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Neunzehntes Kapitel

Fortschritt des Fünfjahresplans

Sozialistische Planwirtschaft ist nach der Behauptung der Sowjetpolitiker der kapitalistischen planlosen Wirtschaft überlegen, weil Krisen, wie sie periodisch die kapitalistische Welt heimsuchen, aus dem sozialistischen System ausgeschaltet werden. Die Geschichte der ersten zwei Jahre des Fünfjahresplans, des ehrgeizigsten je erdachten Versuchs, die Angelegenheiten der Menschheit zu regeln, zeigt, daß Ereignisse, die von den Paten des Fünfjahresplans nicht vorhergesehen waren, die Sowjetunion in schwerere Entbehrungen gestürzt haben, als sie je ein kapitalistisches Land in modernen Zeiten durch rein wirtschaftliche Ursachen erduldet hat.

Zwei Hauptfaktoren, mit denen man nicht rechnete, bereiten der Durchführung des Plans größte Schwierigkeiten, und beide haben einen circulus viciosus erzeugt, dem zu entkommen die Sowjetunion gegenwärtig einen Kampf führt, einen verzweifelten und so entschlossenen Kampf, daß ein Erfolg wahrscheinlich erscheint. Der erste dieser beiden Faktoren war die übertriebene Beschleunigung der Kollektivierung der Farmen, der zweite war der Abbau der Warenpreise auf der ganzen Welt. Der erste Faktor, der zu einer Vernichtung von 25 Prozent des Viehbestandes des Landes, zu einer Desorganisation der Landwirtschaft und zu einer Empörung unter der Bauernschaft führte, verschlimmerte die bereits ernste Nahrungsmittelknappheit, bewirkte, daß der für 1933 aufgestellte Lebensstandard nicht aufrechterhalten werden konnte, entmutigte dadurch die gesamte Bevölkerung, legte der industriellen Produktion einen Hemmschuh an und kostete der Regierung hunderte von Millionen Rubel. Rußland mußte den Schmachtriemen ein drittes Loch enger schnallen.

 

Preissenkung trifft die Sowjets am schwersten

Der zweite Faktor, der Abbau der Warenpreise in der ganzen Welt, hatte die ironische Nebenwirkung, daß der sozialistische Staat, dessen kommunistische internationale Agitatoren die Wirtschaftskrise der bürgerlichen Welt so laut begrüßten, stärker darunter litt als irgendein kapitalistisches Land. Infolge der Tatsache, daß die Preise sämtlicher Waren, die Rußland zu verkaufen hatte, so steil abwärts glitten, während die Preise der Waren, die es kaufen mußte, annähernd stabil blieben oder sich nur langsam senkten, sah sich das Sowjetaußenhandelsmonopol gezwungen, um den Import an Maschinen und industriellen Ausrüstungsgegenständen dem Plan entsprechend aufrechtzuerhalten, das Volumen seines Exports riesenhaft zu vergrößern.

Dies war der unmittelbare Anlaß, daß die Welt gegen das Sowjetdumping Protest erhob. Die gewaltsame Steigerung des Exports, der zum erheblichen Teil aus den von dem Volke benötigten Verbrauchsgütern besteht, drückte den Lebensstandard noch tiefer herab. Diese beiden Ursachen zusammen, Empörung über den Sowjetwettbewerb und Skepsis bezüglich der Sowjetzahlungsfähigkeit in Anbetracht der elenden Lage der Bevölkerung, machten die bürgerliche Welt geneigt, die Kredite zu beschneiden. Das wiederum bedingte einen stärkeren Export und damit schließt sich der circulus viciosus. Von neuem mußte Rußland einen Knoten in seinen Gürtel machen. Und das Nettoresultat dieser vier Knoten in dem Gürtel, zwei vorhergesehene und zwei unvorhergesehene, spiegelt sich in dem gegenwärtigen Lebensstandard wider.

