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Vierundzwanzigstes Kapitel

Zusammenfassung

In Zahlen ausgedrückt, hofft die Sowjetunion nach Abschluß des Fünfjahresplans als Staat in industrieller, wirtschaftlicher und militärischer Beziehung doppelt so mächtig dazustehen wie 1928. Soweit man nach der heutigen Lage zu urteilen vermag, könnte dieses Ziel erreicht werden, falls nicht Krieg oder verhängnisvolle Mißernte oder ein internationaler Boykott die Zufuhr ausländischer Maschinen und Rohmaterialien, die für die Durchführung des Plans lebenswichtig sind, hemmen.

Es ist wichtig, zu betonen, daß der Staat plötzlich mächtiger werden soll, nicht daß die Bevölkerung deshalb schon besser ernährt, gekleidet und glücklicher werden wird. Der Staat kommt zuerst, das weitere wird wahrscheinlich folgen. Macht für den Staat ist unter dem Fünfjahresplan zum Selbstzweck geworden. Unter diesem Plan ist die Sowjetunion zur nationalen Verkörperung von Nietzsches: »Wille zur Macht« geworden.

Schlecht ernährt, schlecht gekleidet, in schlechten Wohnungen lebend und zum Teil terrorisiert, ist die Lage der Bevölkerung elend, aber noch nicht verzweifelt. Die Regierung hat drei Vorteile auf ihrer Seite: erstens, daß der Verzweiflungspunkt in Rußland tiefer liegt als in irgendeinem Lande der westlichen Welt; zweitens, daß die Regierung über unvergleichliche Mittel verfügt, zu bestimmen, wie nahe die Bevölkerung am Rande der Verzweiflung steht; und drittens, daß sie die Möglichkeit besitzt, beim Nahen des Verzweiflungspunktes den Plan eine Kleinigkeit zu verlangsamen und dem Volke einen Knochen zuzuwerfen.

 

Eifer und Terror unter dem Plan

Aktive menschliche Bilanzposten der Regierung sind: die kommunistische Partei mit 1 000 000 Mitgliedern, die Jugend des Landes, die Rote Armee und die arbeitende Klasse. Die Zugehörigkeit zu diesen Klassen und Organisationen greift übereinander, aber die Gesamtzahl beträgt wahrscheinlich 30 000 000. Die Feinde im Lande selbst mögen ein paar oder viele Millionen zählen, aber sie sind zu sehr terrorisiert, um als wesentliche Faktoren in Betracht zu kommen. Die Majorität der Bevölkerung verhält sich passiv, geduldig.

Eifer und Terror sind die beiden psychologischen Instrumente zur Verwirklichung des Planes. Eifer auf seiten der »Gläubigen«, Terror auf Seiten der »Ungläubigen«. Terror ist zu einer ständigen Institution geworden. Anscheinend besteht nicht die leiseste Neigung, ihn aufzugeben oder zu mildern. Er herrscht heute in schärferem Maße als vor drei Jahren. Einer der imponierendsten Neubauten in Moskau ist das neue Hauptquartier der G. P. U., nachdem das alte Gebäude am Lubyanka-Platz, trotz seiner Größe, nicht mehr ausreichte. Reste der Bourgeoisie, die wohlhabenderen, selbständigen Bauern, alle Angehörigen geistiger Berufe, außer der jüngeren Klasse von Sowjetintellektuellen, leben in einem ständigen Zustand der Furcht, die zwischen einer vagen, aber beharrlichen Ängstlichkeit und tatsächlicher Panik schwankt, sobald die G. P. U. sich ihnen naht.

 

G. P. U. schlägt rasch zu

Sie schlägt sehr rasch zu. Während ich durch Rußland reiste, wurden 48 Menschen gleichzeitig erschossen. Sie wurden gegenrevolutionärer Absichten, einer Behinderung der Nahrungsmittelversorgung, beschuldigt. Allein in den Monaten August und September 1930 wurden in Moskau nach Angabe der »Krasnaya Gazetta« 3000 Personen wegen Spekulation verhaftet. Während der letzten paar Monate haben die Streifzüge gegen die Intelligenz sichtbar deren Reihen gelichtet. Tatsächlich wurde der gesamte Stab des Metchnikoff-Instituts verhaftet, weil angeblich die Impfung mit aus dem Institut bezogenem Serum bei einer Kompagnie der Roten Armee eine Hautentzündung erzeugte.

