Egon Erwin Kisch
China geheim
Egon Erwin Kisch

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Schattenspiel

(natürlich in Peking, in der Kolonialhauptstadt Shanghai gibt's nichts dergleichen)

Die für heute abend engagierten Künstler haben im Hof ihre Einflächenbühne aufgerichtet und warten, bis die Sonne untergeht. Dann beginnt das Spiel.

Man sitzt und schaut und ist von Entzücken umrieselt. Der chinesische Teil des Publikums besteht aus einem blassen Mond, den Polizisten des ganzen Umkreises, die ihren Dienstplatz verlassen haben, um der Vorstellung beizuwohnen, den Kulis des Hauses, dem Hausherrn und der Hausfrau. Sie klatschen dieser oder jener Dialogstelle Beifall, sie lachen über diese oder jene Bemerkung, während der des Chinesischen unkundige Europäer sich darauf beschränken muß, zu schauen und darüber nachzudenken, warum der Westen diesem zauberhaften Spiel der bunten Schatten nichts gleichzusetzen hat, es nicht wenigstens nachzuahmen versuchte.

Zeit genug war dazu, seitdem es . . . nun, so genau wissen wir natürlich nicht, wann die chinesischen Bühnensilhouetten auftauchten. Darüber gibt es nur Sagen, die so kindlich phantasievoll sind, wie die Erfindung selbst. Die erste Überlieferung besagt, ein sicherer Jen-Schi, 134 Silberschmied seines Zeichens, habe dieses Zaubertheater am Hofe des Kaisers Wu (1001–947 v. Chr.) erstmalig vorgeführt. Von der zarten Gestalt und dem ritterlichen Gehaben des Helden entflammt, verlangten die Damen des Harems immer und immer wieder sein Auftreten, bis schließlich der Kaiser Wu, von Eifersucht befallen, mit zornfunkelnden Augen aufsprang und befahl, den Helden zu köpfen. Da führte Jen-Schi den Herrscher hinter die Bühne und zeigte ihm, daß sein vermeintlicher Nebenbuhler kein Mensch von Fleisch und Blut, sondern ein bemalter Scherenschnitt aus Eselshaut sei. Staunend sah es der Kaiser und er beruhigte sich. Aber das Wort, das kaiserliche, konnte nicht mehr zurückgenommen werden. So trat einige Minuten später der Held wieder auf die Bühne, der Henker folgte ihm und schlug ihm das Haupt ab, wie es der Kaiser befohlen. Die Damen im Publikum verfielen in Schreikrämpfe und weinten noch viele, viele Tage und viele, viele Nächte über des zarten Ritters grausames Ende.

Einer andern Sage nach hat ein taoistischer Mönch mit Namen Schao-Weng diesen Farbentonfilm erfunden. Als der Kaiser Wu-Ti (140–86 v. Chr.) über den Tod seiner Lieblingskonkubine fast von Sinnen geraten und des Lebens überdrüssig war, machte sich Schao-Weng erbötig, die Verlorene sichtbar werden zu lassen. Und wirklich führte er die Schöne dem Kaiser vor, der vergehen wollte vor Glück, sie wieder zu sehen und zu hören. Allabendlich ließ Kaiser Wu-Ti die tote Freundin vor sich erscheinen, und sie sprach Worte der Liebe und der zärtlichen Erinnerung an genossene Liebesstunden. (Die an Leben und Laune ihres Herrn interessierten 135 Hofschranzen lieferten dem Puppenspieler das Material für sein Libretto.)

In einer Mondscheinnacht steigerte Schao-Weng das Spiel seiner Darstellerin zu besonderer Liebesglut. Wu-Ti, voll unstillbarer Sehnsucht, die Herzallerliebste wieder zu umfangen, stürzte hinter die Zauberwand, die niemals zu betreten die Sterndeuter ihm strikte aufgetragen hatten, und sah – und sah – daß alles fauler Zauber sei. Wütend zerriß er das Konterfei der Geliebten in viele Stücke, und Schao-Weng, der Regisseur, Bühnenbildner, Darstellerin und Operateur in einem gewesen war, mußte diese vierfache Tätigkeit mit schmählichem Henkertode bezahlen.

». . . weil er dem Publikumsgeschmack gehuldigt hat,« bemerkt der nach China übergesiedelte Lyriker, als wir diese historische Reminiszenz hervorholen.

