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Vierzehntes Kapitel

Tee-Erzeugung der Sowjetunion

Die Sowjetunion beabsichtigt, mit Hilfe des Fünfjahresplans sich vom Roheisen bis zum Tee so völlig unabhängig von ausländischen Quellen für all ihre Bedürfnisse zu machen, daß, falls eine geeinigte kapitalistische Welt 1933 den Handel mit Rußland mit einem allgemeinen Boykott belegen sollte, das Sowjetsystem nicht nur weiter zu existieren, sondern auch sein Programm der Industrialisierung und Sozialisierung durchzuführen vermöchte.

Dieser verborgenste Sinn des Fünfjahresplans wurde mir hier in Batum weit klarer als in den wichtigeren, von mir auf dieser Reise besuchten industriellen Mittelpunkten. Denn hier im Bezirke Batum befinden sich die Teeplantagen, deren gegenwärtiger Wuchs und deren geplante Ausdehnung mehr über die Politik des Planes verraten als Dutzende theoretische Bücher.

Der Weg nach dem Teebezirk von Chakwa führt durch einen der herrlichsten subtropischen Gärten. Nach wochenlangem Reisen im kahlen Norden konnte man es sich kaum vorstellen, daß diese Üppigkeit exotischer Gewächse, die sich 3 Meilen längs der warmen, klaren Gewässer des Schwarzen Meeres hinziehen, zu Rußland gehört. Schnee hatte bereits den Ural weißgefärbt, aber hier strahlte die Sonne heiß auf Bambusdickichte, Baumfarren, Kampferbäume, Zitronen- und Orangenhaine, auf Eukalyptusbäume und Palmen herab.

 

Orangenexport

Jenseits des Botanischen Gartens begannen die Teefelder, deren ordentliche Reihen dunkelblättriger Sträucher sich landeinwärts bis zu den Kämmen der niedrigen Höhen der kaukasischen Vorberge erstreckten. Eingestreut dazwischen lagen Haine japanischer Orangen, aber nicht eine einzige Frucht wird einen russischen Gaumen netzen, obwohl Rußland seit Beginn des Fünfjahresplans keine Apfelsinen kennt.

Jede einzelne Frucht der anderthalb Millionen Orangen, an sich keine sehr große Anzahl, aber genügend, um in Moskau den Appetit zu reizen, wird exportiert. Die paar tausend Dollar, die sie im Ausland erbringen, sind der Regierung wertvoller, als die vorübergehende Befriedigung, die sie der Bevölkerung gewähren könnten. Gerade umgekehrt liegt der Fall beim Tee.

Tee wird selbstverständlich nicht exportiert, denn Tee ist für Rußland eine der wichtigsten Lebensnotwendigkeiten und rangiert bei einer Bevölkerung, die nach bescheidener Schätzung im Durchschnitt pro Kopf täglich sechs Gläser Tee trinkt, an Wichtigkeit unmittelbar hinter Brot. Diese allgemeine russische Vorliebe für Tee läßt, mit anderen Ländern verglichen, aber nicht die Verbrauchszahlen pro Kopf erkennen, da Rußlands Armut die Bevölkerung zwingt, den Tee schwach zu trinken und aus wenig Blättern eine große Menge Tee herzustellen. England z. B. hatte 1925 einen Teeverbrauch von 8,82 Pfund pro Person, Australien 6,1 Pfund, Kanada 4,4 Pfund, Holland 3,8 Pfund, die Vereinigten Staaten 0,88 Pfund und der Vorkriegskonsum des europäischen Rußland war wahrscheinlich höher als der heutige Verbrauch, der nur 0,72 Pfund beträgt. Trotzdem trinken die Russen zweifellos eine größere Teemenge als jede andere der angeführten Nationen, und das Bedürfnis nach Tee ist für Rußland dringender als für andere.

 

Tee-Import geht zurück

Tee ist so lebenswichtig, daß 1928/29, dem ersten Jahr des Fünfjahresplans, als die Sowjetunion zögernd die magere Summe von 72 000 000 Rubel für Nahrungsmitteleinfuhr aufwandte, fast die Hälfte dieser Summe, nämlich 30 000 000 Rubel, für 29 564 Tonnen Tee ausgegeben wurde. Fast die gesamte Menge stammte aus China, aber 1927/28 wurden nur 22 747 Tonnen aus China importiert und 1928/29 nur noch 20 688 Tonnen.

Hier liegt der Kernpunkt der Teepolitik und der Fünfjahresplanpolitik der Sowjetunion. 1929 entstand der Zwiespalt mit China wegen der chinesischen Ostbahn in der Mandschurei. Sofort drohte die Gefahr eines allgemeinen Krieges. Der Kreml war überzeugt, daß die Gelegenheit für den befürchteten Angriff seitens der kapitalistischen Völker gekommen wäre, eines Angriffs, der vielleicht nach Ausbruch der Feindseligkeiten an der östlichen Front von allen Seiten erfolgen würde.

Obwohl die Kriegsgefahr schwand, blieben ihre Wirkungen, und an Stelle tatsächlicher militärischer Operationen glaubten die Sowjetführer seitens der kapitalistischen Mächte den Anfang einer Bewegung zur Durchführung einer wirtschaftlichen Blockade zu bemerken, die für den Fünfjahresplan kaum weniger verhängnisvoll sein würde als ein wirklicher Krieg. Sofort wurde, wie schon früher dargelegt worden ist, der Plan beschleunigt, und jede Industrie, von dem Stahlwerk in Magnetogorsk an, das seine Quote an Stahl und Eisen jährlich von 600 000 auf 2 500 000 Tonnen gesteigert hatte, bis zu den Teeplantagen Georgiens, die ihre Quoten von der bescheidenen in diesem Jahre erzeugten Menge von 600 Tonnen auf 20 000 Tonnen heben sollten, genügend, um zwei Drittel des Bedarfs zu decken, angetrieben, ihre Anstrengungen zu vervielfachen.

