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Wie? Nanking sei eine langweilige Stadt?
Das kann ich aber gar nicht finden, im Gegenteil, sie ist aufschlußreich und aufregend. Da sehen wir zum Beispiel heute, am 1. Juni 1932, feldmäßig ausgerüstete Truppen stundenlang durch die Straße Tschungschan marschieren.
Was da dabei sei? Die Straße diene dem (Truppen-)Verkehr, das sei eine alte Tatsache, und Tschungschan sei eben eine Straße?
Tschungschan ist eben nicht nur eine Straße, Tschungschan ist auch der Kampfname, den Sunyatsen im Ausland führte, ihm zu Ehren ist die Straße benannt.
Warum eine nach Sunyatsen benannte Straße keine Truppentransporte passieren sollen? Sei denn Sunyatsen ein Pazifist gewesen? Habe er nicht Bürgerkriege befehligt? Würde er nicht selbst an der Spitze von Truppen durch diese Straße ziehen, wenn er noch lebte?
Gewiß, gegen Truppen in seiner Straße ist an sich nichts einzuwenden, Sunyatsen war kein Pazifist, er hat Bürgerkriege befehligt, und würde selbst an der Spitze von Truppen durch diese Straße ziehen, wenn er noch lebte. Aber nicht an der Spitze dieser Truppen. 220
Nicht an der Spitze dieser Truppen? Das sei doch die 19. Armee? Die 19. Armee, die sich vor einem halben Jahr den Japanern in Shanghai entgegengestellt und ihnen Halt geboten hat? Gegen ausländische Imperialisten. Sei das nicht im Geist Sunyatsens gewesen?
Ja, das war im Geist Sunyatsens. Aber jetzt ziehen sie gegen die roten Provinzen, und ihr Weg führt durch die Straße Tschungschan, die Straße Sunyatsens. Ist auch da nichts dabei? Sunyatsen hat das Wort gesprochen, daß jeder Gegner der Kommunisten damit auch Gegner der Kuomintang ist und den Ausschluß verdient. Wie lautet sein Bekenntnis, das ihm den Haß der chinesischen Bourgeoisie, ihren bewaffneten Widerstand mit englischen Waffen eintrug: »Mit dem Gelingen der russischen Revolution hat das neue Leben Chinas begonnen. Daher: laßt uns heute diese Revolution feiern, und dann laßt uns die Russen nachahmen.« Und nicht nur politisch möge sich China einzig und allein die Sowjetrussen zum Vorbild nehmen, denen China seine Konstituierung als Nation und die Aufhebung der Tributverträge verdankte, nein, auch militärisch: »Die Rote Armee Rußlands muß euer Muster sein!« rief Sunyatsen den an ihm vorbeidefilierenden Truppen der Kanton-Regierung zu.
Heute marschieren nun die Truppen gegen die Rote Armee Chinas. Vor Monatsfrist hat man sie aus dem Umkreis von Shanghai herausgezogen und nach Nanking dirigiert. Zwecks Retablierung. Man prüfte jeden auf Herz und Nieren, was natürlich nicht medizinisch gemeint ist. Und der, bei dem sich etwas verriet, 221 wodurch er ungeeignet schien, als dumpfes Werkzeug der Reaktion zu dienen, der bekam einen sehr schlichten Abschied. An die Stelle der Ausgeschiedenen traten verläßliche Elemente anderer Abteilungen. Der populäre Firmenname blieb: 19. Armee. Alles ist botmäßig gemacht und einexerziert worden, streng nach den Weisungen der militärischen Ratgeber, der »advisers«, der deutschen Offiziere. 30 deutsche kaiserlich-republikanische Offiziere. Sie kamen mit Oberst Bauer herüber, und erfreuen sich des Vertrauens von Tschangkaischek. Zuerst hatte die Entente gefürchtet, die Deutschen würden ihren konnationalen Rüstungsindustriellen allzuviel Heereslieferungen zuschanzen. Ob das geschieht oder nicht, ist heute den Mächten nicht so wichtig, denn die Deutschen leiten die Ausrüstung und die Ausbildung der chinesischen Truppen so, wie es sich der internationale Imperialismus nur wünschen kann. Jedenfalls ist es angenehmer für England, als wenn amerikanische, angenehmer für Amerika, als wenn französische Militarisierungsfachleute am Werk wären.