Professor Kondratief, ein Agronom von Weltruf, der Begründer des Forschungsinstitutes für Landwirtschaft, nebst 25 anderen, wurde verhaftet. Sein Institut hatte Rykoff Material für einen Angriff auf das Tempo des Planes geliefert. Fast der gesamte Stab des bakteriologischen Institutes von Timirasieff wurde ins Gefängnis gesteckt. Zahlreiche der wissenschaftlichen Direktoren der chemischen Industrie sind verhaftet gewesen. Eine Schar beim Dnjeprostroy beschäftigte Sowjetingenieure wurde eingesperrt. Die Liste ließe sich beliebig vermehren. Das schlimmste Verbrechen in der Sowjetunion ist heute ein Zweifel an dem Plan. Skeptizismus gilt im bolschewistischen Rußland als etwas Schlimmeres als Gewalttaten.

 

Gerichtsverhandlungen sind geheim

Die Methoden des Terrors erhöhen dessen schreckliche Wirkungen. Alle Verhaftungen werden zwischen Mitternacht und Morgengrauen vorgenommen. Politische Verbrecher, und die überwiegende Mehrzahl aller Gefangenen rechnet zu dieser Kategorie, dürfen sich weder einen Anwalt nehmen, noch mit Freunden oder Verwandten in irgendeiner Form verkehren. Frauen, Mütter erfahren nur aus der Zeitung, daß ihre Gatten, Söhne erschossen worden sind. Den Angeklagten wird nicht gesagt, wessen man sie beschuldigt. Nicht einmal ihre Richter bekommen sie zu sehen. Die meisten Gefangenen werden ohne Urteil, ohne Zeugenvernehmung, ohne eine Möglichkeit, sich zu verteidigen, von dem Kollegium der G. P. U. verurteilt. Ihr Geständnis wird ihnen durch die spitzfindigsten psychischen Qualen erpreßt. Ihre Hinrichtung findet geheim statt, ihre Begräbnisstätte bleibt unbekannt. Die G. P. U. duldet keine Märtyrer. Kein Held kann vor Gericht aufspringen und freudig sein Todesurteil entgegennehmen. Die Tribüne der Angeklagten ist der G. P. U.-Keller, sein Auditorium sind die Henker, und das einzige Echo seiner Worte sind die Schüsse, die diese Worte zum Verstummen bringen.

Dieser Terror erweist sich in dem Sinne als wirksam, als er es außerordentlich unwahrscheinlich gemacht hat, daß, falls sich nicht die Lebensbedingungen noch wesentlich verschlechtern, ein Aufruhr entstehen könnte. Die G. P. U. ist jedoch nicht nur ein Instrument der Polizeimacht, sondern eine Spionageagentur ersten Ranges. Das Netz dieses extensivsten und intensivsten Spionagesystems in der Geschichte eines Landes erstreckt sich fast bis in den Kreis jeder einzelnen Familie in Rußland. In der Vergangenheit stürzte Despotismus, weil er ohne demokratische Vertretung nicht den Gefahrpunkt des Volksempfindens zu berechnen vermochte. Die Sowjetregierung besitzt einen Spionagedienst, der völlig ausreicht, sie rechtzeitig zu warnen.

 

Hunger ist etwas Großes

Die Regierung hat die Absicht, das Tempo des Fünfjahresplans bis zu zwei Grad an den Verzweiflungspunkt heraufzutreiben. Sobald der Zeiger den Gefahrpunkt berührt, ist die Regierung jederzeit in der Lage, durch Einschränkung des Exports tausende von Tonnen Verbrauchswaren zu jedem beliebigen Preise auf den Markt zu werfen und durch Import weiter den Zufluß an Verbrauchswaren zu vergrößern. Dies würde eine Revision des Plans nach unten bedingen. Mehr brauchte es nicht zu bedingen.

Das erste Urteil brandmarkt den Fünfjahresplan sofort als einen Fehlschlag. Das Aussehen der Bevölkerung scheint ein genügender Beweis. Aber der Fünfjahresplan ist ein riesenhafter Zwangssparplan für die gesamte Nation, und jedes Pfund Essen, jeder Meter Stoff, jedes Paar Schuhe, das der Bevölkerung versagt wird, repräsentiert dem Werte nach genau so viele Dollar für Maschinen für die neuen Fabriken des Plans. Der Plan ist eine Methode für Rußland, sich selbst »großzuhungern«.

