Egon Erwin Kisch
China geheim
Egon Erwin Kisch

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Anglosächsische Miniaturen

I. Die Stadtväter

»Mein verehrter Vorredner, mit dem ich seit vielen Jahren besonders befreundet bin, Mister – Mister –«

Der Redner stockte, schnipste mit dem Finger, und die Versammlung begann zu lachen. Es ist ja komisch, wenn sich jemand auf einen alten, verehrten Freund beruft, und nicht weiß, wie er heißt.

Dem Gelächter entnahm der Redner, daß er verdächtigt werde, sich mit der Freundschaft eines Mannes zu brüsten, den er gar nicht kenne. Deshalb erklärte er die Stockung:

»Ich spreche den Gentleman seit fünfzehn Jahren täglich im Klub, kenne ihn aber nur als APC.«

Dadurch war der Zwischenfall beigelegt, und Redner konnte weitersprechen. Niemand lachte mehr. Denn die andern Teilnehmer der Versammlung kannten den Gentleman, von dem die Rede war, gleichfalls nur als APC., was Ej-Pi-Ssi gesprochen wird und Asiatic Petroleum Company bedeutet.

Dagegen bedeutet das Wort »Taipan«: Leiter einer ausländischen Handelsfirma. Fern vom europäischen oder amerikanischen Stammhaus über große Summen 182 verfügend, mächtig durch die Zahl ihrer Angestellten, Agenten und Debitoren, halten die Taipans seit eh und je die Sitze im Municipal Council von Shanghai besetzt, obwohl sich schon vor einem halben Jahrhundert Stimmen gegen die Taipan-Oligarchie erhoben haben.

Der Gentleman, dessen Name das Fingerschnipsen eines andern Gentleman war, ist eben der Taipan der APC. Wir sprechen ihn zwar nicht seit fünfzehn Jahren täglich im Klub, aber wir wissen, daß er seit vierzig Jahren im chinesischen Ölimport tätig ist, und seiner allmählichen Vorrückung zum Direktor der APC. nichts im Wege stand. Damit wurde er auch Stadtrat. Sicherlich hat er weder besondere Neigung noch besonderen Ehrgeiz zu öffentlicher Tätigkeit, sicherlich weder eine politische Gesinnung noch Veranlagung zur Kommunalverwaltung, aber da ihm Macht und Ehre automatisch zufallen, warum sollte er sie nicht übernehmen?

Er übt seine öffentliche Funktion so aus, wie es das private Amt verlangt, dem er sie verdankt, und wie es auch seine acht Stadtratskollegen, die Taipans der größten Banken, Schiffahrtskompanien und Exportfirmen tun.

Da sehen wir die Herren beieinander. Sie sitzen auf der Bühne, die sonst von der Filmleinwand verdeckt ist. Heute ist die Filmleinwand hochgezogen, damit die Steuerzahler des Internationalen Settlements ihre Landesherren in persona vor sich sehen können.

Acht Herren sitzen um einen Eichentisch, einen würdigen, den man wohl eigens aus dem Rathaus herbeigeschafft hat, und auf ditto Eichenstühlen. Hinter ihnen, auf einem Thron, thront der Chairman, der Vorsitzende. 183

Die neun Herren verharren in neunfacher Unbeweglichkeit, sie haben neun graue Salonhosen, neun Gehröcke und neun Vatermörder an, in neun Krawatten stecken neun Nadeln mit neun Perlen, neun Köpfe weisen gepflegt silbergraues, zumeist stark gelichtetes Haar auf, sieben Augen tragen sieben Monokel und zweimal zwei Augen je eine Brille. (Die mit der Brille sind Japaner.)

Alle neune mit dem König bilden den Stadtrat des Internationalen Settlements. Herr APC. (siehe oben) und die andern Taipans, die einander mehr oder minder nur mit dem Namen ihrer Firmen kennen, sind oben zu sehen.

Siehe unten: das Gremium der ausländischen Steuerzahler. Sie dürfen sich einmal im Jahr versammeln; wer mindestens 500 Taels jährlich Steuer bezahlt, darf wählen, wer mindestens 1200 Taels Steuer bezahlt, darf gewählt werden.