Ausrüstung und Ausbildung der 19. Armee, die ohne Ausrüstung und ohne Ausbildung den Japanern getrotzt hat, ist jetzt soweit beendet, daß man sie gegen China werfen kann, gegen die Sowjetgebiete, die friedlich ihren Aufbau vollziehen, ohne Imperialismus, ohne Kapitalismus, ohne Feudalherrschaft, ohne Fremde, ohne Opium, ohne Privatbanken, ohne Kinderarbeit, ohne Kinderverkauf, ohne Missionare, ohne Binnenzölle, ohne Banditengenerale, ohne Gangsters, ohne Bestechungswesen.
Manche von den hier vorbeimarschierenden Burschen haben wir in ihren Unterständen von Tschapei 222 gesprochen, aber wir erkennen sie nicht wieder. Wie fein die gemacht worden sind.
Nein, nein, Nanking ist durchaus keine langweilige Stadt! Es gibt vielerlei zu sehen, allein auf der Straße Tschungschan.
Hechtgraue Leinenuniformen, Wickelgamaschen, lederne Koppel und hohe Kappen, wie sie die k. u. k. Armee Österreichs hatte; nur ist anstatt der Kokarde mit F. J. I., den Initialen des Kaisers Franz Josef, eine Kappenrose mit der blauen Sonne, der Sonne der Kuomintang aufgesteckt. Man könnte die Kolonnen für europäisches Militär halten, baumelte nicht auf jedem Rücken ein Sonnendach, ein Sonnenschirm, ein Sonnenhut, welch mächtiges Geflecht. Und stäke nicht in jedem Leibriemen ein Frottierhandtuch, das man in einen kalten Bach oder in heißes Teewasser taucht, um sich das Gesicht zu kühlen. Die Chargen tragen elektrische Lampen, große, es sind schon eher Marschallstäbe, wer mag diese Heereslieferung den Chinesen angehängt haben? Die Lampe ist das auffallendste Merkmal der neuen China-Armee, so wie das der japanischen die Thermosflasche ist. An der Knabenbrust der Soldaten prangt eine Medaille, Ausrüstung und Ausbildung sind vollendet, nun geh' gegen deine Volksgenossen und Klassenbrüder, schieß recht viele tot, und du wirst wieder eine Medaille kriegen.
Die Residenz ist froh, sie loszuwerden. Obwohl die 19. Armee verwässert ward, es ist doch die 19. Armee, noch immer sind zu viele von den Shanghaier Kerlen dabei, die sich ohne Befehl aus Nanking den Japanern gegenübergestellt hatten und die von Nanking befohlene 223 Kapitulation nicht durchführen wollten. Aufatmend blickt Tschangkaischek aus seiner Festung innerhalb der Kriegsakademie, geschützt von seinen Schützlingen, aufatmend sieht der Finanzminister T. V. Sung von seiner Villa am Hügel des Nordsterns, aufatmend die gepflegten Herren aus dem Parteihaus der Kuomintang, aufatmend die Vertreter der Vertreter der Großmächte (die Vertreter selbst sitzen in Peking, zwei Eisenbahntage fern vom Regierungssitz), aufatmend blicken allesamt auf das abziehende Heer.
Im Hafenviertel Hsiakwan wird es eingeschifft, auf uralte, zitronengelbe, am Ufer vertäute Jangtse-Kästen. Kanonenboote neuesten Schnitts ankern mitten im Strom. Sollte auf den Transportschiffen etwas laut werden, so würde es auf den Kanonenbooten noch lauter werden. Seid versichert. Die 61. Division ist bereits verladen, die 60. und die 78. marschieren an uns vorbei uferwärts, und die »North-China Daily News«, die China-Zeitung Englands, wird morgen anerkennend feststellen können, daß auch die zweite Hälfte der 19. Armee ihren Abmarsch aus Nanking in die Gebiete der »Roten« ohne Zwischenfall vollzogen hat.