 

Rykoff beiseite geschoben

So ernst die Resultate des zweiten Faktors waren, so erwies sich der erste, der Fehler in dem Tempo und in der Art der Kollektivierung, am raschesten als verhängnisvoll. Alexis Rykoff, der sogenannte »Premier« der Sowjetunion, Vorsitzender des Rates der Volkskommissare, heute in dem politischen Büro »interniert« wie das unbedeutendste Mitglied der Rechtsopposition, das in Stalins Rat geduldet wird, trat dafür ein, den Plan in einem gemäßigteren Tempo durchzuführen.

Zu diesem Zweck hielt er auf dem 16. Parteikongreß eine Rede, eine Rede, die von der Majorität niedergeschrien und nie veröffentlicht wurde. Ganz Moskau hatte jedoch gehört, daß er unter anderem die beißende Bemerkung gemacht hatte: »Die zwangsweise Sozialisierung des Grund und Bodens hat dem Lande soviel gekostet wie Bürgerkrieg und Intervention.«

Das war bestimmt eine Übertreibung, die aber doch der Wahrheit so nahe kam, daß sie äußerst unbequem wirkte. Was geschah, läßt sich leicht schildern. Es handelt sich nicht nur um Weltgeschichte, werden doch die Folgen heute noch scharf in jedem Hause in Rußland empfunden.

1928 gab es in der Sowjetunion ungefähr 25 000 000 bäuerliche Haushaltungen, und von diesen waren etwa 500 000 sozialisiert worden. Dem Plane nach sollte die Kollektivierung sich langsam vollziehen, und im ersten Jahre geschah das auch, so daß bis zum Sommer 1929 die Anzahl der in Kollektivwirtschaft übergeführten Haushalte sich auf etwa 1 000 000 gehoben hatte.

Der Plan sah vor, daß bis zum Sommer 1930 etwa 2 500 000 Haushaltungen oder 10 Prozent der Gesamtzahl in Kollektivbetrieb genommen werden sollten. Für die aus diesen 2 500 000 Haushalten gebildeten Kollektiven hatte der Plan ausreichende Maschinen vorgesehen.

Zwang, zuerst vorsichtig, aber dann mit zunehmender Strenge angewandt, war das Hauptinstrument bei dem Vorgang der Sozialisierung. Da der Zwang zunächst nur auf geringen Widerstand stieß, ermutigte das die Sowjetbehörden, nicht nur rascher, sondern auch radikaler vorzugehen, insofern als die Kollektiven nicht zu einer lockeren Zusammenarbeit, sondern zu einem starren Gemeinwesen zusammengeschlossen wurden, in welchem jedes Mitglied gezwungen wurde, für den gemeinsamen Haushalt nicht nur sein Pferd, sondern auch seine Kuh, sein Schwein, sein Schaf, seine Hühner, ja sogar seinen Hund herzugeben.

 

Kulaken zu Millionen vertrieben

Gleich einem Präriebrande sich ausbreitend, erreichte der Prozeß der Kollektivierung gigantische Dimensionen. Fast auf einen Streich wurden die Kulaken, wenigstens 3 000 000 an Zahl, »entkulakisiert«, d. h. ihres gesamten Eigentums beraubt, von ihrem Grund und Boden vertrieben und in großen Scharen nach Sibirien, dem Ural oder anderswohin verschickt.

Statt daß bis März 1930: 2 500 000 Einzelhöfe zu Kollektiven zusammengeschlossen wurden, waren zwangsweise 11 000 000 Güter oder nahezu 50 Prozent der gesamten bäuerlichen Haushaltungen in der Sowjetunion zusammengeworfen worden. Für diese sogenannten Kollektiven fehlten die Maschinen, es fehlte an landwirtschaftlichen Sachverständigen; das Saatkorn reichte nicht aus, kurz, sie waren zum größten Teil Kümmerlinge.

Stalin gebot in seiner berühmten Ansprache, »schwindlig vor Erfolg«, in der er die ganze Verantwortung für die übertriebene Kollektivierung auf »übereifrige Unterbeamte« wälzte, ein Halt. Jedoch, es war zu spät, um die großen, bereits bewirkten Schäden zu heilen. Millionen von Bauern zogen es vor, lieber ihre Kühe, Schweine, Schafe und Hühner zu töten und aufzuessen, als ihr Vieh den Kollektiven zu überantworten, ja, viele schlachteten aus purer Empörung ihre Pferde. In weiten Teilen des Landes wurden 50 Prozent der Stiere, ein Drittel der Rinder, Schafe und Ziegen getötet, fast die Hälfte sämtlicher Schweine, zwei Drittel bis drei Viertel des Geflügels und 15 bis 18 Prozent der Pferde, im ganzen wenigstens 25 Prozent des gesamten Tierbestandes des Landes.

