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Erstes Kapitel

Der Sowjetkampf um Handelssuprematie

Die Sowjetunion ist ein Land im Kriegszustande.

Dies ist der erste und der letzte Eindruck. Es war mein erster Eindruck, als ich nach einer Abwesenheit von drei Jahren in dieses Land zurückkehrte und mein letzter Eindruck nach einer Reise von sieben Wochen zu den fernsten Vorposten des Fünfjahresplans, einer Reise von über zehntausend Meilen längs der industriellen Front vom Ural bis zum Kaukasus.

Moskau, Nishnij Nowgorod, Cheliabinsk, Ufa, Samara, Stalingrad, Gigant, Verblud, Rostof, Baku, Tiflis, Chiaturi, Batum, Yalta, Sebastopol, Dnjeprostroy, Stalina und das Donbecken sind Stützpunkte in diesem Kriege um Industrialisierung, der heute Rußland in fieberhafte Aufregung versetzt. In all diesen Plätzen fand ich in einem verschiedenen, aber stets eindrucksvollen Maße eine Atmosphäre kriegerischen Kampfes, eine Nation in Waffen, die nicht bildlich, sondern tatsächlich unter Kriegsgesetzen lebt und mit den knappen Rationen eines blockierten Staates auskommt.

Es handelt sich um einen Krieg, der, dem Plane entsprechend, im Oktober 1933 zwar nicht zu einem Abschluß, wohl aber zu einer kurzen Inventuraufnahme geführt werden soll. Dieses Jahr wird den formellen Abschluß der ersten Periode des gigantischsten, wirtschaftlichsten Problems in der Geschichte kennzeichnen, das im Oktober 1928 begann, eines Versuches, über Nacht das rückständigste Land Europas zu industrialisieren, das riesige russische Reich zu einer sich selbst versorgenden Einheit, zu einer unangreifbaren Festung des Kommunismus zu gestalten.

 

Die gesamte Nation an der Arbeit

Offiziere sind in diesem Kriege die einemilliondreihunderttausend Mitglieder der kommunistischen Partei. Soldaten sind die gesamte Bevölkerung. Die Hauptwaffe besteht aus 64 Milliarden Rubel investierten Kapitals.

Die spezifischen Ziele bestehen in einer Verdoppelung der Öl-, Kohlen- und Stahlproduktion, in einer Verdreifachung der Metallerzeugung, in einer Vervierfachung der Maschinenproduktion – kurz, zum mindesten in der Verdoppelung der gesamten Produktion sämtlicher Industrien und in der Sozialisierung der gesamten Landwirtschaft.

Gleichgültig, ob das Ergebnis ein Erfolg, ein Teilerfolg oder ein Fehlschlag sein wird, auf jeden Fall wird die Welt in Erkenntnis der Folgen die Ergebnisse dieses grandiosen Plans mit ängstlichem Interesse verfolgen. Heute sind zwei Jahre des Fünfjahreskrieges zur Industrialisierung verstrichen, und die Sowjetunion steht mitten in ihrem ungestümen Bemühen, ihres jüngst angenommenen kühnen Bestrebens, den Plan in vier statt in fünf Jahren zu verwirklichen.

Die gesamte Abteilung der staatlichen Planwirtschaftskommission arbeitet bereits an einem Fünfzehnjahresplan, der den gegenwärtigen ablösen soll, denn der Schlachtruf lautet nicht nur, »die führenden kapitalistischen Nationen einholen«, sondern »überholen«.

Die Zeit ist noch nicht reif, um sich um den Fünfzehnjahresplan zu kümmern oder zu sorgen. Aber heute, nach zwei Jahren des Fünfjahresplans, ist vielleicht der günstigste Zeitpunkt für eine Würdigung des erzielten Fortschrittes, für eine Würdigung, die gleichzeitig Licht auf das gesamte komplizierte Problem werfen soll, das sich in Verbindung mit der Ausführung des Plans erhoben hat, zum Erstaunen und zur Beunruhigung der äußeren Welt.

 

Arbeitet der Plan erfolgreich?