Das Wort »Rote« und das Wort »Kommunisten« darf bei Prozessen und Interventionen nicht ohne Gänsefüßchen geschrieben werden, allzu deutlich hat Sunyatsen jeden Feind der Kommunisten als Feind der Kuomintang bezeichnet. Daher wird von sogenannten Kommunisten, von Kommunisten unter Anführungszeichen gesprochen, wenn man Kommunisten ohne Anführungszeichen meint. Aber am besten, man sagt: Banditen. Bei Banditen braucht man kein Anführungszeichen, im Gegenteil, da wäre es 224 wieder strafbar, eines hinzusetzen. Diese Terminologie hat sich sogar die britische China-Presse zu eigen gemacht, für die doch Banditen und Kommunisten ohnedies identisch sind, und die schwerlich eine Antwort auf die Frage geben könnte, welcher Unterschied für sie zwischen Kommunisten mit und Kommunisten ohne Anführungsstriche besteht.
Die chinesischen Gerichte wiederum verurteilen die Kommunisten nur mit der Formel »wegen reaktionärer Umtriebe«. So fällt der Richter den Spruch, daß der Angeklagte sich in offenkundig reaktionärer Weise betätigte, indem er gegen den Imperialismus, gegen die Vorherrschaft der Banken, gegen den Pfandwucher und gegen das Opium aufgetreten ist.
Gegen solche Reaktionäre werden nun die Neunzehner zu Felde gezogen. Schon vorher haben sich viele Truppen in der gleichen Absicht kiangaufwärts bewegt. Ein englisches, ein amerikanisches, drei japanische und ein italienisches Kanonenboot segelten im September 1930 zur Eroberung von Tschangsha in schöner Gemeinschaft los; alle Gegensätze sind schnell vergessen, wenn Amerika, Japan (mit drei Schiffen), England und Italien die »Reaktion« niederwerfen wollen. Die Landungstruppen von »H. M. S. Aphis«, »U. S. S. Palos«, »H. I. J. M. S. Atami«, »Futami« und »Kutama« und »S. M. R. d'I. Carlotta« häuften Greuel auf Greuel, deren sie sich selbst rühmten und hervorhoben, daß »insbesondere Commander Tisdale von der ›Palos‹ den blutdurstigen, rußlandinspirierten Horden eine Dosis ihrer eigenen Medizin gegeben.« («Chinas Weekly Review«, 6. Sept. 1930.)
Trotz dieser Dosis vergrößerten die Sowjets ihre 225 Gebiete, die schon damals von mehr als 50 Millionen Menschen bewohnt waren. Trotz dieser Dosis? Wegen dieser Dosis! Daß die Kuomintang für ihre Interessen fremde Mächte gegen China losziehen ließ, erregte auch die indifferenten Bauern außerhalb der Sowjetdistrikte.
So ging es also nicht noch ein zweites Mal. Die Nanking-Regierung mußte selbst zeigen, was sie kann. Mit 15 Divisionen begann im Februar 1931 unter persönlicher Leitung Sr. Exzellenz des Kriegsministers Ho Ying-Ching die »Ausrottungskampagne gegen die ›Roten‹« der Provinz Kiangsi. Im Juni kam ihm der Gottsöberste zu Hilfe, Tschangkaischek befehligte 300.000 Mann. Nie vorher war ein solcher Heerbann gegen eine einzige Provinz aufgeboten worden.
Eine Ausrottungskampagne ohne Anführungsstriche. Ausgerottet wurden die Dörfer, ausgerottet die darin zurückgebliebenen Greise und Kinder, ausgerottet das Vieh und die Ernte. Das einzige, was nicht ausgerottet werden konnte, waren die Roten. Von den Bauern, die die Rote Armee bilden, hatte höchstens jeder dritte ein Gewehr, und auf jedes Gewehr kamen lediglich zwei Patronen; so bewaffnet führten sie sechs Monate lang den Guerilla-Krieg gegen eine Armee mit 256 europäischen Feldgeschützen, 12 Flugzeugen, Maschinengewehren und ausländischen Spezialisten der Strategie. Schließlich wurden die Divisionen der Kuomintang genau so vertrieben, wie die preußisch-österreichisch-emigrantische Interventionsarmee bei ihrer Kampagne in Frankreich von den Ohnehosen der jungen französischen Revolutionsarmee, und wie die französisch-englisch-amerikanisch-deutsch-tschechoslowakisch-japanisch-weißgardistischen 226 Armeen und Flotten von den Bolschewiken aus Rußland vertrieben worden waren. Ein Beweis dafür, daß technisches Übergewicht nur dann das einzige Kriterium der Entscheidung darstellt, wenn das Klasseninteresse am Ergebnis des Krieges bei beiden Armeen das gleiche, das heißt null ist. Beim Krieg der Nanking-Regierung gegen das Volk war das Klasseninteresse nicht das gleiche.