Eine kurze Zeit verspeiste Rußland mehr Fleisch, als es seit Jahrzehnten gegessen hatte, dann ging es zu vegetarischer Kost über.

Als Ergebnis von Stalins Maßnahme wurde die Hälfte sämtlicher neuen Kollektiven sofort wieder aufgelöst. Bis März waren 11 000 000 Farmen kollektiviert worden, im Mai waren es nur noch 5 000 000, heute sind wahrscheinlich 6 bis 7 000 000 Einzelhaushalte in Kollektiven zusammengeschlossen, denn der Prozeß hat wieder eingesetzt, diesmal aber wesentlich langsamer. Auf Grund offizieller Sowjetschätzungen wird es wenigstens drei Jahre, wahrscheinlich länger dauern, um die Verluste an lebendem Material wettzumachen. In der Zwischenzeit war die Bevölkerung als Ergebnis des ersten großen Mißgriffs in der Ausführung des Plans gezwungen, um einen Grad stärkere Entbehrungen zu ertragen als die beiden Grade, die die Planschmiede vorgesehen hatten.

 

Verluste beim Export

Für die zweite, nicht vorausgesehene Schwierigkeit in der Erfüllung des Plans ist eine Prüfung der ausländischen Handelseinnahmen der Sowjets, verbunden mit einer Übersicht über die Welthandelspreise vom Beginn des Planes an bis heute, außerordentlich ergiebig. Diese Prüfung zeigt, daß die Sowjetunion während dieser Zeit bei ihrem gesamten Auslandshandel einen Verlust von etwa 15 Prozent erlitt. Das heißt, die Preise, welche die Sowjetunion für ihre Exportwaren, nahezu ausschließlich Rohmaterialien, während dieser Zeitspanne erhielt, fielen schätzungsweise um 30 Prozent, während die Preise, die sie für ihren Import, ungefähr 65 Prozent Maschinen und Ausrüstungsgegenstände und 35 Prozent Rohmaterialien, bezahlen mußte, sich nur um schätzungsweise 15 Prozent gesenkt haben.

Von allen Waren, welche die Sowjetunion zu verkaufen hat, hielt sich einzig Petroleum auf dem Preisniveau von 1928. Holz, heute der Hauptausfuhrartikel, sank um 30 Prozent, Getreide um 50 Prozent, Rauchwaren um 40 Prozent und so fort. Die Sowjetunion machte Ersparnisse bei den entsprechend niedrigen Preisen für die Einfuhr von Baumwolle, Wolle, Gummi und Metallen, aber die Hauptmasse der importierten Waren, die aus Maschinen und Ausrüstungsgegenständen bestanden, blieben fast so teuer wie früher.

Sämtliche Länder, die in erster Linie Rohmaterialien ausführen, litten unter dem nämlichen Preisabbau. Aber der große Unterschied zwischen diesen Ländern und der Sowjetunion bestand darin, daß alle anderen ihre Exporte während dieser uneinträglichen Zeit einschränkten, die Sowjetunion die ihren steigern mußte. Sie allein besaß einen Fünfjahresplan, der sie zwang, ihre Importe auf dem Planniveau zu halten, ohne Rücksicht auf die Tatsache, daß sie, um das zu ermöglichen, gezwungen war, mit Verlust zu exportieren.

Denn auch darin nimmt die Sowjetunion eine einzigartige Stellung ein, daß ihre Zahlungsbilanz mit ihrer Außenhandelsbilanz fast identisch ist. Unbedeutende, unregelmäßig nach Übersee versandte Gold- und Platinmengen, ein nicht nennenswerter Touristenverkehr wiegen gerade die Kosten für die Sowjetdiplomaten und die Handelsvertreter plus den Aufwendungen für die Gehälter der in dem Lande arbeitenden amerikanischen und anderen fremden Ingenieure auf. Es trifft jedoch fast buchstäblich zu, daß jeder Dollar des Imports mit einem Dollar des Exports bezahlt werden muß.