Solchermaßen besitzen dreitausend Ausländer das Recht, die neun Herren zu wählen, welche unumschränkt über eine Weltstadt herrschen, über ein stehendes Heer und eine schwimmende Flotte verfügen, sich über internationale Verträge hinwegsetzen, einer Million Chinesen Gesetze und Steuern vorschreiben und erbarmungslos mit Maschinengewehren hineinschießen lassen, wenn eine Arbeiter- oder Studentendemonstration sich bis zur Nanking Road vorwagt. Muß sogar das diplomatische Korps gegen solche Bestialitäten Stellung nehmen (wie es nach dem Blutbad vom 30. Mai 1925 geschah), so legt der selbstherrliche Stadtrat die Entscheidung der Gesandten mit zynischem Lächeln beiseite und führt ihre Beschlüsse nicht durch. 184

Im Nachbarreich geht's ähnlich zu. Das Nachbarreich ist die Französische Konzession, bewohnt von nicht weniger als 289.262 Chinesen und nicht mehr als 7810 Ausländern. Von dieser Handvoll Ausländer (kaum 3 Prozent) sind wiederum nur 892 Stück Franzosen, durchwegs Stadtbeamte und Stadtbedienstete. Und die Franzosen, Generalkonsul und Munizipalität führen unbesorgt und selbstzufrieden die Alleinherrschaft.

Dieses französische Regime ist korrupt im einzelnen, der einzelne bereichert sich nach Strich und Faden, besonders am ersteren.

Das britische Regime ist korrupt als Ganzes, korrupt auf legalem Weg. »Das britische Regime?« Wir sprachen doch vom Internationalen Settlement? Ist dessen Verwaltung nicht international? Doch, doch. Sie ist streng international, alle dreißig im Internationalen Settlement ansässigen Nationalitäten sind durchaus gleichberechtigt, abgesehen davon, daß alle Rechte in den Händen der Engländer und keine Rechte in den Händen der Chinesen sind.

Die neun auf der Bühne üben die Rechte nicht selbst aus; erstens sind sie gar nicht alle Engländer, sondern nur fünf von ihnen, zweitens haben sie gar nicht so viel Zeit dazu, weil sie teils als Taipans ihre Unternehmungen leiten, teils im Shanghai-Club Whisky trinken und Würfel werfen müssen.

Sie brauchen sich auch nicht zu bemühen. Sind doch die leitenden Munizipalbeamten allesamt Briten und machen die britische Politik, wie alle britischen Beamten, sozusagen als Reflexbewegung. Die Armee des Settlements (genannt: Freiwilligen-Korps), die Flotte des Settlements 185 (genannt: Strom- und Uferpolizei), die politische und die kriminelle Polizei, die Verkehrspolizei, die Feuerwehr, das Gefängnispersonal, das Gesundheits-, das Finanz-, das Kanalisations-, das Elektrizitäts-, das Verkehrs- und das Schuldepartement sind von Engländern befehligt. Um aber nichts zu verschweigen: der Dirigent der Stadtkapelle ist ein Italiener, und städtischer Amtsdirektor ist ein in Waffenschmuggel und Opiumprozessen vielgenannter amerikanischer Rechtsanwalt.

Mehr als achtzig Jahre lang dauert die britische Diktatur über die Chinesen, das Recht Grundbesitz zu haben, sogar das Recht öffentliche Parks zu betreten war ihnen achtzig Jahre lang verwehrt, und jeder Vorschlag, ihnen im Stadtrat eine Vertretung zu geben, wurde mit Ironie abgelehnt. Nach dem Gemetzel auf Nanking Road drohte die Erregung im Volke den ganzen Municipal Council mit Sack und Pack, also mit allem, wegzufegen, und deshalb schuf man ein fünfgliedriges beratendes Chinesenkomitee. So wie sich an Englands Alleinherrschaft nichts dadurch änderte, daß es vor dem Weltkrieg den Deutschen und den Amerikanern Mandate eingeräumt und sie nach dem Krieg den Deutschen weggenommen und den Japanern gegeben hatte, so änderte sich auch nichts, als es sich 1928 mit fünf reichen Chinesen an den Regierungstisch setzte. Längst hatte sich herausgestellt, daß diese Komiteemitglieder an der hundertprozentig britischen Verwaltung der chinesischen Stadt nicht zu rütteln versuchten, weshalb sie auch schließlich zu Stadträten werden durften.

