eurem Studirzimmer mit dem Niederschreiben einer Scene, der Entwicklung eines Drama's oder dem Dichten von Versen beschäftigt, als plötzlich die Töne einer Orgel an euer Ohr dringen, welche die Ouvertüre aus der Caravane, der Jugend Heinrichs IV. oder aus Demophon spielt.

Nun werdet ihr euch vergeblich bemühen, nach der Melodie Demophons einen Reim zu finden! Ihr hattet gerade eure Melodie gefunden, trillert sie, während ihr euer Vaudeville dichtet, vor euch hin, aber die verfluchte Orgel zerstreut, betäubt euch und bringt euch um eure Fassung. Ihr hoffet, sie werde mit dem Schlusse der Ouvertüre stille sein, und da ihr diese genau kennt, sagt ihr vor euch hin: »Ein wenig Geduld; man ist bald an den letzten Takten.«

Aber wenn die Ouvertüre zu Ende ist, und ihr frisch aufathmend eure Feder wieder zur Hand genommen habt und abermals euer Liedchen trillert, fängt die Orgel auf's Neue an, spielt die Romanze aus Guido und Ginevra, dann ein Musikstück aus der Abreise des Savoyarden, und endlich den Walzer aus dem Freischütz. Es ist nicht zum Aushalten, um so mehr, als auf den Drehorgeln die schönsten Melodien abscheulich verhunzt, verstümmelt und geschändet werden.

Wenn die Walze des Instrumentes nicht genug Noten hat, eine Melodie nach der Vorschrift des Tonsetzers zu spielen, so genirt sich der Ordner oder vielmehr der Zerstörer keineswegs, die Takte zu verändern; er versetzt, vereinfacht und beschnipfelt nach Gutdünken und Möglichkeit; das ist ein wahres Verbrechen, gegen welches man obrigkeitlich einschreiten sollte.

Spielt immerhin die beliebten Melodien, ihr wandernden Herren Musikanten, richtet eure Orgeln darnach ein, weil es einmal der Gebrauch ist, spielt von Morgens bis Abends zur Freude der Portiers, Mägde und Köchinnen, spielt sogar falsch, ihr habt das Recht dazu, das übersteigt eure Vollmachten nicht, aber ändert nichts an den Sätzen einer Melodie, so daß etwas ganz Anderes herauskommt, als der Compositeur beabsichtigte; laßt kein g hören, wo dieser ein es vorgeschrieben hat, oder wenn ihr nichts von den Regeln der Harmonie versteht, so mischt euch nicht in das Geschäft anderer Leute.

Der dramatische Dichter ist nicht der einzige, den die Orgeln zur Verzweiflung bringen, denn so oft eine solche Musik in den Hof eines Hauses kommt, kann man darauf wetten, daß sich ein Theil der Bewohner desselben darüber ärgern wird; in Paris wohnen gar so viele Leute in einem Hause.

Hier ist ein Handelsmann, der sich eben mit der Durchsicht seiner Rechnungen beschäftigt und seine Einnahmen und Ausgaben vergleicht. Sein Kassenbestand ist nicht ganz in Richtigkeit; er will sehen, worauf der Irrthum beruht ...

In dem Augenblick, wo sich der Handelsmann hinter dem Ohre kratzt und seine Calculs macht, kommt eine Orgel; diese begnügt sich aber nicht einmal mit dem Drehen ihrer Walze, sondern es wird auch dazu gesungen, das heißt aus Leibeskräften geschrieen:

»Fünf Sous!
Fünf Sous!
Uns häuslich einzurichten!«

Der Handelsmann weiß nicht mehr, wo ihm der Kopf steht; er addirt sechsmal dieselbe Rechnung und bringt seinen Thatbestand nicht heraus ... er kommt nicht mehr in's Klare; der ewige Refrain:

»Fünf Sous!
Fünf Sous!«

saust ihm in den Ohren; der Schweiß rinnt ihm von der Stirne herab, er zerbeißt seine Feder, macht Tintenklekse auf sein Buch, kurz, er kann unmöglich richtig rechnen, und daran ist allein die Orgel Schuld.