Dieser auf Beobachtung beruhende Bericht wird auf zahlreiche Fragen seine eigene Antwort erteilen. Hat der Plan in einem Maße Erfolg, daß die Bezahlung der der Sowjetunion gewährten Kredite gesichert erscheint? Hat er in einem solchen Maße Erfolg, daß die Wahrscheinlichkeit besteht, daß die Sowjetunion zu einem gefährlichen Konkurrenten wird? Ist die Sowjetregierung immer noch Herrin des Plans, oder beherrscht der Plan die Sowjetregierung? In welchem Ausmaß ist der Plan imstande gewesen, die auswärtige Handelspolitik der Sowjetunion zu beeinflussen, und ist Dumping ein integrierender Bestandteil ihrer Politik? Welche Rolle spielt Zwangsarbeit? Wie verhält es sich mit den Kosten? Wie nimmt die Bevölkerung die Entbehrungen auf, und wie schwer sind dieselben?

Zur Beantwortung dieser und eines Dutzends anderer sich aufdrängender Fragen hat meine soeben vollendete Rekognoszierung in den hauptsächlichsten Stützpunkten einen Vorrat an Augenzeugenmaterial geliefert, das zum mindesten den Vorzug besitzt, in bezug auf die hauptsächlich das Denken der Außenwelt beherrschenden Streitfragen frisch und unmittelbar zu sein. Sie liefert den ersten Überblick über jene Reihe größter industrieller Unternehmungen auf Grund des Planes, die vorher noch nie von einem ausländischen Korrespondenten besucht worden sind. Sie liefert einen Querschnitt nicht nur durch das vertraute Moskau, sondern durch das gesamte europäische Rußland und den wichtigsten Teil Asiens. Endlich liefert sie Zahlenangaben über den Punkt, der in letzter Zeit am stärksten die »bürgerliche« Welt erregt hat – über das Problem des Dumpings seitens der Sowjets.

Nach der knappsten Definition bedeutet Dumping die Ausfuhr großer Warenmengen unter dem Herstellungspreis. Stets war es leicht, die Anklage des Dumpings zu erheben. Jeder einheimische Fabrikant ist geneigt in diesen Ruf auszubrechen, sobald ein ausländischer Konkurrent seine Preise unterbietet. Aber es ist stets schwierig gewesen, die Tatsache des Dumpings sicher festzustellen, weil zuverlässige Informationen über die Produktionskosten weder in den Berichten der Handelskammer, noch in den jährlichen Gesellschaftsberichten oder in den Handelsstatistiken der Sowjets enthalten sind.

Dennoch lieferten die zurückzulegenden Meilenzahlen, Nachfragen an Ort und Stelle, persönliche Besuche der Produktionsplätze interessante Hinweise auf die Gestehungskosten bestimmter Sowjetwaren.

 

Gestehungskosten übersteigen Verkaufspreis

An Ort und Stelle gesammelte Informationen beweisen, daß in bestimmten untersuchten Fällen auf Grund der üblichen Abschätzungsnorm, wenn man den Rubel zu Pari rechnet, die Produktions- und Verteilungskosten der Sowjets für Weizen, Roggen, Anthrazit und Öl höher sind als die Marktpreise, zu denen sie verkauft werden müssen.

Die Sowjetbehörden in der Hauptstadt Moskau leugnen diese Tatsache. Auf dem Lande und an der Front haben die Sowjetdirektoren von Fabriken, Bergwerken und Gütern der New York Evening Post Angaben gemacht, die weitgehend diese Behauptung bestätigen. Es handelt sich nicht um unbestimmte, verallgemeinerte Angaben, sondern um genaue Zahlen pro Tonne Kohle, pro Tonne Öl, pro Scheffel Weizen und Roggen, sowie um Rubel in Bahnmeilen und in Seefracht. Die nämlichen Informationen entlasten die Sowjetunion von dem Vorwurfe eines Dumpings beim Mangan, wenigsten in ihren Verkäufen an die Vereinigten Staaten.

Soweit die Tatsachen. Was sie zu bedeuten haben, auf welche Weise sie gesammelt wurden, wozu sie die Sowjetunion und die Außenwelt führen werden und in welchem Maße die aus diesen Tatsachen gezogenen Folgerungen durch den Faktor der Unbeständigkeit des Sowjetgeldes modifiziert werden müssen, sind Fragen, die an ihrer Stelle erörtert werden sollen. Zunächst einmal einen Überblick, was der Plan bis heute für oder gegen die Bevölkerung geleistet hat.

