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Achtzehntes Kapitel

Der Fünfjahresplan

Die Abnahme des Lebensstandards in Rußland seit 1927 macht sich nicht im ganzen Lande gleichmäßig bemerkbar, ist aber trotzdem überall sehr groß. Das würde jemand, der seit den Hungerjahren 1920/21 Rußland nicht wieder besucht hat, nicht so auffallen. Die gegenwärtigen Verhältnisse sind nicht so schlimm wie in den Unglücksjahren, aber sie erinnern stärker an 1920/21 als an die blühenden Jahre des NEP von 1925 an bis zum Beginn des Fünfjahresplans 1928.

Eine der ersten Fragen, die einem Beobachter der Leiden, die das Volk heute erduldet, auffällt, eine Frage, die um so vordringlicher sich erhebt, je länger man bei ihr verweilt und je weiter man im Lande herumkommt, ist: weshalb wurde das Tempo der Industrialisierung so stark beschleunigt, daß die Bevölkerung so viel erdulden muß.

Ohne eine Beantwortung dieser Frage erscheint die heutige Lage in Rußland sinnlos, der Plan wird zum Hohn und seine Urheber sind böswillige Menschen, die den Fluch ihrer Mitbürger verdienen. Eine Analyse der Ursachen zeigt jedoch, daß die Entbehrungen geplant waren, freilich nur in einem gewissen Grade, in einem Ausmaße, der mit dem tatsächlichen Zustande wenig Ähnlichkeit hat. Es zeigt sich, daß die Mehrzahl der Entbehrungen, die jetzt ertragen werden müssen, von bestimmten Faktoren außerhalb des Machtbereichs der Planschmiede bedingt sind, und dazu kommt wenigstens ein großer Fehler bei der Ausführung des Plans.

 

Fehler werden nicht zugegeben

Das ist keine sehr triftige Entschuldigung für die Wirtschaftstheoretiker sozialistischer Planwirtschaft gegenüber den kapitalistischen Nationalökonomen, die für einen freien Markt eintreten, aber in jedem Falle entlastet sie die Planschmiede von dem Vorwurf, sie hätten mit Vorbedacht bei der Durchführung der Industrialisierung die Bevölkerung bis auf die Knochen entblößt. Seltsamerweise ziehen es die kommunistischen Taufpaten vor, lieber diesen Vorwurf entgegenzunehmen, als einzugestehen, daß sie Fehler begangen haben oder nicht genau den Lauf der Ereignisse vorausgesehen hätten.

Bei dem raschen Tempo der Industrialisierung waren gewisse Härten für das Volk vorgesehen. Der Plan wurde aus drei Hauptgründen auf dieses Tempo eingestellt: aus wirtschaftlichen, militärischen und innerpolitischen.

Am wichtigsten waren die wirtschaftlichen Gründe. Um das zu begreifen, muß man sich die Tatsache vor Augen halten, daß die Industrialisierung der notwendige Schlußstein für die Befestigung der Diktatur des Proletariats. ist. Die Häupter dieser Diktatur, die Führer der kommunistischen Partei, erkannten, daß, solange nicht Rußland aus einem Agrarstaat in einen Industriestaat verwandelt worden ist, sie ihre Macht im besten Falle nur durch Zwangsmaßnahmen, durch Polizei und Militär aufrechtzuerhalten vermögen. Das Verhältnis zwischen den 83 Prozent Landarbeitern und den 17 Prozent Industriearbeitern umzukehren, einen großen Teil der 125 000 000 Bauern in Proletarier zu verwandeln, die heute etwa 25 000 000 betragen, war die vordringlichste Aufgabe der Selbsterhaltung für eine proletarische Regierung.

 

Der Exportzwang

Ende 1927 waren die vor der Revolution von Kapitalisten erbauten industriellen Anlagen zum größten Teil wiederhergestellt worden, und die industrielle Produktion übertraf um 19 Prozent die Vorkriegsziffern. Ohne Errichtung neuer Fabriken war ein weiterer Fortschritt zur Industrialisierung unmöglich. Maschinen und Einrichtungen für derartige neue Fabriken konnten nur aus dem Auslande bezogen, konnten nur mit fremder Währung gekauft werden, und diese ließ sich nur durch Verkauf von Exportgütern beschaffen. Der Export war jedoch in der Sowjetwirtschaft sehr ins Hintertreffen geraten.

1913 betrugen die Exporteinnahmen 1 520 000 000 Rubel, 1924/25: 559 100 000; 1925/26: 676 600 000; 1926/27: 780 200 000; 1927/28: 777 800 000. Bei diesem langsamen Fortschritt würde es ein Jahrzehnt oder länger beanspruchen, um das Ausfuhrniveau der Vorkriegszeit zu erreichen. Schuld daran trug vor allem die Tatsache, daß Korn gar nicht oder so gut wie gar nicht ausgeführt wurde. Getreide bildete 40 Prozent des Exports des Vorkriegsrußlands, aber nur den Bruchteil eines Prozents der gesamten nachrevolutionären Ausfuhr. Ende 1927 zeigte es sich deutlich, daß unter dem postrevolutionären System der Einzelwirtschaft Rußland, wollte es wieder zu einem Getreideexport gelangen, das Getreide fast ausschließlich von der Klasse der wohlhabenden Bauern beziehen müßte, die die früheren Großgrundbesitzer abgelöst hatten.