 

Angstneurose

Es wurde die Parole ausgegeben: »Eilt, eilt, eilt, damit wir fertig sind, ehe der Schlag niedersaust.« Jede einzelne Maschine, die in das Land hereinkommt, jede beim Import von Verbrauchsgütern ersparte und zum Import von Produktionswerkzeugen ausgegebene Kopeke erscheinen dem Kreml genau so wertvoll, wie Robinson die Äxte, Sägen, Hämmer und Nägel, die er von dem Wrack vor dessen Untergang rettete.

Denn der Kreml fürchtet, daß das Wrack untersinken wird und daß die kapitalistischen Völker im Begriff stehen, mit erstickendem Griff den kommunistischen Staat von den Hilfsquellen der bourgeoisen Welt abzuschneiden. Diese Furcht ist fast zu einer Neurose geworden, aber ob berechtigt oder nicht, verdient sie als eines der anspornendsten Motive im Hintergrund der Wirtschaftspolitik der Sowjetunion während dieser fieberhaften Jahre ernsteste Berücksichtigung. Die Sowjetregierung glaubt nicht etwa, innerhalb von fünf oder gar vier Jahren das Land vollkommen industrialisieren zu können. Sie glaubt lediglich, daß es ihr möglich sein wird, das Land innerhalb dieser Zeit mit genügend Produktionswerkzeugen zu versorgen, um weiterarbeiten und einen modernen mächtigen Industriestaat schaffen zu können, selbst wenn die Grenzen hermetisch abgesperrt werden sollten. Unterbleibt ein solches Ereignis, dann nimmt die Sowjetregierung an, daß der ausländische Handel nach 1933 in ähnlicher Weise, wie es gegenwärtig der Fall ist, sich weiter ausgestalten wird. Aber es ist nicht beabsichtigt, noch lange Jahre hindurch Verbrauchswaren zu importieren. Der beste Beweis dafür ist der Chakwa-Tee.

 

Beschleunigte Produktion

Es war geplant gewesen, die georgische Tee-Industrie in mäßig raschem Tempo zu entwickeln, aber die Ereignisse in der Mandschurei beschleunigten dieses Tempo um mehrere hundert Prozent. Der unmittelbare Feind China war die Quelle der Hauptmenge des russischen Tees. Es mußte ein Ersatz für diese Quelle geschaffen werden.

In Chakwa befindet sich eine Teeplantage und eine Teetrocknungsanlage. Zu Ende des Fünfjahresplans werden dort, sobald das im vergangenen Jahre aufgestellte Programm durchgeführt worden ist, 48 Teetrockenanlagen stehen. 48 000 000 Rubel sah der Plan für die Entwicklung der Tee-Erzeugung vor. Nach dem ostchinesischen Zwiespalt wurden 138 000 000 Rubel dafür bestimmt.

Schon jetzt wirkt sich die Stimulierung des Anbaus in einer Weise aus, daß am Schluß des zweiten Jahres des Plans die Tee-Ernte der Ernte entsprach, die als Quote für das fünfte Jahr des Planes festgesetzt worden war. Vor dem Kriege waren in Rußland 1825 Acker dem Tee-Anbau gewidmet, 1929 hat die Sowjet Verwaltung die Bodenfläche für Teeplantagen auf 16 800 Acker erhöht. Die Vorkriegsausbeute der russischen Plantagen betrug 130 Tonnen; 1927 betrug die Erzeugung 246 Tonnen, 1929: 436 Tonnen, 1930: 600 Tonnen, bis 1934 soll sie planmäßig 4800 Tonnen und bis 1939: 21 000 Tonnen erreichen. Die mandschurischen Ereignisse führten die Sowjetregierung dazu, für das Jahr 1934 die Ergebnisse in Aussicht zu nehmen, die man 1939 zu erreichen gehofft hatte, das heißt zwei Drittel des nationalen Bedarfs an Tee mit Abschluß des Fünfjahresplans zu befriedigen.

 

Circulus viciosus

Das sind gigantische Aufgaben, und sie haben zur Voraussetzung, daß in der Erreichung des Exportplans kein Aufenthalt entsteht. Denn Teetrockenanlagen erfordern gleichfalls Maschinen, und um diese Maschinen anzukaufen, muß die Sowjetregierung nicht Rubel, die im Auslande wertlos sind, sondern Waren austauschen. Das selbstgesetzte Ziel muß gegen die Notwendigkeit eines Imports geschützt werden. Aber um dieses Ziel zu erreichen, ist es vorläufig notwendig, einen ununterbrochenen Zustrom von Importartikeln im Gange zu erhalten. Und um diesen ununterbrochenen Zustrom von Importartikeln zu sichern, ist es notwendig, ohne Rücksicht darauf, was die Weltmarktpreise für die Exportwaren der Sowjetunion abwerfen mögen, einen ununterbrochenen Strom von Exportartikeln zu unterhalten. Der Zirkel läuft also wieder auf erzwungenen Export, auf Dumping hinaus, was wiederum die kapitalistischen Märkte in Erregung versetzt und die Neigung erhöht, den Sowjethandel zu boykottieren, einen Boykott, den der Fünfjahresplan zu vermeiden strebt. Die Bolschewisten sind zu den vornehmsten Proponenten wirtschaftlichen Determinismus geworden, aber nirgends bei der Entwicklung ihres Staates zeigt sich das Verhängnisvolle eines wirtschaftlichen Determinismus klarer, als in dieser kreisförmigen Aufeinanderfolge von Ursache und Wirkung.


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