Unter der Beute der Roten befanden sich drei Flugzeuge, man bedeckte sie mit einem Schutzdach, und so stehen sie noch heute da; bedienen kann sie niemand, worüber die Presse der geschlagenen Kuomintang nicht zu spotten aufhört. Zwei Monate nach der Flucht der Regierungsarmee gab sie den »Abbruch des Feldzuges« bekannt und begründete ihn damit, daß die Besetzung der Mandschurei durch die Japaner eine Konzentrierung des nationalen Interesses auf den äußeren Feind notwendig mache. Der heimgekehrte Kriegsminister Exzellenz Ho Ying-Ching, führte vor dem IV. Kongreß der Kuomintang aus, warum es der Gesamtarmee nicht gelungen war, auch nur eine der revolutionären Provinzen zu erobern. »Die Bewohner der von den Banditen besetzten Gebiete unterstützen die verbrecherischen Horden, während es für die Regierungstruppen außerordentlich schwer war, auch nur die geringste Hilfeleistung von seiten der Bevölkerung zu erhalten.« Immerhin konnte Minister Ho Ying-Ching dem Kongreß eine Hoffnung geben: »Krankheiten von epidemischen Ausmaßen sind in den Lagern der Banditen ausgebrochen, und infolge des Mangels an ärztlicher Hilfe gehen viele von ihnen zugrunde. Mit dem Herannahen des strengen 227 Winters erhöhen sich ihre Schwierigkeiten ständig, da nur wenige von ihnen Winterkleidung besitzen.«
Ob die Erwähnung der Tatsache, daß die »Roten« nicht einmal Winterkleidung besitzen, vom Kongreß mit Heiterkeit aufgenommen worden ist, steht im Protokoll nicht verzeichnet. Jedenfalls wurde in den Resolutionen ein neuer Feldzug zur Ausrottung der roten Gefahr als die erste Pflicht der Regierung erklärt, die Besetzung Nordchinas durch die Japaner fand der Kongreß bei weitem nicht so wichtig.
In Ausführung des Beschlusses müssen jetzt die Jungens, die sich in Shanghai freiwillig zum Schutz ihrer Familien und ihrer Wohnstätten vor den Japanern bei der 19. Armee anwerben ließen, gegen ihre Heimat losziehen, gegen jene Kreise ihrer Heimat, die die drei Prinzipien Sunyatsens in die Wirklichkeit umsetzen. Auch diese Jungens mit den neuen Gewehren, den grauen Uniformen, den blitzenden Medaillen und den elektrischen Laternen werden mitnichten den Sieg erringen, den ihnen der Armeebefehl verheißt. Worin soll er bestehen? Worin soll er sich auswirken? In der Wiederzusammenziehung des aufgeteilten Bodens, in der Wiederzuteilung des Landes an einen Feudalherrn, in der Wiederherstellung des Likin-Zolls, in der Wiedereinführung des Bestechungswesens, in der Wiederanlegung von Mohnfeldern, in der Wiederzulassung von Missionaren? In der Schließung der neuen Schulen, Druckereien, Büchereien, Zeitungen?