Quantitativ zeigen nach Angaben des Obersten Wirtschaftsrats die Resultate für das Jahr 1929/30, daß sich die Produktion sämtlicher Industrien gegen 1928/29 um 24,2 Prozent gehoben hat. Diese Steigerung blieb 7,1 Prozent hinter den sogenannten »Kontrollziffern« zurück, welche den »Fünfjahresplan in vier Jahren« repräsentieren. Der ursprüngliche Fünfjahresplan verlangte 1929/30 nur eine Steigerung um 21,4 Prozent, so daß der tatsächliche Erfolg 2,8 Prozent besser war, als der Plan es vorsah. Es sei bemerkt, daß fast alle Berichte in der Sowjetpresse den Fehlschlag in der Erreichung der »Kontrollziffern« betonen und auf diese Weise leicht zu einer falschen Vorstellung über die tatsächlichen Ergebnisse verleiten.

 

Produktionsaufschwung

Die Grundindustrie wuchs um 37,7 Prozent, während die Verbrauchswarenindustrie nur um 11,1 Prozent zunahm. Die Gesamtindustrie war doppelt so groß wie 1913. Sämtliche Zweige der Industrie steigerten ihre Ausbeute, und selbst die am schärfsten kritisierte Industrie, wie der Kohlenbergbau, wies eine Zunahme um 17,6 Prozent auf. Kostspielig in Papierrubeln war die Tatsache, daß die Produktionskosten, statt wie der Plan das voraussah, um 11,8 Prozent zu sinken, nur um 7,1 Prozent herabgedrückt wurden, während sich die Produktivität der Arbeiter nur um 13,5 Prozent gegenüber den planmäßig vorgesehenen 25,3 Prozent steigerte.

Die Qualität der Produktion ist außerordentlich minderwertig, der Ausschuß beträgt in manchen Industrien bis zu 30 Prozent. Trotzdem ist die jährliche Zunahme quantitativ so bedeutend, daß ein hoher Prozentsatz der Gesamtproduktion als mangelhaft gestrichen werden könnte und dennoch eine Mengenzunahme bliebe, die alles überstiege, was Rußland je vorher erzeugt hat. In der Landwirtschaft ist die Kollektivierung der Güter wieder aufgenommen worden und, nach den offiziellen Zahlenangaben sind in diesem Jahre 25 Prozent aller Bauerngüter kollektiviert worden. 53 Prozent des gesamten, auf den Markt gelangten Getreides wird künftig von den Kollektiven und den Staatsgütern bezogen werden. Der Arbeiterwechsel beläuft sich in sämtlichen Industrien auf 40 Prozent, aber die Tatsache, daß es Arbeitslosigkeit überhaupt nicht mehr gibt, bietet für den Materialverlust und den starken Arbeiterwechsel reichlichen Ausgleich.

 

Der Plan schreitet dem Ziel entgegen

Wenn man die Bilanz des Fünfjahresplans am Ende des zweiten Jahres zieht, dann scheinen die Aktiva die Passiva in einem solchen Maße zu übersteigen, daß man das ursprüngliche, auf dem elenden Aussehen der Bevölkerung basierende Urteil revidieren muß. Bis jetzt hat der Plan sein ursprüngliches Ziel, den Sowjetstaat zu stärken; in hohem Maße gefördert.

Möglicherweise muß das beängstigende Tempo des Plans verlangsamt werden. Joseph Stalins Methode in der Vergangenheit war, seine Opponenten politisch zu vernichten und dann ihre zweckmäßigen Vorschläge sich zunutze zu machen. Soeben hat er Alexis Rykoff, den Letzten der Rechtsopposition, der gegen das gegenwärtige Tempo der Industrialisierung als übertrieben, schädlich und unerträglich protestierte, ausgeschaltet. Sobald es sich, ohne der Opposition eine Verbeugung zu machen, tun läßt, wird der Plan wahrscheinlich etwas verlangsamt werden.

Von innen befürchtet die Regierung keine ernsten Hindernisse. Die äußere Gefahr betrachtet sie mit wachsender Sorge. Die Gefahr eines internationalen Boykotts gegen den Sowjethandel scheint dem Kreml seit den Aktionen Frankreichs, Rumäniens, Ungarns, Belgiens, Kanadas und Bulgariens gegen Sowjetdumping in drohenderer Nähe zu stehen, besonders seit auch in den Vereinigten Staaten eine Protestbewegung eingesetzt hat. Als Gegengewicht gegen diese Drohung rechnet Moskau auf den sogenannten »gesunden Geschäftssinn« der kapitalistischen Länder, die an dem Sowjethandel unmittelbar profitieren, eine Eigenschaft, welche die marxistischen Denker im geheimen als »kapitalistische Habgier« bezeichnen.