». . . weil er seinem künstlerischen Temperament die Zügel schießen ließ,« wendet trocken der Kunsthistoriker ein, der statt einer mageren Privatdozentur in Deutschland ein fettes Geschäft mit falschen Curios in China gefunden hat.

Wir aber, wir wollen uns keineswegs in diesen Streit der Weltanschauungen mischen, sondern auch die dritte Sage erzählen, die die Entstehung des vor unseren Blicken sich entfaltenden Spieles zum Gegenstand hat.

Es war in der Zeit der Han-Dynastie, die Hauptstadt Ping-Tscheng wurde durch den Mongolenfürsten Mao-Fin belagert. Der Belagerer hatte seine herrschsüchtige, kriegerische und eifersüchtige Gattin mit sich. Drinnen in der eingeschlossenen Stadt herrschte Hunger, alle Pfeile und Brandfackeln waren verschossen, binnen kurzem 136 mußte Ping-Tscheng fallen, und das bedeutete Martertod der Belagerten und insbesondere des Kaiserpaares.

Da fiel der chinesischen Kaiserin ein – sie kannte den Charakter ihrer Widersacherin da unten –, auf der Stadtmauer, gerade dem Zelt des Mongolenfürsten gegenüber, ein Schattenspiel aufzuführen. Nur liebreizende, liebebedürftige, liebenssehnsüchtige Mädchengestalten ließ sie auf der Leinwand erscheinen und um die Liebe rauher Kriegsmänner werben.

Sie hatte sich in der Wirkung keineswegs verrechnet: die Mongolenfürstin sah die schönen Buhlerinnen buhlen . . . sah ihren Gatten neben sich . . . wußte, daß er sich an solcher Beute weidlich vergnügen und sein ehelich angetrautes Gemahl links liegen lassen würde . . . und flugs befahl sie, die Belagerung abzubrechen . . . An der Spitze der Armee zog sie von dannen, ihr Gatte zottelte mit eingezogenem Wunschtraum hinterdrein.

Die drei Sagen kommen einem gar nicht einfältig vor, nachdem man die chinesischen Schattenspiele erlebt hat. Die transparenten Stücke Tierhaut gehaben sich mit unglaublicher Ausdrucksfähigkeit, jedes Körperglied scheint seine eigenen Gelenke und Muskeln zu besitzen, jedes gesprochene, jedes gesungene Wort ist der Bewegung von Mund, Kopf und Leib so organisch zugehörig, daß man wahrhaftig kein eifersuchtstoller Kaiser Wu, kein trauertoller Kaiser Wu-Ti und keine gleichfalls eifersuchtstolle Mongolenfürstin sein muß, um der Illusion zu verfallen, lebende Menschen vor sich agieren zu sehen.

Wenn uns etwas davor behütet, uns so foppen zu lassen wie Wu, Wu-Ti und die Mongolin, so ist es nicht 137 etwa irgendein Minus der Darsteller, sondern ihr Plus. Will sagen: diese Fetzen aus Tierhaut können nicht weniger als ein Mensch kann, vielmehr können sie viel mehr als ein Mensch kann, und das ist das einzige, was in dem Zuschauer Zweifel an ihrem realen Vorhandensein hervorruft. Wir sehen zum Exempel, wie sich ein Mensch in einen Drachen verwandelt. Gut, das mag vorkommen im wirklichen Leben. Aber sagt selbst, wird im wirklichen Leben ein eben in einen Drachen verwandelter Mensch die Künste des Feuerspeiens, des Sich-durch-die-Lüfte-Schwingens und des Menschenverschlingens augenblicklich so meisterlich handhaben, wie sein Konterfei auf der Schattenbühne?

Solange die Schattenfigur auf solche Ausflüge ins Überirdische verzichtet, solange sie als Mensch auftritt, solange läßt sich an ihr weder eine verdächtige Fähigkeit noch sonst eine Unnatürlichkeit entdecken. So und nicht anders schreiten zwei Nonnen eine Anhöhe hinan. So und nicht anders beugt sich der redliche Diener des Alten vom Berge vor den beiden Besucherinnen. So und nicht anders öffnet er ihnen das Tor des Tempels. So und nicht anders pflegen sich die Gespräche zwischen einem frommen Einsiedler und zwei Nonnen zu vollziehen, die in Wirklichkeit gar keine Nonnen sind, sondern Furien in Menschengestalt, und alsbald diese verlassen, um als jene den Alten anzugehen.