Glaubt man, ein Volk mit Waffengewalt wieder in Unwissenheit stürzen zu können? Auf dem Kongreß der chinesischen Sowjets, der am 7. November 1981, dem 228 vierzehnten Jahrestag der russischen Oktoberrevolution in Juikin zusammentrat, wurde berichtet, daß in den sechs Sowjetgebieten innerhalb vier Jahren acht Millionen Menschen lesen und schreiben gelernt haben. Komischer-, aber nicht unlogischerweise verdoppelte die englische Presse diese Zahl und schrieb von »sechzehn Millionen Menschen, denen das Lesen beigebracht wurde, um sie der gedruckten Hetzpropaganda zugänglich zu machen«. Die Schriften von Marx, Lenin und Sunyatsen werden in Auflagen von einer Million gedruckt. In einer Stadt, wo Lenins »Staat und Revolution« wegen Papiermangels vergriffen war, erschienen Leute mit eigenhändig geschöpftem Papier in der Druckerei und zogen das Buch vom Letternsatz ab. Ein Amerikaner schreibt der Shanghaier »Evening News«, daß »in allen Nachbargebieten der Banditenbezirke das mit den Köpfen der bekannten kommunistischen Agitatoren Marx und Lenin versehene Papiergeld als vollwertiges Zahlungsmittel angesehen wird«.
Wie? Mit dem Abzug der Truppen sei alles Interessante erschöpft, was Nanking zu bieten habe? Im übrigen sei es eine langweilige Stadt?
Kann ich aber gar nicht finden! Sehen Sie zum Beispiel, wie in allen Straßen gebuddelt wird. Das ist keine kommunale Angelegenheit, das ist eine politische Angelegenheit, der Lohn, den England dafür bezahlt, daß Nanking die Roten wacker zu bekämpfen versucht.
Der den Chinesen seit 1900 auferlegte Straftribut wird in den letzten Jahren von den Großmächten innerhalb Chinas angelegt. Die Amerikaner schicken Chinesen aus Propagandagründen für das Geld der Boxer-Indemnität auf ihre Collegs. Aber diese Studenten, statt gelbe 229 Yankees zu werden, werden oft genug Gegner der Fremdherrschaft und Anhänger der Revolution.
England ist nicht so dumm wie Amerika. England gibt das chinesische Geld nur für Kommunikationszwecke her, und zwar für solche, deren Material zu guten Preisen von England geliefert wird. Überall, sehen wir, werden Tore gebaut, weil das zum Kapitel »Kommunikation« gehört, überall, sehen wir, wird die Residenzstadt der Vasallenregierung befestigt, überall, sehen wir, werden Röhren und Kabel gelegt und eine Funkstation errichtet, damit die englische Industrie Geld verdiene, überall, sehen wir, werden Häuser niedergerissen, um breite Straßen zu schaffen, auf denen solche Ross' und Reisige, die nicht schützen die steile Höh', wo Fürsten stehn, bequem hinausgeschickt werden können gegen das Volk.
Der Zugang zur Stadt ist um so verschlossener. Renoviert die alten Wälle, der doppelte Ring um die Stadt, die Wachtore desgleichen, obwohl Flugzeuge keineswegs durch Festungstore einzufahren pflegen, und Geschosse aus Schiffsgeschützen vor Festungsmauern niemals ratlos haltmachen. Nicht um moderner Artillerie Einlaß zu verweigern, stehen die Wachkompanien unter jedem Torbogen . . . Der Feind, gegen den man rüstet, hat keine Bombenflugzeuge und keine Schlachtschiffe auf dem Jangtse und keine modernen Geschützzüge. Der Feind, gegen den man rüstet, ist kein äußerer Feind. Er kann bald vor den Toren stehen. Nanking ist immer fluchtbereit.
Jedermann wird am Stadttor angehalten, die Guardia prüft sorgsam die Pergamente seiner Heimatszugehörigkeit und seiner Zunft und prüft seine Einreise-Erlaubnis, 230 bevor sich ihm der Weg freigibt in die Stadt der »Volkspartei« und ihrer Regierung. Das Elend hat draußen seine Bezirke, zwischen dem Bahnhof und dem Stadttor. Doch gibt es auch in der Stadt des Schmutzes und des Jammers mehr, als man sich vorzustellen vermag.