Außerdem arbeiten die fremden Stadträte, insbesondere Mister Fessenden, geheim und öffentlich an dem Plan, 186 die Stadt Shanghai zu einem Freistaat zu erklären, und, wenn das gelingt, würden die Chinesen ohnehin in weitem Bogen aus der Regierung fliegen. Ein schöner Plan fürwahr, ungefähr so, wie wenn die englische Handelskammer in Paris den Beschluß fassen würde, die Stadt Paris der französischen Republik auszuverleiben und zu einer Freistadt zu erklären.

Vorläufig ist es noch nicht so weit, und fünf Chinesen dürfen an den Beratungen des Stadtrats teilnehmen. Warum aber sitzen sie heute nicht da oben auf der Bühne?

Ihre Mandate haben sie von ihren steuerzahlenden Landsleuten; bei der ausländischen Bürgerschaftsversammlung, von der hier die Rede ist, haben weder die chinesischen Stadträte noch die chinesischen Wähler etwas zu tun.

Die neun Stadträte der Ausländersiedlung werden auf höchst patriarchalische Weise gewählt. Wer kandidiert wird, kandidiert. Er tut das, indem er in der Zeitung sein höchst individuelles Programm darlegt, das immer folgendermaßen aussieht: er sei für ein gutes Einvernehmen mit den chinesischen Mitbürgern, werde sich aber dafür einsetzen, daß die ohnehin stark beschränkten Rechte der Ausländer gewahrt bleiben. Schluß. Wer von den Wählern Zeit und Lust hat, zur Urne zu schreiten, streicht auf der gedruckten Liste der Kandidaten so viele Namen durch, als über die Zahl neun hinausgehen. Die am seltensten durchgestrichenen neun Namen sind die der Gewählten.

In diesem Jahr haben die Japaner – die einzigen, die geschlossen zur Wahl gehen – wegen der Haltung Amerikas im gegenwärtigen Krieg einen der beiden 187 amerikanischen Kandidaten zu Fall gebracht. Diese Tatsache hat in der amerikanischen Kolonie Shanghais, ja unter allen Fremden, Aufsehen und Diskussion hervorgerufen. Amerika selbst aber, das seinerzeit die Erreichung zweier Stadtratsmandate in Shanghai als großen Erfolg gebucht hatte, nahm von der japanischen Herausforderung keine Notiz. Die amerikanischen Berichterstatter in Shanghai beziehen von der japanischen Heeresleitung ihre Informationen und haben kein Interesse daran, sich diese Quelle zu verstopfen.

Nur wenige Wähler machen von dem Recht Gebrauch, sich einmal im Jahr die Gewählten ansehen zu dürfen. Wenn das »Carlton-Theatre« abends so leer wäre, wie es am alljährlichen Nachmittag der Bürgerschaftsversammlung ist, wäre es längst pleite. Kaum achtzig Leute, stolze Steuerzahler, sitzen im Parkett, etwa zwanzig oder dreißig, misera plebs, auf der Galerie.

Es wird auch nichts geboten. Ein britischer Ex-General, jetzt Stadtrat, liest Resolutionen und Begrüßung vor. Mir, einem Pressevertreter – wie ich am nächsten Tag in der Zeitung las, bin ich für den Vertreter des Berliner Lokalanzeigers gehalten worden, o Hugenberg! – wird ein Bürstenabzug überreicht. Darin ist schon alles gedruckt, was gesprochen wurde und gesprochen werden wird.

Meldet sich jemand zum Wort? Da sich niemand zum Wort meldet, schreite ich zur Abstimmung. Wer dafür ist, den bitte ich die Hand zu erheben. Danke. Der Antrag ist angenommen.

Selbst diese Sätze sind lange vorher dem Setzer übergeben worden. Ein Zwischenfall wird nicht erwartet und es ergibt sich auch keiner. Heute hat sich nur ein Redner 188 zur Debatte gemeldet. Er bemängelte, daß sein verehrter Vorredner, mit dem er seit vielen Jahren befreundet sei, Mister – Mister – kurzum, daß zwei chinesische Mitglieder für die Bodenkommission vorgeschlagen wurden. Einer genüge vollauf. Die Japaner applaudierten ostentativ, auch einige Weiße. Eigentlich sind alle Anwesenden chinesenfeindlich, aber der Antrag des Präsidiums geht durch, weil jedermann versteht, daß die Kommissionsmandate den Chinesen nicht um ihrer schönen schrägen Augen willen gegeben werden . . .