Dieser Überblick muß mit Moskau anheben, falls er dort auch endet, ist er irreführend. Diese Stadt wird von 2 200 000 Menschen bewohnt, unter denen mindestens 2 000 000 abweichende Anschauungen über den Fünfjahresplan herrschen. Die 200 000 Moskauer Kommunisten sind gegenwärtig von erstaunlicher Einmütigkeit bezüglich aller seiner Phasen. Falls sie eine abweichende Anschauung hegen, so doch nur nachts unter ihrer Bettdecke. In dieser Beziehung, wie über jedes andere russische Thema, gehen die Gefühlswogen zu hoch, als daß sich Objektivität Gehör verschaffen könnte, und jeder Beobachter kann überzeugt sein, daß seine Beobachtungen in dem einen oder dem anderen Lager als irreführend oder gefährlich gebrandmarkt werden. Dieses Risiko muß man bei der Erforschung Rußlands unter dem Fünfjahresplan auf sich nehmen.

 

Ein Feinschmeckermenu

Meine Einreise nach Sowjetrußland war schwerlich typisch für ein Land, in dem die Nahrungsmittel oder deren Mangel das Hauptgesprächsthema bilden. Ich gratulierte mir gerade, daß es mir gelungen war, einen Sack mit hundert Pfund deutscher Konserven glücklich durchgeschmuggelt zu haben, als ich eine Einladung zum Mittagessen erhielt. Voller Bangen sah ich meiner ersten Mahlzeit auf russischem Boden entgegen.

Auf der Speisekarte stand Kaviar von der besten Qualität, großkörniger, grauer Mallasol, mehrere Arten geräucherter Flußfische, die in früheren Zeiten internationale Gourmets nach Moskau zu locken pflegten, eine außerordentlich schmackhafte Sahnensuppe mit Piroggen, leicht bekömmliche, mit gehacktem Fleisch gefüllte Pasteten, drei verschiedene Sorten gebratenen Geflügels und Wildbrets, junge Hähnchen, Fasanen, eine seltene, Tsesarka genannte Geflügelart, die an Taube erinnerte, Wassermelonen, Birnen, eingemachte Stachelbeeren, Chaudeau, Käse und eine riesige Gardiniere mit kostbaren Früchten.

Der Koch war der frühere Küchenchef des Großfürsten Nikolai Nikolajewitsch, des ehemaligen Höchstkommandierenden der kaiserlich russischen Armee. Das Essen fand in einem Sonderwagen statt. Die Gastgeber waren Oberst und Mrs. Hugh Cooper aus New York. Als erster beratender Ingenieur des geplanten 100-Millionen-Dollar elektrischen Kraftwerkprojekts der Sowjetregierung unterhalb der Dnjepr-Stromschnellen und als einer der sehr wenigen Fremden, die Joseph Stalin aufrichtig schätzte, genoß Oberst Cooper gewisse Privilegien.

 

Rückseite des Gemäldes

Dies Essen war ein von Rußlands Wirklichkeit ablenkendes Zwischenspiel. Einen Vorgeschmack jener Wirklichkeit erhielt man beim Frühstück im Speisewagen. Zwei Eier, ein winziges Stückchen Butter, Zwieback und Tee, das waren Luxusgegenstände, die jemand allzuwenig schätzte, der nicht ahnte, daß diese Rationen 3 Rubel, etwa 1,50 Dollar, kosten sollten. Der Kellner hatte kein Wechselgeld. Anstelle von Kopeken gab er Papierfetzen heraus. Soeben erst waren wieder vier Hamster von Silbergeld in Moskau erschossen worden, aber die halsstarrigen russischen Kopeken hielten sich trotzdem verborgen. Noch immer ruhten sie zu vielen Millionen in ungezählten Bauernstrümpfen.

Kleine, verhutzelte, unreife Äpfel waren das einzige, was die Bauernfrauen an den Bahnstationen zum Kaufe anboten. Verschwunden waren die gebratenen Hähnchen, die Sandwichs mit großkörnigem Kaviar, die eingemachten Gurken, Butter, Milch, Eier, die man nicht nur in den alten Zeiten, sondern noch vor drei Jahren erhielt. Die Stationen waren kahl wie ein abgenagter Knochen.

Mit einer Verspätung von einer Stunde und fünfzehn Minuten kamen wir in Moskau an, um über dessen Pflastersteine nach dem Hotel zu rattern. Doch nein, die Pflastersteine waren verschwunden. Moskau bot einen neuen Widerspruch, der für die Ära des neuen Planes besonders charakteristisch war. Die Straßen sind kilometer- und kilometerweit mit erstklassigem Asphalt bedeckt. Allein auf der Fahrt nach dem Hotel gab es mehr asphaltierte Straßen als ganz Moskau 1927 besaß.

Aber über sie zu fahren kostet auch genau fünfmal soviel. Die Droschkentaxen haben sich verfünffacht.