Reisbauern und Brokatweber haben ihre Pfützen und Hütten am innern Rand der Innern Festungsmauer oder unten an den befestigten Ufern des Tschin-Hwaj-Flusses. Verfallene Holzbuden sind die Arbeitsstätten der Brokatweber, ihre Webstühle von alten Meilensteinen gestützt. Zwischen zehn Bambusstäben, die vom Fuß des Webers bewegt werden, entsteht das Muster, das Weberschiffchen mit fettgoldenem Inhalt fährt von links nach rechts, die schwarzen und goldenen Fäden werden von Kindern aneinandergeknüpft. Du glaubst, daß sie nur zwecklos die Finger bewegen, nur mit Luft arbeiten, du siehst die Fäden nicht, so schnell geht das. Bei dieser Arbeit nicken die Kinder mit dem Kopf nach rechts und nach links, wie Fahrer eines Sechstagerennens. Sie dürfen nicht aufschauen, auch wenn ein Besucher kommt. Auf die Seide schweben, indes sie geboren wird, vier goldgefiederte Vögel nieder, sie verschwinden, und vier neue goldgefiederte Vögel, den vorigen gleich, schweben auf die Seide nieder. Ihr Auftauchen und ihr Verschwinden vollzieht sich in einer Atmosphäre von Schmutz und Hunger. Die Frau des Goldwebers bittet um eine kleine Gabe. Keinen Meter Brokat darf der Weber verkaufen, alle Ware ist, längst bevor sie entsteht, an den Garnlieferanten in Tschekiang verpfändet. Überall umringen dich Bettler. Cholera und Lepra wüten, ohne Widerstand zu finden. 231
Viel Elend ist in die Stadt gerutscht, dem Aufenthaltsverbot zum Trotz, der Sicherung dieser doppelt gesicherten Stadt zum Trotz. Doppelt gesichert? Ja. Nanking hat materielle und ideologische Festungswerke, und die ideologischen sind materieller Art. Wirklich, ich verstehe gar nicht, wie man Nanking eine langweilige Stadt nennen kann.
Hoch ragt die ideologische Zitadelle empor: das Grabmal Sunyatsens. Selbst das Lincoln-Mausoleum in Washington, dem es entschieden nachgebildet ist, ist nicht so pompös und nicht so kostspielig, Millionen wurden ausgegeben für dieses einzige große Bauwerk der Republik. Die Mings, die direkt daneben begraben sind, können sich direkt daneben begraben lassen. Dabei haben die Mings dreihundert Jahre lang über China geherrscht, und Sunyatsen, der erste Präsident der Republik, mußte schon nach ein paar Monaten seinen Platz dem kaiserlichen Mandarin Juanschikai räumen, der sich zum Sohn des Himmels machte. Viermal mußte Sunyatsen aus der Republik flüchten, er hatte ihre Machthaber zu fürchten, wie er vorher die des Kaiserreichs zu fürchten hatte. Als er Präsident der Kantonregierung wurde, war er, der nationale Revolutionär, den Großkaufleuten und den Großmächten viel zu sozial. Sie rüsteten die Kantoner Kaufmannsgarden gegen ihn aus, und England, wo das Arbeitskabinett Macdonald regierte, schickte ihnen Waffentransporte. Sunyatsen begriff am Widerstand seiner Gegner deren Interessen, seine Lehre, die voll von Unklarheiten und Kompromissen gewesen war, wurde immer entschiedener und sozialer.
1925 starb er und hier oben ist er begraben. Einen 232 Kilometer führt die breite Marmortreppe, geschmückt mit Podesten, Vasen, Obelisken, Pilonen zum Gipfelbau, zur Kolossalstatue, zum Sarkophag hinan. Und doch ist diese Grabanlage kein Luxusbau, sie ist ein Zweckbau, die zehn Millionen Dollar sind kein hinausgeworfenes Geld. Ideologische Sicherung. Seht her, wie wir Sunyatsen ehren, in Sunyatsens Sinn regieren wir. »Wir«, das sind die heutigen Herren von Nanking, die Sunyatsen gekannt und genannt hat, »diese entarteten Revolutionäre, diese falschen Revolutionäre, die Sie während dieser letzten Jahre allein damit beschäftigt gesehen haben, Karriere zu machen und sich zu bereichern. Diese Leute haben die große Sache der Revolution und des revolutionären Geistes entwürdigt und lächerlich gemacht. Trennen Sie sich von den Leuten dieses Schlages und vergessen Sie sie . . .«
Die Karrieremacher haben die Trennung selbst vollzogen, eine blutige Trennung. Jetzt sind sie an der Macht. Nichts, nichts von den Lehren Sunyatsens haben sie durchgeführt, nichts durchzuführen versucht. Die Fremden, gegen deren Oberherrschaft er sich wandte, sind die Schutzherren seiner Nachfolger, die Gewerkschaften, die er schuf, wurden zu gelben Fachvereinen gemacht, seine revolutionären Bauernverbände vernichtet, die Gangsters, Begleiterscheinungen des Chicago-Kapitalismus erfreuen sich der Regierungsgunst, die Banditengenerale, Begleiterscheinungen der Feudalherrschaft, sind die Bundesfürsten des Reichs, das Opiumgeschäft blüht, das Waffengeschäft blüht, die Kinderarbeit blüht, der Likin-Zoll blüht.