Vielleicht war der Protest des Oppositionsredners bestellt, um den Chinesen vor Augen zu führen, daß ihnen nicht ohne Widerspruch das große Geschenk gemacht werde, sie in ihrem Lande, auf ihrem Boden zur Mitverwaltung zuzulassen. Vielleicht hat der Gentleman, auf dessen Namen sich sein Nachredner nicht besinnen konnte, mit dem Nachredner diese Interpellation vereinbart. Jedenfalls können beide, heute wie täglich seit fünfzehn Jahren, an der Bar des Shanghai-Clubs würfeln und Whisky trinken, denn nach einstündigem, ruhigem Verlauf ist die diesjährige Session des Parlaments von Shanghai zu Ende. 189

 

II. Pidgin-Englisch, die Sprache der Kolonien

Pidgin-Englisch ist eine simple Sprache, hat keine Grammatik und einen kläglich primitiven Wortschatz. Obwohl sie nicht gerade eine Kunstsprache genannt werden kann, ist sie doch niemandes Muttersprache.

In einer fast tausendmillionenköpfigen Welt bildet sie das Verständigungsmittel zwischen den weißen Herren und den fast tausend Millionen bunter Sklaven. Pidgin-Englisch ist geradebrechtes Englisch, in jenem Grade geradebrecht, den der Europäer der Zunge und dem Gehirn des Farbigen für angepaßt hält. (Ebenso glauben die klugen Erwachsenen mit Kindern Papperlapapp quatschen zu müssen.) Die Farbigen haben dieses zurecht geradebrechte Englisch fließend sprechen gelernt, während der fremde Händler noch nach lebenslänglichem Aufenthalt im Fernen Osten von Chinesisch oder Hindostanisch keine blasse Ahnung zu haben pflegt, nicht einmal Pidgin-Chinesisch zu sprechen imstande ist. Allerdings, er braucht keine Sprache der Einheimischen zu verstehen, ist er doch der Europäer, Erwachsener und Gebieter zugleich, und die andern sind nur Kinder und Kulis, Angehörige rückständiger Rassen. Daß heute bereits Millionen von ihnen fließend europäische Sprachen beherrschen, fremde Bücher und Zeitschriften lesen, das gibt dem weißen Mann nicht zu denken; papperlapapp denkt er, und weiterhin bleibt Pidgin-Englisch die Wissenschaft, die er dem Wirtsvolk vermittelt.

Noch manchem wird das geschehen, was dem Herrn geschah, der seinem neuen Boy befahl, das Fenster zu öffnen, natürlich in Pidgin, etwa so: »Aufi Fenster, versteh?« 190

»Jawohl, mein Herr,« antwortete der Chinese, und fügte in vollendetem Englisch hinzu: »Es wäre wirklich schade, die schöne Frühlingsluft nicht zu genießen.« Daraufhin entließ der Kaufmann den Diener. Man wünscht nicht, mit einem Kuli in der gleichen Sprache zu verkehren, in der man mit Gentlemen verkehrt.

*

Was bedeutet das Wort »Pidgin«? Es ist die Verstümmelung des Wortes »business« (Geschäft), der einzigen Lebensform, in der der Fremde mit dem Einheimischen in Verbindung tritt. »Pidgin« ist im Pidgin-Englischen eine wichtige Vokabel. Aber auch die andern wichtigen Vokabeln sind dem Pidgin-Leben entnommen, und man kann sich aus den Begriffen dieser Sprache einen Begriff vom Geist ihrer Erfinder und Lehrer machen.