Naturwahr sind nicht nur die Menschen auf Erden und die Geister in der Höh', naturwahr sind auch die Dinge. Diese Kulissen! Auf der chinesischen Bühne der lebenden Schauspieler gibt es nichts dergleichen, dort ist Wald gleich Stadt, Kerker gleich Thronsaal, nur aus Wort und 138 Geste erfährt der Beschauer, wohin er sich versetzt zu fühlen hat.

Anders hier. Am Anfang, bevor die mit der Schere geschnittenen Personen auftraten, war die Welt, die diese Blätter bedeuten, schon erschaffen. Rechts stand ein Haus, unten rollten gleichmäßig die blauen Wellen eines Stromes dahin, links ragte ein brauner Fels in die Höhe und auf seinem Gipfel ließ sich en miniature das schwarzrote Haus des Eremiten erkennen, das wir haargenau, aber sozusagen in natürlicher Größe im zweiten Akt vor uns gestellt sehen sollten.

Die flatternden Ärmel, die wippende Feder, das geschwungene Schwert des Prinzen, die Blumen im Haar, die Ornamente am Kleid, die Kothurne der Mandschuprinzessin, der wallende Bart, der edelsteingeschmückte Gürtel und die grünen Pumphosen des Mandarins, die Bäume im Gefild, die Vögel im Gezweig, die Schlangen im Gestein, besser kann das keine Natur gestalten.

Nicht nur die Erde ist belebt, auch die zweite Dimension ist dicht besetzt, der Himmel verdunkelt von fliegenden Muschelwagen und andern allegorischen Bewohnern der Lüfte. Alles bewegt sich in harmonischer Konstellation, und die Meinung der drei Sagenfürsten, die Puppen seien Lebewesen oder überirdische Erscheinungen, hatte weit eher Berechtigung als das nüchterne Faktum: ein einziger Mann läßt dieses ganze bevölkerte Planetarium leben und sprechen.

Daß dem so sei, erfuhren wir mitten im Getümmel einer Schlacht. Mit Schwertern drangen die Heere aufeinander ein, Speere durchschwirrten die Luft, Feuer schlug hoch, der Führer der Barbaren sank mit 139 gespaltenem Leib zu Boden, sein Pferd desgleichen – alles vollzog sich gleichzeitig. Wie weiland Kaiser Wu-Ti sprangen wir von unserem Stuhl auf und eilten hinter die Bühne, wollten sehen, durch welche raffinierte Apparatur all das betrieben werde.

Wir sahen einen einzigen Mann, einen armselig gekleideten Chinesen hinter einer Öllampe. In jeder Hand hielt er ein Bambusstäbchen, das durch drei Drähte mit der jeweils handelnden Person verbunden war. Ungefähr eine Spanne groß waren die Figuren, ihre Substanz eine bis zur Durchsichtigkeit präparierte Eselshaut, durch Schnitte durchbrochen, auf beiden Seiten zart bemalt und gefirnist. Oberarm, Unterarm, Oberschenkel, Unterschenkel, Rumpf und Kopf: separate, mit Scharnieren aneinandergehaltene Stücke, zu selbständigem Baumeln oder Nicken allzeit bereit.

Die drei Drähte mündeten am Hals (genauer gesagt: am vorderen Kragenknöpfchen) und an den beiden Händen der Figur. Manche, wie zum Beispiel der gespaltene Heerführer, waren besonders gegliedert, manche, wie zum Beispiel Tiere, in anderer Weise am Draht befestigt.

Alle diese Geschöpfe erweckte Poppenspäler zu temperamentvollem Leben, indem er mit unheimlicher Fingerfertigkeit bald einen der Drähte, bald einen, bald beide Bambusstäbe auf- und abschnellen ließ. Sollte eine Figur eine Drehung machen, wandte er sie einfach mit der Hand um, diese in Höhe der Lichtquelle haltend, so daß die Hand dem Beschauer niemals sichtbar werden konnte.

Die vermeintliche Gleichzeitigkeit der Handlung von vier bis fünf Personen, ja, der Armeen, ist der 140 Schnelligkeit des Spielers zu danken. Noch hat sich die Bewegung, die ein Kriegsmann zwecks Speerwurfs vollführte, nicht zu Ende bewegt, noch vibriert sein Muskelwerk, da wird er schon von der unglaublich flinken Hand seines Meisters an die Leinwand geklatscht und an seiner Stelle ein neuer Mann ergriffen.