Sunyatsens Gattin, seinen Ideen treu, muß in der Auslandssiedlung Shanghais leben, bespitzelt von den 233 vierzehn Shanghaier Spitzelorganisationen der Großmächte, und sie betritt chinesischen Boden nicht, ohne einen Anschlag von seiten der Partei befürchten zu müssen, die sich die Partei ihres Gatten nennt; von Ausländern stehen nur die amerikanische Schriftstellerin Agnes Smedley und der mutige Kreis der von allen Seiten verfolgten Zeitschrift »The China Forum« als Freunde zu ihr.
Truppen gegen die Sowjetbezirke ziehen auf der Straße mit dem Namen des Mannes, der auf seinem Sterbebett einen Brief an die Sowjetregierung nach Moskau schrieb, deren Generalkonsulat heute das einzige leerstehende Haus am Ufer des Whangpoo in Shanghai ist. Der Brief aber lautet:
»Liebe Genossen! Auf meinem Sterbebette beschäftigen sich meine Gedanken mit euch sowie mit dem zukünftigen Geschick meiner Partei und meines Landes. Ihr seid das Haupt jener Republiken, die der unsterbliche Lenin befreit hat. Wenn sie euch folgen, werden die Nationen, die heute noch Opfer des Imperialismus sind, ebenfalls ihre Befreiung von dieser Gesellschaftsordnung erlangen, die immer auf Sklaverei, Krieg und Ungerechtigkeit begründet gewesen ist. Ich hinterlasse eine Partei, die, wie ich stets gehofft habe, im Bunde mit euch wirken wird an der Befreiung Chinas und anderer unterdrückter Völker vom Joch des Imperialismus. Ich beauftrage daher meine Partei, in ständigem Kontakt mit euch zu bleiben. Ich fühle mich glücklich in dem festen Glauben, daß die Unterstützung, die ihr meinem Lande zuteil werden ließet, ihm unverändert erhalten bleiben wird. Indem ich nun Abschied von euch nehme, gebe ich der Hoffnung Ausdruck, daß der Tag kommen wird, da die Sowjetunion in einem freien und starken China 234 ihren Freund und Bundesgenossen begrüßen wird, und daß die zwei Staaten Hand in Hand in dem großen Kampf für die Befreiung der Unterdrückten der ganzen Welt fortschreiten werden.
Mit brüderlichen Grüßen
Sunyatsen.«
Er starb, und die chinesischen Polizeibeamten, mehrere hundert Mann stark, drangen in den geschlossenen Bezirk der ausländischen Gesandtschaft in Peking ein, überfielen die Sowjetbotschaft, verhafteten das Personal, schleppten die Akten weg, besetzten das Haus. Von den teuren Grundstücken am Ufer in Shanghai ist eines unverwertet, ein einziges Gebäude steht leer, das Sowjetkonsulat an der Garden Bridge.
Antwort der Kuomintang auf Sunyatsens letzten, seinen strikten Auftrag: »Ich beauftrage meine Partei in ständigem Kontakt mit euch zu bleiben . . .«
Ein leerstehendes Haus kann interessanter als ein bewohntes sein. Eine Stadt von Beamten und Bonzen und einer neuen Grabanlage und einer endlosen Militärkolonne braucht gar nicht langweilig zu sein.
Ich finde Nanking gar nicht langweilig. 235