 

Bekämpfung der bäuerlichen Apathie

Die alten landwirtschaftlichen Besitzungen waren in Millionen winziger individueller Bauernhöfe aufgesplittert worden. Mehr als 90 Prozent der Bauern lebten jetzt auf Gütern, auf denen sie kaum mehr erzeugten, als sie konsumierten, teils aus Zwang, teils aus Abneigung gegen die Regierung, die sie mit so gut wie gar keinen Fertigwaren versorgte, ihr Getreide konfiszierte und ihre Kirche bekämpfte. Nur die sogenannten wohlhabenden Bauern, eine sehr relative Bezeichnung, da man die meisten dieser Leute in Westeuropa oder Amerika als arme Schlucker betrachtet hätte, erzeugten etwas für den Markt. Die Sowjetautoritäten erklärten, daß die Kulaken, deren Zahl 6 Prozent betrug, 20 Prozent des gesamten geernteten Getreides und 40 Prozent der gesamten Marktware erzeugten.

Das Aufkommen und der Wohlstand dieser vergleichsweise wohlhabenden Bauernklasse bedeutete das Heraufkommen einer neuen Klasse von Gutsbesitzern, einer neuen kapitalistischen Klasse. Trotzdem waren die Kulaken nicht in der Lage, genügend Getreide für einen nennenswerten Export zu liefern. Sie konnten gerade die Großstädte versorgen, wodurch sie wohlhabend und zu einer Bedrohung des kommunistischen Staates wurden.

Daraus ergab sich für die Regierung die Alternative, entweder noch viele Jahre hindurch ohne Getreideexport auszukommen und zu warten, bis genügend Getreide von einer heranwachsenden Klasse von Regierungsfeinden geliefert würde, oder aber energisch einzugreifen und die Landwirtschaft zu sozialisieren. Man entschloß sich zur Kollektivwirtschaft.

 

Die Sozialisierung der Bauerngüter

Sozialisierung ohne gleichzeitige Mechanisierung hätte nur geringe Bedeutung gehabt. Mechanisierung der Landwirtschaft bedeutet in erster Linie Traktoren und landwirtschaftliche Maschinen. Traktoren und landwirtschaftliche Maschinen bedeuten Fabriken zu deren Herstellung. Fabriken erfordern zu ihrer Versorgung Stahl, Stahl bedeutet Kohle, Öl und Elektrizität usw., usw. Das Ganze heißt Industrialisierung. Die Sowjet-Planschmiede waren glücklich. Alles in ihrer Rechnung stimmte restlos. Sie würden die Bauerngüter sozialisieren und eine größere Menge Getreide zum Export erhalten, um im Auslande Maschinen zur Kollektivierung der Güter zu kaufen, und im Verlauf dieses Prozesses würde das ganze Land industrialisiert werden. Dieser glückverheißende Kreis bedurfte jedoch eines Startpunktes, daher war es erforderlich, zu Anfang den Gürtel ein wenig fester zu schnallen und einen Teil der Waren, die sonst der Bevölkerung zugute gekommen wären – Lebensmittel, Textilien usw. – zu exportieren. Gleichzeitig mußte die Einfuhr dieser Verbrauchswaren eingestellt werden. Mit dem durch diese beiden Prozesse gewonnenen Geld sollten Maschinen und Rohmaterialien aus dem Auslande bezogen werden.

Dies war der erste, der wichtigste Anlaß für den Plan, dessen wirtschaftliche Grundlage. Ein gewisses, aber keineswegs anormales Maß von Entbehrungen war vorgesehen.

 

Ein umwälzender Weg wird eingeschlagen

Militärische Erwägungen spielten fast die gleiche Rolle. Lenin verkündete, und jeder Bolschewist glaubte ihm blind, daß die kapitalistischen Länder der Erde nie dulden würden, daß ein kommunistischer Staat eine ständige Blütezeit erlebe. An irgendeinem Punkt bei dem Aufstieg der Sowjetunion müßte man, davon sind die bolschewistischen Führer überzeugt, mit einer neuen, vielleicht militärischen, bestimmt wirtschaftlichen Intervention rechnen. Bei einer stetigen, aber langsamen Aufwärtsbewegung hätten die bürgerlichen Länder Überfluß an Zeit, sich von der Wirklichkeit zu überzeugen, reichliche Gelegenheit, die öffentliche Stimmung in ihren Ländern für jenen Angriff vorzubereiten, den die Sowjetführer für so unvermeidlich halten wie den Wechsel der Jahreszeiten. Dagegen würde ein plötzlicher Aufschwung die bürgerliche Welt überrumpeln, und nach wenigen Jahren stünde dann die Sowjetunion als Herrin eines industriellen Systems da, das fähig wäre, sowohl all ihre militärischen wie all ihre wirtschaftlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Das wäre das sicherste Mittel, der Gefahr zu begegnen, und was ließe sich mit solcher Machtfülle nicht dann für die Weltrevolution tun. Sie erwählten den steilen Aufstieg. Man entschloß sich, nicht nur sofort Fabriken für Traktoren, landwirtschaftliche Maschinen und alle sonstigen Erfordernisse zur Sozialisierung des Landes zu schaffen, sondern auch sogleich innerhalb von fünf Jahren den ganzen Komplex sämtlicher Rohstoffindustrien auszubauen, so daß die Sowjetunion völlig unabhängig dastünde und den gesamten Prozeß von der Eisenerzgewinnung bis zur fertigen Maschine in eigener Hand hielte.