In dem Nebengemache befindet sich eine junge Dame, welche die ganze Nacht auf dem Ball zugebracht hat; sie ist erst mit Anbruch des Tages, vom Tanzen, von Huldigungen und Freuden ermüdet, nach Hause gekommen, dann mußte sie sich noch entkleiden, ihre Nachtfrisur machen lassen, und sagte dabei zu ihrer Kammerzofe: »Sorgen Sie doch dafür, daß morgen früh Alles ruhig ist, nähern Sie sich ja nicht meinem Zimmer, denn ich will lange schlafen, um mich von den Anstrengungen der Nacht zu erholen; Sie dürfen nicht kommen, ehe ich läute.«

Die Kammerjungfer verspricht getreulich, kein Geräusch zu machen und Niemand zu ihrer Gebieterin zu lassen.

Die junge Dame legt sich, den Schlaf vom Himmel erflehend, zu Bette. Aber der Schlaf erfolgt nach einer Nacht, wo der Geist eben so sehr aufgeregt wurde, als der Körper, nicht so leicht, unwillkürlich beschäftigt man sich noch mit der Erinnerung an die Complimente und Erklärungen, die man Einem auf dem Balle gemacht, mit den Artigkeiten, die man Einem gesagt hat; die Ruhe läßt lange auf sich warten.

Endlich gegen neun oder zehn Uhr Morgens fängt man an, sich eines erquicklichen Schlafes zu erfreuen, nun kommt aber eine Orgel in euer Haus, die zuweilen noch von einer Clarinette und einem Leierkasten begleitet ist, und die wandernden Musikanten fangen an den Tataren-Marsch aus Lodoiska zu spielen, und plärren dazu aus Leibeskräften:

»Auf, meine Schönen, folget uns!
Denn wisset, die Tataren,
Sie handeln als Barbaren
An ihren Feinden nur!«

Die junge Dame fährt aus dem Schlafe auf; anfangs glaubt sie sich noch auf dem Balle, bald erwacht sie aber von ihrer Täuschung und läutet heftig ihrer Kammerjungfer mit dem Ausrufe: »Mein Gott! was ist denn das für ein Lärm? Das ist abscheulich, schändlich! ... und ich bin der Ruhe so bedürftig.«

Die Kammerjungfer kommt nicht auf den ersten Schall der Glocke, denn da sie auf den Schlaf ihrer Herrschaft gerechnet, hatte sie einen Tambour der Nationalgarde zum Frühstück eingeladen, dem sie zuweilen auf der Treppe begegnete, weil der Feldwebel der Compagnie im Hause wohnte.

Aber Madame läutet, daß die Klingelschnur fast abreißt, und die Kammerjungfer verläßt erschrocken ihre Eier, ihren Tambour und ihre Tunkschnitten.

»Wie! es ist noch nicht einmal zehn Uhr,« brummt sie vor sich hin, »und Madame läutet; sie wollte doch den ganzen Tag schlafen ... das ist wirklich lächerlich! ... Ich lade, in der Meinung, ungestört zu sein, Jemand zum Essen ein, und jetzt läßt sie mir keine Ruhe! ich bleibe nicht in diesem Hause, wenn man mir keine Minute der Freude gönnt.«

Endlich entschließt sich die Kammerjungfer, sich zu ihrer Herrin zu begeben, die sie höchst entrüstet antrifft.

»Was soll das heißen, Mamselle!« schreit sie, »leisten Sie mir auf diese Weise Gehorsam?«

Die Zofe geräth in Bestürzung; sie glaubt, ihre Herrin wisse, daß sie den Tambour zum Frühstück eingeladen habe; sie stammelt eine Entschuldigung. Zum Glück läßt ihr Madame keine Zeit, zu vollenden, sondern fährt fort: »Erstens will ich wissen, warum sie mich eine Stunde läuten lassen und nicht sogleich kommen?«

»Madame, ich habe gerade meinen Zeisig mit Eigelb gefüttert.«

»Ihr Zeisig ist, glaube ich, alt genug, um allein zu fressen; überdies glaube ich vorzugehen, wenn ich läute, er hätte schon so lange warten können. Sagen Sie mir aber endlich, was dieses Geräusch, dieser Lärm bedeutet, der mich aufgeweckt hat, während ich so sehr der Ruhe bedürftig bin?«