So gibt es zum Beispiel kein Geben. »Ich gebe« ist nur ein Börsenausdruck, ich schenke nichts, wer schenkt denn mir etwas! Die Übersetzung des Wortes »geben« ins Pidgin-Englische lautet: pay, bezahlen. »Bezahle der Missy einen Tee,« befiehlt der Hausherr seinem Boy. Die Miß verstehe das nicht miß. Auf diese Aufforderung hin wird sie der Kuli keineswegs in ein Teehaus einladen, sondern er wird ihr sogleich eine Tasse Tee reichen. – »Zahl' mir einen Kuß,« sagt der Clark, der Angestellte, zu dem Mädchen von der »Majestic-Bar«, da er es nach Hause begleitet. Die Sprache hat recht: er hat im Lauf des Abends soviel Geld für Tanzkarten ausgegeben, daß jetzt das Mädchen zu zahlen hat.

Was ist das Sein? Es gibt keines im Handelsleben. 191 Ist der Kuli? Ist eine Ware? Nein, sie gehört. »Ich bin – du bist – er ist« – das heißt im Pidgin-Englischen: »Ich gehöre – du gehörst – er gehört«. Nichts ist dein Sein, o Mensch, als der Besitz eines andern. Der Satz: »Ich bin traurig« ist so zu übersetzen: »My belong sorry – ich gehöre traurig oder ich gehöre der Traurigkeit«. Und man hat Ursach', so zu sprechen. Nichts ist in diesem Land, alles gehört.

An den Ziffern ist aber wohl nichts zu ändern? Ziffern sind doch geschäftsmäßig genug, nicht wahr? Nein. Auf Pidgin heißt es nicht: »eins, zwei, drei« und so weiter, sondern »ein Stück, zwei Stück, drei Stück, usw.«, obwohl der Weiße dem geistigen Fassungsvermögen des »Eingeborenen« wenigstens zutrauen könnte, daß er das Wort »Stück« wegzulassen vermag. Er soll es sprechen, selbst der unbestimmte Artikel lautet »ein Stück«. »One piecy girly – ein Stück Mädchen«, meldet der Diener. Oder: »Zwei Stück Herren waren hier.« Richtig so, auch der Mensch ist Ware und werde demnach stückweise gezählt!

Geschmückt sind die Tempel von altersher mit Statuen und Räuchergeräten, geschmückt die Häuser mit bemalter Seide und Lampions, geschmückt die Frauen mit elfenbeinernen Kämmen und silbernen Broschen. Soll das Schmuck sein, nur zum Schmücken dienen, wenn hierzulande alles Ware geworden ist, auch der Mensch. Soll der Schmuck am Ahnenhügel und im Haus profitlos verbleiben, wenn er doch auf dem Markt feilgeboten werden kann, die Fremden gerade nach ihm ihre Hände ausstrecken, einen der wichtigsten Handelsartikel aus ihm gemacht haben? Soll das weiterhin eine 192 selbstverständliche Sache bleiben, was für die Vorfahren eine selbstverständliche Sache war, wenn es für die Fremden eine Kuriosität ist? Jeder Schmuck heißt und ist im Pidgin: Curio.

Vor allem aber präge dir das Wort »Kumscha – Trinkgeld« ein. Den Begriff gibt es auch anderswo, hier aber stammt das Wort aus dem Geschäftsleben, von dem Wort »commission« oder – was weniger wahrscheinlich ist – vom Zuruf »comme ashore« (komm' ans Ufer), mit dem die Hafenagenten die vorbeifahrenden Sampans ans Ufer beorderten, um sich zum Ozeandampfer rudern zu lassen..

»Kumscha« heischt der Bote, und »Kumscha« heischt der Bettler, wogegen sich die Kaufleute und Beamten schon des unkorrumpierten, rein englischen Ausdrucks »squeeze« bedienen.

Zwei Worte stammen noch aus der Portugiesenzeit: »savy«, was »verstehen«, »wissen«, »verstehst du« bedeutet, und »masky«. Masky ist im fernöstlichen Umkreis der Engländer und Pidgin-Engländer ein häufiges Wort, es deckt sich etwa mit dem urenglischen »never mind«, mit dem urrussischen »nitschewo« oder dem urdeutschen »scheißegal«. Ist der Sinn damit noch nicht erschöpft? Masky! –

Alles, was klein ist, ist »pony«, »pony« ist das Schnapsglas, »pony« ein Kind, denn ein Pony ist das kleine mongolische Pferd des Herrn, auf dem er morgens ausreitet, um etwas Bewegung zu machen, während sonst der seiner Rikscha vorgespannte Kuli die Bewegung macht.