Längs der Straßen stehen Dutzende neuer Gebäude mit glatter Fassade, Bürogebäude mit verglasten Fronten, riesige Mietskasernen für Arbeiter, und den Horizont, den einst die blauen und goldenen und gestirnten Kuppeln und die durchbrochenen Kreuze der unzähligen Moskauer Kirchen beherrschten, durchschneiden heute Fabrikschlote. Das Bild ist verunziert, der Reiz fängt an zu verblassen, und die Schönheit des alten Moskau schwindet dahin.

Über die gepflasterten Straßen, vorbei an den neuen Bauten, drängt sich zu Fuß eine Bevölkerung, die auf ein gut Teil mehr Verzicht geleistet hat als auf die moskowitische Romantik. Die Menschen schieben sich längs der Bürgersteige und drängen und zerstreuen sich in den Gassen. Ihr monotones Grau, die Gleichförmigkeit ihrer kein Lächeln kennenden Eile ist dieselbe wie je. Vielleicht bewegen sie sich ein wenig rascher. Eine Spur stärkerer Nervosität scheint sie anzutreiben.

»Gestatte Bürger«, wird eine Schattierung bündiger als früher ausgesprochen. Und es sind Zehntausende mehr von diesen Leuten vorhanden.

Das hat die Fünftagewoche bewirkt. Da täglich ein Fünftel der Bevölkerung feiert, ist in Moskau jeder Tag ein Feiertag für fast eine halbe Million. Diese Leute sind ständig auf den Füßen.

»An unserem Ruhetage arbeiten wir schwerer«, erklärte ein Mann, »als bei unserer Arbeit. An unseren Feiertagen müssen wir versuchen, etwas einzukaufen. Und das nutzt unsere Stiefel ab.«

 

Akute Schuhknappheit

Schuhe! Euphemistischer Ausdruck! Seit den Tagen der Hungersnot, des Bürgerkriegs und der bewaffneten Intervention sah man keine solch phantastischen Ersatzmittel für Schuhzeug, wie sie heute in dieser Stadt ganz allgemein sind. Hier geht ein Mann mit seiner Frau und zwei Kindern vorüber; alle vier tragen verschlissene Leinwandschuhe, deren Sohlen schon lange durchgelaufen und jetzt zur Aushilfe mit dicken Kartonstücken geflickt sind.

Dort gehen zwei junge Leute, beide tragen an ihren Füßen alte, abgeschnittene Gummischuhe. Ein schlecht gekleideter, bärtiger Mann hat seine Füße in Lumpen gewickelt. Ein Bauer läuft barfuß. Hefte deine Augen auf den Bürgersteig und warte, bis ein gutes Paar Schuhe vorübergeht. Hebe deine Augen. In neun von zehn Fällen handelt es sich um einen Soldaten der roten Armee oder um ein Mitglied der uniformierten Truppe der G. P. U., der politischen Staatspolizei.

Von allen vorübergehenden Frauen tragen ein Drittel zerfetzte, aber doch noch zu erkennende Frauenschuhe, die übrigen zwei Drittel dagegen irgendeinen Notbehelf. Am verbreitetsten sind Pantoffel. Die Schuhflicker machen ein phantastisches Geschäft und liefern Reparaturen nicht vor drei Monaten ab.

Zunächst macht das Schuhzeug einen übleren Eindruck als die Kleidung, aber die Kälte hat eingesetzt, und Mäntel erscheinen nur zögernd. Der Frost beißt, die Menschen zittern. Doch Krieg ist Krieg. Es heißt, jedermann sei ein Soldat, und Soldaten müßten ihre Pflicht erfüllen.

Das Versprechen der Cooperativen lautet: ein Rock für jeden Arbeiter oder Tuch für einen Rock zu irgendeiner Zeit in diesem Winter. Mißtrauisch planen einige Moskowiter, die ihre alten Anzüge verloren oder sie getragen haben, bis sie auseinanderfielen, Teppiche zuzuschneiden.

Viele besitzen keinen Teppich.

Die Straße herunter tönt der Klang von Musik. Eine Parade ist im Gang. Die Spitze der Kolonne biegt um die Ecke. Zwei Kompagnien G. P. U.-Offiziere, frisch von der Militärakademie. Ihre fleckenlosen Uniformen bestehen aus dem besten Tuch. In warmen, dicken Falten fallen ihre Mäntel bis zu den Knöcheln herab.

In diesem Kriege gibt es Truppen und Truppen.


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