»Ein Lärm?«

»Wie, Mamselle, hören Sie denn nichts? In diesem Augenblick schreit man ja wieder »›Tataren! Barbaren!‹« ... O, es sind freilich Barbaren, Ungeheuer sind es!«

»Ach, Madame, es ist eine Orgel im Hofe!«

»Nun, Mamselle, konnten Sie die Orgel nicht fortschicken, oder den Leuten einiges Geld geben, damit sie mich in Ruhe schlafen lassen?«

»Mein Gott, Madame, ich hatte sie nicht gehört; ich war ganz mit meinem Zeisig und seiner Tunkschnitte beschäftigt.«

»Mamselle, ich werde Ihnen Ihren Zeisig abnehmen, denn ich bin nicht gesonnen, wegen Ihres Gevögels meinen Dienst vernachlässigen zu lassen. Schicken Sie diese barbarische Musik fort, bezahlen Sie dieselbe, damit sie stille ist und ich endlich schlafen kann.«

Die Kammerjungfer vollzieht den Befehl ihrer Herrin, wirft den Künstlern einiges Geld hinunter, bittet sie, fortzugehen, und überläßt sich nun ganz dem Spiel mit ihrem lockern Zeisig.

In einiger Entfernung gibt die Orgel Veranlassung zu einer Scene anderer Art.

Eine Mutter hat erfahren, daß ihre Tochter heimlich die Briefe eines Handelscommis angenommen hat, der beständig an der Straßenecke auf sie wartet und sie immer mit Blumensträußchen beschenkt.

Die Mutter, welche aus Erfahrung weiß, welcher Gefahr eine Jungfrau ausgesetzt ist, die Blumensträuße und Liebesbriefe annimmt, hat sich fest vorgenommen, ihrer Tochter eine tüchtige Predigt zu halten. Sie läßt sie auf ihr Zimmer kommen und sagt dort in einem Tone, der die Kleine fast vor Schrecken erstarren macht, zu derselben: »Wie, Fräulein, Sie nehmen hinter meinem Rücken Briefe an! Wissen Sie, wohin das führt? Wissen Sie, was ein Mann von einem Frauenzimmer denkt, welches schwach genug ist, Briefe anzunehmen?«

Da kommt eine Orgel und spielt:

»Liebes Mädchen komm', Du bist die rechte.«

Die Mutter macht eine Bewegung der Ungeduld, schweigt einige Augenblicke, und fährt dann fort: »Und was verlangt der Freche, der es wagt, an Sie zu schreiben, in seinem Briefe?«

Die Orgel spielt:

»Gib mir Dein Bild und eine Flechte!«

Das junge Mädchen beißt sich in die Lippen und wendet sich ab.

Die Mutter bewaffnet sich mit ihrem ganzen Zorne und schreit: »Fräulein, Sie hätten dem Unverschämten nie Gehör geben und ihm das erste Mal, als er sich erlaubte, mit Ihnen zu sprechen, antworten sollen ...«

Die Orgel spielt:

»Was braucht's das Bild, nimm selbst mich hin,
Nach Dir steht ja schon lang mein Sinn.«

Jetzt kann es das junge Mädchen nicht mehr länger aushalten; sie bricht in ein schallendes Gelächter aus, die Mutter muß ebenfalls lachen, und auf diese Weise ist eine Orgel an der Unterbrechung einer Sittenpredigt Schuld.

Und wie vielen andern Ereignissen, die uns nicht alle bekannt sind, ist sie schon entgegengetreten; wie vielerlei Umstände hat diese unselige Musik, die unsern Ohren nie gelegen kommt, schon herbeigeführt.

Ein kranker Greis ist entschlossen, sein Testament zu Gunsten eines Neffen zu machen, dem er viele Tollheiten verziehen hat. Die Orgel spielt einen Contretanz von Musard; das erinnert den Alten daran, daß sein Neffe den Cancan auf eine sehr unsittliche Weise tanzte; er besinnt sich eines Andern und vermacht sein Vermögen einem andern Gliede seiner Familie, das nie tanzt.