»Topside« heißt »oben«, »bottomside« heißt »unten«, »chopchop« – eine kantonische Vokabel – bedeutet »schnell« und »olo« (old) »alt«. 193

Nachdem wir hiermit das Diktionär des Pidgin-Englisch veröffentlicht haben, können wir nunmehr auch sein Sprachdenkmal wiedergeben, ein Lied namens »Lo-Le-Ley«. Um dem Leser das Verständnis zu erleichtern, lassen wir im Text des Liedes den Buchstaben »r« stehen, den der Chinese, wirklich wie ein Kind, als »l« ausspricht, weil er keinen Unterschied zwischen »r« und »l« hört, ihm beides masky ist.

Wir singen also:

Oh my belong too muchy sorry
And then my no savy what kind
Have got one olo piecy story
No wantchy go outside my mind.
That night belong dark and coolo
Rhinewater maky flow allright,
Topside plenty stars very coolo
Looksy down in that evening light.
One nice piecy girly is sitting
Too muchy curio topside
Her golden hair she is fitting
He that curio belong very bright.
Fishing-pidgin-man pony piecy sampan
Belong very curio inside
He only looksy topside girly
He never looksy waterside.
Masky that pony piecy sampan
Go bottomside very chop-chop
For Loreley maky too muchy singsong
And anytime never can stop.

Savy? Wenn nicht, kannst du dir in jeder Buchhandlung die deutsche Übersetzung dieses Pidgin-Liedes kaufen, sie stammt von Heinrich Heine. 194

*

Auf jeden, der sich auch nur ein wenig mit Sprachgeschichte oder Sprachphilosophie befaßt hat, wirkt die Bekanntschaft mit dem Pidgin-Englischen äußerst aufschlußreich. Eine solche Selbstentlarvung, wie sie der Imperialismus in seiner Sprachschöpfung vollzieht, hätte man sich nicht träumen lassen.

Man möchte wissen, ob schon eine soziologische Analyse dieser Zwecksprache existiert. Nichts. Eine Grammatik, ein Wörterbuch? Nichts. Die ganze Literatur besteht aus einem Gedichtband »Pidgin Inglis Tales«, vor mehr als einem Vierteljahrhundert in Kanton erschienen. Ein, ei wie humorvoller »Dichter«. Er macht sich in pidginischer Sprache über einen Rikschakuli lustig, der einen Reklamezettel für einen Dollar ansieht, über einen Schneider, der einem britischen Matrosen einen Riß in der Bluse zugenäht hat und sich deshalb auf seinem Firmenschild »Lieferant des Kriegsdepartements und der Admiralität« nennt, kurzum über die »Dummheit« der Chinesen. Er macht sich lustig über die Chinesen, obwohl selbst die dümmsten unter ihnen in ihrem Hintern mehr Weisheit haben, als der Dichter und seinesgleichen im Gehirn, – ich bitte um Entschuldigung, daß mir in der Erregung der unpassende Ausdruck »Gehirn« entfuhr. 195

 

III. »Dort ist das Ufer!«

Den amerikanischen Matrosen und Marinesoldaten, genannt Gobs und Leathernecks, gehört der Hafen am Abend. Niemand wagt es, ihn ihnen streitig zu machen, wären auch andere Seemächte im Lokal und in der Mehrheit. Denn die Matrosen der andern Marinen leisten ihre Dienstpflicht aus Dienstpflicht und kriegen nur den schäbigen Tageslohn, während sich die Amerikaner freiwillig anwerben ließen und Sold bekommen, einen entsprechend hohen und in güldnen Dollars natürlich. »Learn while you earn – Lerne dieweil du verdienst«, steht auf den Werbeplakaten.

Wer mehr Geld hat, wird von den Mädchen mehr geliebt, das ist nun einmal in China nicht anders wie im Rheinland, am Wasser wie auf dem Festland. Die Wirte ziehen den Gob und den Leatherneck auch aus einem andern Grund dem nichtamerikanischen Matrosen vor: wegen der Prohibition. An Bord gibt es keinen Alkohol, im Port gibt es reinen Alkohol. An Bord gibt es keinen betrunkenen Mann der US-Navy, im Port gibt es keinen nüchternen Mann der US-Navy.