 

Kriegsangst trieb ihr Spiel

Dieses Ziel wurde für den Zeitraum von etwa einer Dekade ins Auge gefaßt. Der ganze Fünfjahresplan wurde jedoch beschleunigt und die ursprünglich vorgesehenen Fabriken auf eine wesentlich breitere Basis gestellt, als 1929 gelegentlich des Konflikts mit China über die chinesische Ostbahn die Kriegsgefahr in drohende Nähe rückte. Damals ertönte zum erstenmal der Schlachtruf: »Fünfjahresplan in vier Jahren«, und die Bevölkerung schnallte sich den Schmachtgürtel noch ein Loch enger.

Die Sowjetführer sind von der Idee, daß das Land angegriffen werden wird, so besessen, daß bei manchen von ihnen die Neigung besteht, die elende Lage der Bevölkerung wenigstens in einer Hinsicht als ein Glück zu betrachten.

Die traurigen Verhältnisse maskieren den grundlegenden industriellen Fortschritt der Nation, wiegen die bürgerlichen Länder in ein Gefühl der Sicherheit, und ehe noch die feindliche Außenwelt die Stärke der Sowjetunion erkannt hat, wird die Nation unbesiegbar dastehen. Auf jeden Fall ist dies der hauptsächlichste Trost für die Tatsache, daß diese gleiche beklagenswerte Lage des Volkes, die zu der Annahme geführt hat, das Land eile seinem Bankerott entgegen, der Neigung, den Sowjets Kredite einzuräumen, hemmend im Wege steht.

Diesen beiden Gründen für das Tempo des Plans gesellt sich ein dritter, weniger wichtiger Grund hinzu, der aber trotzdem auch eine Rolle spielt. Man darf nicht vergessen, daß der Plan gefaßt und in Wirkung gesetzt wurde, kurz nachdem Leo Trotzki aus der Partei und aus dem Lande ausgetrieben wurde, das Zeuge seines Aufstiegs von der Stellung eines verbannten Schachspielers zum Organisator und Kommandeur der Roten Armee gewesen war. Trotzkis Zerwürfnisse mit Joseph Stalin waren in der Hauptsache persönlicher Natur. Der vorzügliche jüdische Heerführer unterlag, weil der schlaue georgische Parteimann die politische Maschine geschickter zu bedienen verstand.

Aber Trotzki besaß zahlreiche Freunde; seine Ausstoßung und Verbannung hätten fast einen gewaltsamen Aufruhr in der Partei entflammt, hätten fast die russische Revolution auf den Weg der französischen getrieben. Trotzki war der Vorkämpfer eines radikalen Kurses. Solange Trotzki auf der politischen Bühne stand, vertrat Stalin den gemäßigten Kurs.

 

Verschärfung der Trotzkischen Politik

Nach Trotzkis Ausweisung war es für Stalin nicht nur möglich, sondern politisch ratsam, einen neuen, sogar noch radikaleren Kurs einzuschlagen, als ihn Trotzki vertreten hatte, der dafür eingetreten war, die Bauern auf ihren eigenen Gütern zu belassen, aber ihr Getreide zu requirieren und die letzte Kopeke an Steuern von ihnen zu erpressen. Stalins Vorschlag, das Land zwangsweise zu sozialisieren, war nicht Trotzkis Methode, aber sie war extrem genug, um alle bis auf die unversöhnlichsten Anhänger Trotzkis zufriedenzustellen. Welche beschwichtigende Wirkung diese Maßnahme auf den Aufruhr der Partei hatte, kann man aus der Tatsache ersehen, daß von 5000 im Jahre 1928 in die Verbannung verschickten Trotzkisten heute nur noch 300 starrköpfig im Exil leben. Christian Rakowsky, der ehemalige französische Botschafter, hält immer noch stand, aber die Mehrzahl der Verbannten sind wieder zurückgekehrt und in die Partei aufgenommen worden.

Diese drei Motive für den Plan und das Tempo seiner Durchführung zwangen Rußland, den Schmachtriemen zwei Löcher enger zu schnallen. Das lag im Plane. Aber es spielten auch noch mehrere nicht vorhergesehene Faktoren hinein, ein schwerer Fehler und ein unvorhergesehenes Ereignis, das bestimmt war, den Lebensstandard noch weiter herabzusetzen, einen weltweiten Protest gegen das Sowjetdumping zu entflammen, wichtige Einzelheiten des Planes zu verzögern und die Gefahr eines wirtschaftlichen Boykotts seitens der kapitalistischen Welt gegen die Sowjetunion heraufzubeschwören.


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