 

»Weltrevolution« wartet

Für die äußere Welt bedeutet es einen geringen Unterschied, ob der Plan in vier, fünf oder sechs Jahren vollendet wird. Seine Bedeutung für die Wirtschaft und für die Weltrevolution bleibt die gleiche. Die Politik der Weltrevolution seitens der kommunistischen Partei hat einen Wandel erlebt. Ursprünglich hoffte man, das Proletariat der »bourgeoisen« Länder würde sich empören, und es war selbstverständlich, daß diese Bewegung von Seiten Moskaus Unterstützung fände. Heute besteht die Absicht, erst eine mächtige Sowjetunion aufzubauen. Dann, aber auch erst dann, dann freilich sicher wird die Weltrevolution einen festen Platz in dem »Fünfzehnjahresplan« mit den Hilfsmitteln eines industrialisierten Staates von 150 000 000 Einwohnern als Rückenstütze finden. Das ist der Traum der Führer der kommunistischen Internationale, die für den Augenblick zum Vegetieren verurteilt ist.

Für Amerika liegt diese Gefahr ferner als für Europa; für uns bedeutet der Erfolg des Fünfjahresplans unmittelbar zweierlei:

Erstens, das Auftreten eines Rivalen auf dem Weltmarkt, der in dem Export von Rohmaterialien mächtig und dank seines Industrie- und Handelsmonopols in der Lage ist, sein Auslandsgeschäft vorteilhafter als alle seine Rivalen zu betreiben. In dieser Beziehung gleicht die Sowjetunion einem riesenhaften Warenlager, wo in einer Abteilung oder der anderen zu dieser oder jener Zeit und aus diesem oder jenem Grunde Waren zur Verfügung stehen, die zu Preisen weit unter den Gestehungskosten losgeschlagen werden können. Gerade jetzt erzwingt der Plan ein Dumping. Aber der Sowjetaußenhandel kann auch in Zukunft der Schleuderpreise ebensowenig entraten, wie Warenhäuser auf Ausverkäufe verzichten können.

Zweitens, der Erfolg des Fünfjahresplans bedeutet die Fortdauer und eine wahrscheinliche Zunahme der Sowjetkäufe in Amerika, die seit Juli 1923 bis 1930 sich auf 518 000 000 Dollar gegenüber Verkäufen an Amerika in Höhe von 147 000 000 Dollar belaufen haben. Nach E. A. Eschba, dem Moskauer Direktor von Amtorg, dürfte sich im kommenden Jahr der amerikanisch-russische Handel auf etwa 200 000 000 Dollar stellen.

 

Die Kreditfrage

Gegenüber diesen Erwägungen muß die rein technische Frage der Kreditwürdigkeit der Sowjetunion abgewogen werden. Der Vertreter einer der großen europäischen Zentralbanken, ein ausgezeichneter Kenner des Landes, erklärte mir, er hielte die Sowjetunion in den nächsten drei bis vier Jahren für vollkommen kreditwürdig. Während der nächsten drei oder vier Jahre, meinte er, sei die Durchführung des Plans für die Sowjetunion so wichtig, daß sie bestimmt ihren Verpflichtungen nachkommen würde.

Ein anderes Verhalten wäre Selbstmord, und er traue der Sowjetregierung keine selbstmörderischen Absichten zu. Von Geldanleihen in größerem Umfange rate er ab, weil die Begeisterung, die eine solche Anleihe vermutlich erregen würde, zu unklugen Kapitalsinvestierungen in riesenhafte und unprofitable Projekte führen könnte, und weil die heutige Finanzpolitik der Regierung nur geringe Gewähr für eine angemessene Amortisierung einer langfristigen Anleihe böte.

Inzwischen denken die Menschen in Moskau an andere Dinge. Brennmaterial ist rationiert, und das gesetzliche Temperaturminimum herabgesetzt worden. Die Pförtner waren früher verpflichtet, ein Minimum von 55 Grad Fahrenheit aufrechtzuerhalten, jetzt ist das Minimum auf 48 Grad vermindert. Es wird ein kalter Winter in Moskau werden, die schlimmste Zeit des fünfjährigen Krieges für die Industrialisierung.

 


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