Gleichfalls Amerikaner und Matrosen sind die Wirte, obwohl sie keinen amerikanischen Paß und keine Marine-Uniform mehr ihr eigen nennen, also gerade die beiden Dinge, die einen Amerikaner zum Amerikaner und einen Matrosen zum Matrosen machen. Wodurch haben sie Paß und Uniform verloren? Dadurch, daß sie Deserteure sind. Eigentlich sind sie auch keine Deserteure, denn zum Begriff des Deserteurs gehört, daß er sich ohne Vorwissen seiner Vorgesetzten von seinem Truppenkörper entfernt 196 hat und von der Militärgerichtsbarkeit gesucht wird. Unsere Wirte haben sich aber seinerzeit nicht bloß mit Vorwissen, sondern sogar auf unmißverständlichen Befehl ihrer Vorgesetzten von ihrem Truppenkörper entfernt und werden keineswegs von der Militärgerichtsbarkeit gesucht. Sie sind legale Deserteure, etwas, was es in den Marinen und in der Kriminalistik anderer Völker nicht gibt.

Es ist nämlich so mit ihnen: sie waren Matrosen auf einem USA.-Schiff, und zwar keine wünschenswerten. Sie verleiteten ihre Kameraden entweder zum Hasardspiel oder zur Homosexualität oder verborgten Geld gegen Zinsen. Bis eines Tages die Sache solche Formen annahm, daß der Captain den Schuldigen zu sich befahl und über die Reeling deutete, dorthin, wo sich der nächste Landungshafen des Schiffes erkennen oder ahnen ließ.

»There is the beach,« sagte der Captain. Nicht mehr und nicht weniger sagte er, als: »There is the beach – dort ist das Ufer.«

Da stieg denn der, dem solcherart das Ufer gewiesen worden war, an Land, um nie wieder auf Deck zurückzukehren. Statt dessen nahm er Kurs auf einen Kneipenwirt. Ihm stellte er seine kollegialen, finanziellen oder warm freundschaftlichen Beziehungen zur US-Navy und seine Kenntnisse von Spiel und Widerspiel zur Verfügung, all das, was er »gelernt, dieweil er verdient« hatte, wie es so schön auf den Werbeaufrufen heißt.

Welcher Wirt würde einen Mitarbeiter nicht aufnehmen, der ihm neue Kunden bringt, und dem er kein Gehalt, sondern nur Prozente zu zahlen braucht? Wenn der Stellungsuchende geflunkert hat, so verdient er nichts. 197 Er hat aber nicht geflunkert, seine Prozente machen hübsches Geld aus, außerdem gewinnt er im Spiel und am Borgen, und bald ist der Ex-Matrose selbst der Boß. Womöglich in Shanghai. Shanghai ist der beste Platz am Pazifik, besser als Hongkong, Saigon, Manila und Singapore zusammen, immer gibt es da kriegerische Verwicklungen und immer wimmelt es von Seestreitkräften, die unser Freund hochzunehmen weiß.

Die Blaujacken in ihren weißen Jacken und mit ihren Matrosenmützen, windschief auf dem Kopf gehißten Küchenjungenmützen, werfen bei ihm Anker. Und er lehrt die Leichtmatrosen, die Heizer und die Kanoniere III. Klasse neue Sorten gemischter Schnäpse zu trinken und ihren Monatssold von 32 Gold-Dollar den schießenden Krebsen (shooting crabs) anzuvertrauen, zwei Würfeln, die mehr Variationen ergeben, als sich jemals von zwei Würfeln erwarten ließe, solang man ein Neuling ist. Man lernt es aber, nicht nur dieweil man verdient, sondern auch dieweil man verliert.