Man setzt einer alten Dame dreißig Blutegel an einen Ort, den ich euch schicklicherweise nicht nennen kann, was eben keine angenehmen Empfindungen in ihr erweckt, dabei hört sie während ber ganzen Zeit eine Orgel in ihrem Hofe die Melodie spielen:

»Saug' ich der Liebe Honig aus Deinem süßen Mund,
Dann wird mein krankes Herz bald wiederum gesund.«

Während ein Zahnarzt einem Herrn aus Versehen einen gesunden Zahn statt eines kranken mit aller Gewalt ausreißt, accompagnirt die Orgel diese Operation mit:

»Hier in der Meinen sich'rem Schooß,
Leb ich geschützt und sorgenlos.«

Ein Mann schlägt seine Frau nach der Melodie:

»Es lebe die Harmonie der Ehe!
Sie lindert auch selbst das größte Wehe.«

Doch es sei genug, wir haben hinreichend bewiesen, daß die Drehorgeln für die meisten Bewohner nichts weniger als angenehm sind.

In vielen Häusern sind die Portiers angewiesen, ihnen den Eintritt in den Hof zu verweigern; aber dann pflanzt sich diese grausame Musik vor euren Fenstern auf; sie spielt auf der Straße, auf den Plätzen, auf dem Boulevard, und ihr habt kein Recht, sie daran zu hindern; Alles, was ihr thun könnt und was gewöhnlich auch geschieht, ist, daß ihr sie bezahlt, damit sie sich entferne.

Seit einigen Jahren hat die Zahl der wandernden Orgelspieler in Paris sehr abgenommen. Die Masse der öffentlichen Musiksäle, in denen Concerte gehalten werden, mußte den Straßenmusikanten nothwendig Eintrag thun.

Man behauptet, daß die Drehorgeln abgehen werden ... möchten sie doch nie wiederkehren.

*

Es gibt jedoch eine Orgel, die wir nicht in die allgemeine Verbannung mit einschließen, nämlich die, welche die Zauberlaterne begleitet, wenn ihr an einem kalten Winterabend eine heisere Stimme auf der Straße rufen hört: »Die Zauberlaterne! Das Wunderwerk!«

Dann blicken die Kinder zu ihren Eltern hinauf, falten ihre kleinen Händchen zusammen und bitten: »O? Vater, Mutter, laßt uns das Wunderwerk sehen.«

Gebt ihr den Wünschen eurer Kinder nach, so laßt ihr durch eure Bedienung das vorbeiziehende Schauspiel heraufrufen und seht nach einer Weile zwei Männer, gewöhnlich Auvergnaten, die wie Wasserträger gekleidet sind, in euer Zimmer treten. Der Eine trägt eine Orgel, der Andere eine Zauberlaterne auf dem Rücken.

Eure Kinder stellen sich in einen Halbkreis, und ihr euch hinter sie.

Einer der Auvergnaten setzt seine Zauberlaterne auf einen Tisch, richtet Alles zur Vorstellung, man löscht alle Lichter im Gemache aus, und das Schauspiel nimmt seinen Anfang.

Der Auvergnate schiebt der Reihe nach die Gläser in seine Laterne und erklärt die Bilder mit einer so eintönigen, gedehnten Stimme, daß euch gleich das Gähnen kommt; und die in den Zwischenakten spielende Orgel vermehrt eure angenehme Unterhaltung noch.

Ihr bekommt außerdem immer dieselben Gegenstände zu sehen: die Frau Sonne, der Herr Mond und die Abenteuer des kleinen Däumlings werden euch stets gezeigt.

Die Zauberlaterne erneuert ihr Repertorium nie.

Aber eure Kinder sind glücklich; ihr seht, wie die kleinen Köpfchen ganz Auge, ganz Ohr sind, nur zuweilen einen Ausruf der Freude und der Verwunderung ausstoßen, und das Vergnügen, welches eure Kinder empfinden, verleiht euch den Muth, dem Schauspiel der Zauberlaterne mit anzuwohnen.


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