 

Importplan lebenswichtig

Es lag nicht in der Absicht der Sowjetunion, ihren Import, nur der Erfüllung des Importplans zuliebe, aufrechtzuerhalten, sondern es geschah, weil das ganze System des Industriebaus im Lande von der strikten Erfüllung des Importplans abhing. Jede Fabrik in der Sowjetunion rechnet ohne Ausnahme auf diese oder jene Maschine, auf das pünktliche Eintreffen einer Schiffsladung Stahl oder einer Ladung Rohmaterial. Ein Rückgang des Imports um nur wenige Prozent bedeutet schon eine unberechenbare Störung in der Durchführung des Plans.

Das bedingt die Notwendigkeit, alle Anstrengungen auf Erfüllung des Importplanes zu richten, und aus diesem Grunde sind die Folgen eines nicht vorausgesehenen Faktors, wie die Senkung der Welthandelspreise, so schwerwiegend. Die Sowjetpublikationen verkündeten stolz, daß, während in sämtlichen kapitalistischen Ländern der ausländische Handel während der 9 Monate vom 1. Oktober 1929 bis 1. Juli 1930 einen Rückgang aufwiese, sich der Handel der Sowjetunion um 25,2 Prozent gehoben habe. Das war ein Pyrrhussieg. Die soeben angeführte Zeit illustriert diesen Vorgang am besten.

Während dieser Zeit erhöhte die Sowjetunion, im Bemühen ihren Import planmäßig aufrechtzuerhalten, ihren Export dem Werte nach um 17 Prozent, aber, um das zu erreichen, mußte sie dem Volumen nach die Ausfuhr um 57 Prozent steigern. Nur zum Teil wurde dieser Verlust durch den erheblich geringfügigeren Preisabbau der Importwaren ausgeglichen und selbst, trotz dieser Anstrengung plus der Tatsache, daß die Handelsbilanz ein Passivum von 76 400 000 Rubel aufwies, ließ sich nur eine Wertsteigerung des Imports von 35 Prozent erreichen, während der Plan eine 40prozentige Steigerung erfordert hätte.

Diese Operationen hatten sechs grundsätzliche Folgen. Erstens konnte die Regierung ihre Einkäufe im Auslande bezahlen; zweitens ergab sich pro Tonne Export, verglichen mit dem Export des verflossenen Jahres, ein Nettoverlust; drittens hatte die Bevölkerung Rußlands noch weniger zu essen, anzuziehen und zu verbrauchen, viertens entgingen zahlreichen Fabriken in der Sowjetunion und vielen Baustellen wichtige Aufträge, weil der Import um 5 Prozent hinter dem Plan zurückblieb; fünftens zwang die Tatsache einer Handelsbilanz, den Exportplan für die kommenden Monate noch höher hinaufzuschrauben; sechstens erhob sich in der ganzen Welt ein Protest gegen das Sowjetdumping. In Anbetracht des klaren Zwanges, unter dem die Sowjetunion sich genötigt sah, ihren Export zu forcieren und in Anbetracht der zahlreichen unerwünschten Nebenergebnisse bleibt wenig Raum für die Theorie, daß das Sowjetdumping politische Hintergründe hätte. Für das Ausland jedoch erschien das Argument zwingend, daß die Sowjetregierung bei den heute herrschenden Preisen entweder bei ihrem stark vermehrten Import einen Verlust erlitte oder, daß die unwahrscheinliche Annahme zuträfe, daß sie früher bei dem höheren Preisniveau einen enormen Profit aufgeschlagen hätte. Mit anderen Worten, die Annahme schien zugunsten der Beschuldigung des Dumpings zu sprechen.

Eine Nachprüfung der Produktionskosten der Sowjets für bestimmte Waren, wie Weizen, Roggen, Öl, Anthrazit und Mangan mit den Weltmarktpreisen müßten die Entscheidung zwischen diesen beiden Möglichkeiten erleichtern.


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