Es segeln auch ältere Jahrgänge in die Bar. Die wissen längst, wie die Krebse schießen, und sie dokumentieren es, indem sie den Würfelbecher so energisch umstülpen, daß die Theke entzweizugehen droht. Sie haben weit mehr als 32 Gold-Dollar im Monat hinzulegen. Jedem ist von seinem Anzug abzulesen, wieviel er verspielen oder verschwulen oder vertrinken kann. Der weiße Adler schwingt auf den Ärmeln aller gleichermaßen seine Fittiche, aber was darunter genäht ist, ist verschieden und zeigt genau an, welche Barschaft jeder in die Bar schafft. Wer einen roten Winkel und eine Schiffsschraube trägt, ist Maschinisten-Maat und bezieht 198 42 Gold-Dollar, der Boßman-Maat hat das Steuerrad und 47 Dollar, der Geschütz-Meister mit den zwei gekreuzten Kanonenrohren und drei Winkeln kann 98 Dollar im Monat auf die schießenden Krebse setzen, der Chef-Kupferschmied und der Chef-Elektriker 110 Gold-Dollar und der Chef-Deckoffizier – Achtung, Achtung! – sogar 156 Dollar.

Am willkommensten von allen Gästen sind die, die ihre vier Jahre abdienten und von neuem anheuern. Sie haben jetzt sechs Wochen Urlaub und für vier Monate Sold in der Tasche. Und das Reisegeld. Das Reisegeld, das sind nur fünf Cents pro Meile, aber es läppert sich zusammen, denn der Weg von Shanghai nach Baltimore ist etliche tausend Meilen weit, und dieser Weg wird gar nicht gefahren, das Reisegeld braucht nur von Shanghai nach Shanghai zu reichen, hurra! Der Urlauber kauft sich einen Zivilanzug und spielt den Zivilisten, indem er mit Matrosen in der Matrosenkneipe Matrosengespräche führt und Matrosengeld verwürfelt. Nur ist ein Unterschied da: ihm geht die shoreliberty, der Landurlaub, nicht zu einer bestimmten Stunde zu Ende, er kann trinken und würfeln, so lange er mag, er geht – alle Kameraden beneiden ihn – überhaupt nicht an Bord, er schläft privat, hurra!

Wie ist das aber mit der Erziehung zur Sparsamkeit, die von der amerikanischen Marineverwaltung versucht und als pädagogisches Meisterwerk ausposaunt wird? Mit der ist das folgendermaßen: Fast jeder Matrose wird verpflichtet, einen Teil seiner Löhnung unbehoben zu lassen. Wer einen solchen Revers unterschrieb, dem wird die betreffende Summe, das Allotment, allmonatlich vom Zahlmeister an eine Bank überwiesen, gewöhnlich an die 199 Bank of Italy in San Francisco. Hat der Matrose einmal besondere Auslagen gehabt, sogar Schulden gemacht, – der Zahlmeister kennt seine Weisungen und kennt kein Erbarmen: das Allotment wird abgezogen und nach San Francisco überwiesen.

Dem Shanghaier Wirt ist solche Strenge des Zahlmeisters gegenüber seinen Kunden gar nicht unangenehm. Wollen nämlich zahlungsfähige Seeleute ihre Zeche mit einem Scheck auf ihre Ersparnisse begleichen, dann zuckt er mit den Achseln und brummt, er mache solche Geschäfte nicht, es dauere wochenlang, bevor er das Geld aus Frisco bekomme, und der Teufel wisse, wie tief der Dollar nächsten Monat stehen werde. (Also ob der amerikanische Dollar eine Inflationsmark wäre oder als ob der Chinesendollar unerhörte Aufstiegsmöglichkeiten besäße.) Schließlich läßt er sich doch herbei, den Scheck mit 50 Prozent zu belehnen, und bekommt bei jeder Bank 100 Prozent ausgezahlt.

Für den Matrosen sind 50 Prozent genug, wenn er sich dafür bei St. George so viele Tickets kaufen kann, um den Rest des Abends zu vertanzen, oder im leuchtenden und lärmenden Gäßchen Chao-Pao-San eine russische Emigrantin zu erstehen, von der er sich für sein erspartes Geld einen Denkzettel aus Shanghai nach Hause bringt; earn while you learn.

Der Rikschakuli, der, von Fußtritten dirigiert, die Matrosen allabendlich im Galopp zur Barkasse zieht, bekommt zweieinhalb bis fünf amerikanische Cents für die Fuhre. Millionen opfert Amerika für seine Stellung in China. Wie man sieht, hat China in Gestalt des Rikschakulis auch etwas von diesem Geld. 200

 


 << zurück weiter >>