Dabei ist die Drahtzieherei nicht alles, was der Künstler zu besorgen hat, er spricht für alle Mitglieder seines Ensembles, er singt für die von ihm vorgeschobenen Figuren, und nur bei Massenszenen helfen ihm die drei an seiner Seite sitzenden und das Stück seit Generationen auswendig kennenden Musikanten mit Ausrufen. Dieses Orchester ist verhältnismäßig groß, wenn man bedenkt, daß ein einziger Mann die Rollen von hundert Personen, ihren Auftritt und Abgang bestreitet. Aber auch die drei haben zu tun, der kreischende Klang der Chinesengeige, das grelle Zupfen der kreisrunden Laute und der harte Schlag des Gongs füllen die Handlung aus, und selbst dort, wo die beiden Hände des Bühnenmeisters mit dem einer neuen Gestalt beschäftigt sind, entsteht keine tote Stelle.

Im zweiten Stück des Abends hat ein Bambushain in Flammen aufzugehen. Der Waldbrand ist großartig, zu großartig sogar, denn der Bogen Papier, der als Projektionsfläche dient (wenn wir früher von Leinwand gesprochen haben, so geschah es aus der Kino-Terminologie heraus), fing Feuer. Ohne daß das Spiel eine nennenswerte Unterbrechung erlitten hätte, ohne daß er die Handlung stocken ließ, verklebte der Puppenspieler das Loch mit einem Stück Papier.

Er heißt Bai-Ji-Cho. Nachdem er das Zauberstück, 141 das Kriegerstück und eine Burleske vom Jahrmarkt gespielt hatte, die Abendvorstellung zu Ende war, sprachen wir mit ihm. Das Orchester packte die Instrumente ein und brach die Bühne ab. Bai-Ji-Cho legte jedes seiner 200 pergamentenen Bühnenmitglieder einzeln in einen Kartonumschlag, und jeden Umschlag in das entsprechende Fach einer großen Kiste, die wie ein Schrankkoffer eingerichtet war. Der blasse Mond leuchtete ihm zu dieser Arbeit.

Bai-Ji-Cho übt das Gewerbe seiner Ahnen aus. Seit urdenklichen Zeiten hat sich seine Familie vom Yin-Chi, dem Schattentheater, ernährt. Er selbst lernte die Stücke von seinem Vater, sie sind nicht aufgeschrieben, aber fast alle Schattentheater bestreiten ihr Repertoire mit den gleichen Dramen, den gleichen Figuren, dem gleichen Wortlaut der Dialoge.

Ob es noch viele solcher Schattentheater gibt? Vor einigen Jahren waren noch über 120 in Peking, sie besaßen ihre ständigen Plätze in belebten Straßen. Jetzt hat Bai-Ji-Cho nicht mehr als zwei Konkurrenten, und öffentlich wird überhaupt nicht gespielt. Man gibt die Vorstellungen nur in Privathäusern, wenn man bestellt werde.

Nach seinem Tode werde es mit seiner Bühne zu Ende sein, fügt Bai-Ji-Cho hinzu, denn sein Sohn sei Laufbursche in einem internationalen Hotel und lerne die Stücke nicht. Bei den andern beiden Schattentheatern sei es ähnlich.

Wieso das komme, daß von 200 Theaterchen nur noch drei übriggeblieben sind? Die amerikanischen Touristen und die Curio-Händler kauften die Figuren in Bausch 142 und Bogen zusammen. Die Puppenspieler waren froh, auf einmal einen Haufen Dollars zu sehen . . ., jetzt sitzen sie an der Straßenecke als Märchenerzähler und sagen die alten Stücke auf – ohne Musik und ohne Figuren. Vor vielen hundert Jahren haben die öffentlichen Märchenerzähler ihr Gewerbe dadurch ausgebaut, daß sie hinter eine Wand traten und Scherenschnitte bewegten. Heute ist es umgekehrt.

Damit hat Bai-Ji-Cho den letzten seiner Truppe verstaut, schließt den Koffer, er und die Musikanten packen an und ziehen mit dem Zauberspiel von dannen, von dem bald keine Spur übrig sein wird.

Uns wäre während des ganzen Abends nicht eingefallen, diese heitere Spielerei könnte mit der Feststellung enden, daß auch hierher Geld und Snobismus der fremden Kolonialherren ihren Schatten werfen, daß sie China, dem gelben Peter Schlemihl, sogar seinen Schatten abgekauft haben. Seinen schönen, bunten, beweglichen Schatten. 143

 


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